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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Drittes Quartal.

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Die Historienmalerei auf der Berliner Jubiläums-Kunstausstellung.

nicht der Historienmalerei beizuzählen sei, und Bilder wie Bleibtrens "Kronprinz
bei Sedan" und A. von Werners "Moltke vor Paris" hätten vollends keinen
Anspruch auf die Bezeichnung Historienbilder. Umgekehrt würde ein Franzose kein
Bedenken tragen, Gemälde mit lebensgroßen Figuren wie Fleischers "Se. Gott-
hard," Kampfs "Letzte Aussage" und Neides "Lebensmüde" der giÄucle xvür-
wro, also der Historienmalerei im deutschen Sinne, beizuzählen. Man ersieht
schon aus diesen Andeutungen, zu welchen Konflikten eine Einteilung nach dem
hergebrachten Schachtclsystem führen würde. Wenn wir trotzdem in der Über¬
schrift die Bezeichnung "Historienmalerei" beibehalten haben, so geschah es nur,
um wenigstens einen Mittelpunkt für die Gruppirung zu finden. Den Begriff
gedenken wir möglichst weit zu fassen, indem wir dabei zwischen deutscheu und
französischen Anschauungen vermitteln.

Jene drei zuletzt zitirten Gemälde verdienen schon deshalb an dieser Stelle
eine Besprechung, weil sie kühne, mit hervorragender Begabung durchgeführte
Wagnisse sind. Es war bisher in der deutscheu Malerei nicht üblich, Szenen
ans dem modernen Leben in Naturgrößen Figuren darzustellen. Hero und Leander,
Paris und Helena, Nomeos Abschied von Julia -- dergleichen durfte lebens¬
groß gemalt werden. Aber ein Liebespaar aus dem Leben der Gegenwart, in
Kleidern, wie wir sie tragen -- beileibe nicht! Franzosen und Belgier haben
sich schon seit langer Zeit nicht mehr an dieses Dogma gelehrt. Die Haupt¬
sache, auf welche es hierbei ankommt, ist die: Hat Jemand so viel zu sagen,
d. h. besitzt er so ausreichende und fesselnde Darstellungsmittel, daß er eine große
Leinwand gleichmäßig bedeutend und interessant gestalten kaun, oder besitzt er
sie nicht? In letzteren Falle beschränke er sich fein auf ein kleines Feld, auf
welchem die Lücken seines künstlerischen Vermögens weniger zu Tage treten.
Jene drei Künstler verfügen jedoch über ausgiebige technische Fähigkeiten, und
es kann nicht geleugnet werden, daß ihre Schöpfungen gerade durch die Wahl
des Maßstabes einen imponirenden Eindruck machen, der vielleicht bei einer Re¬
duktion des Formates auf das übliche der Genrebilder ausgeblieben wäre. Die
Kühnheit des Wagnisses liegt aber auch in der Wahl des Stoffes. Unsre
Künstler fangen nachgerade doch an, aus dem engen Zirkel der harmlosen Ka-
lendcrbilder herauszutreten und sich das Leben in ihrer Umgebung anzusehen,
das ihnen bisher wie durch eine chinesische Mauer verschlossen gewesen war. Der
Vorwurf, der namentlich der Genremalerei gemacht wurde, daß ihr Horizont
durch die vier Wände des Wirtshauses abgegrenzt sei, besteht nicht mehr zu
Recht, obwohl es auch auf unsrer Jubiläumsausstellung noch von Wirtshaus¬
szenen wimmelt. Daneben kommt aber auch schon der Salon, das Leben ans
den Straßen und Plätzen, der Kampf auf den zahllosen industriellen Gebieten
und die Poesie der Arbeit zur Geltung. Welch einen dankbaren Vorwurf
gerade die letztere unsrer Kunst bietet, hat der in München ansässige Maler
Philipp Fleischer mit seinem kolossalen Gotthardbilde bewiesen. Wir hatten


Die Historienmalerei auf der Berliner Jubiläums-Kunstausstellung.

nicht der Historienmalerei beizuzählen sei, und Bilder wie Bleibtrens „Kronprinz
bei Sedan" und A. von Werners „Moltke vor Paris" hätten vollends keinen
Anspruch auf die Bezeichnung Historienbilder. Umgekehrt würde ein Franzose kein
Bedenken tragen, Gemälde mit lebensgroßen Figuren wie Fleischers „Se. Gott-
hard," Kampfs „Letzte Aussage" und Neides „Lebensmüde" der giÄucle xvür-
wro, also der Historienmalerei im deutschen Sinne, beizuzählen. Man ersieht
schon aus diesen Andeutungen, zu welchen Konflikten eine Einteilung nach dem
hergebrachten Schachtclsystem führen würde. Wenn wir trotzdem in der Über¬
schrift die Bezeichnung „Historienmalerei" beibehalten haben, so geschah es nur,
um wenigstens einen Mittelpunkt für die Gruppirung zu finden. Den Begriff
gedenken wir möglichst weit zu fassen, indem wir dabei zwischen deutscheu und
französischen Anschauungen vermitteln.

Jene drei zuletzt zitirten Gemälde verdienen schon deshalb an dieser Stelle
eine Besprechung, weil sie kühne, mit hervorragender Begabung durchgeführte
Wagnisse sind. Es war bisher in der deutscheu Malerei nicht üblich, Szenen
ans dem modernen Leben in Naturgrößen Figuren darzustellen. Hero und Leander,
Paris und Helena, Nomeos Abschied von Julia — dergleichen durfte lebens¬
groß gemalt werden. Aber ein Liebespaar aus dem Leben der Gegenwart, in
Kleidern, wie wir sie tragen — beileibe nicht! Franzosen und Belgier haben
sich schon seit langer Zeit nicht mehr an dieses Dogma gelehrt. Die Haupt¬
sache, auf welche es hierbei ankommt, ist die: Hat Jemand so viel zu sagen,
d. h. besitzt er so ausreichende und fesselnde Darstellungsmittel, daß er eine große
Leinwand gleichmäßig bedeutend und interessant gestalten kaun, oder besitzt er
sie nicht? In letzteren Falle beschränke er sich fein auf ein kleines Feld, auf
welchem die Lücken seines künstlerischen Vermögens weniger zu Tage treten.
Jene drei Künstler verfügen jedoch über ausgiebige technische Fähigkeiten, und
es kann nicht geleugnet werden, daß ihre Schöpfungen gerade durch die Wahl
des Maßstabes einen imponirenden Eindruck machen, der vielleicht bei einer Re¬
duktion des Formates auf das übliche der Genrebilder ausgeblieben wäre. Die
Kühnheit des Wagnisses liegt aber auch in der Wahl des Stoffes. Unsre
Künstler fangen nachgerade doch an, aus dem engen Zirkel der harmlosen Ka-
lendcrbilder herauszutreten und sich das Leben in ihrer Umgebung anzusehen,
das ihnen bisher wie durch eine chinesische Mauer verschlossen gewesen war. Der
Vorwurf, der namentlich der Genremalerei gemacht wurde, daß ihr Horizont
durch die vier Wände des Wirtshauses abgegrenzt sei, besteht nicht mehr zu
Recht, obwohl es auch auf unsrer Jubiläumsausstellung noch von Wirtshaus¬
szenen wimmelt. Daneben kommt aber auch schon der Salon, das Leben ans
den Straßen und Plätzen, der Kampf auf den zahllosen industriellen Gebieten
und die Poesie der Arbeit zur Geltung. Welch einen dankbaren Vorwurf
gerade die letztere unsrer Kunst bietet, hat der in München ansässige Maler
Philipp Fleischer mit seinem kolossalen Gotthardbilde bewiesen. Wir hatten


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[0224] Die Historienmalerei auf der Berliner Jubiläums-Kunstausstellung. nicht der Historienmalerei beizuzählen sei, und Bilder wie Bleibtrens „Kronprinz bei Sedan" und A. von Werners „Moltke vor Paris" hätten vollends keinen Anspruch auf die Bezeichnung Historienbilder. Umgekehrt würde ein Franzose kein Bedenken tragen, Gemälde mit lebensgroßen Figuren wie Fleischers „Se. Gott- hard," Kampfs „Letzte Aussage" und Neides „Lebensmüde" der giÄucle xvür- wro, also der Historienmalerei im deutschen Sinne, beizuzählen. Man ersieht schon aus diesen Andeutungen, zu welchen Konflikten eine Einteilung nach dem hergebrachten Schachtclsystem führen würde. Wenn wir trotzdem in der Über¬ schrift die Bezeichnung „Historienmalerei" beibehalten haben, so geschah es nur, um wenigstens einen Mittelpunkt für die Gruppirung zu finden. Den Begriff gedenken wir möglichst weit zu fassen, indem wir dabei zwischen deutscheu und französischen Anschauungen vermitteln. Jene drei zuletzt zitirten Gemälde verdienen schon deshalb an dieser Stelle eine Besprechung, weil sie kühne, mit hervorragender Begabung durchgeführte Wagnisse sind. Es war bisher in der deutscheu Malerei nicht üblich, Szenen ans dem modernen Leben in Naturgrößen Figuren darzustellen. Hero und Leander, Paris und Helena, Nomeos Abschied von Julia — dergleichen durfte lebens¬ groß gemalt werden. Aber ein Liebespaar aus dem Leben der Gegenwart, in Kleidern, wie wir sie tragen — beileibe nicht! Franzosen und Belgier haben sich schon seit langer Zeit nicht mehr an dieses Dogma gelehrt. Die Haupt¬ sache, auf welche es hierbei ankommt, ist die: Hat Jemand so viel zu sagen, d. h. besitzt er so ausreichende und fesselnde Darstellungsmittel, daß er eine große Leinwand gleichmäßig bedeutend und interessant gestalten kaun, oder besitzt er sie nicht? In letzteren Falle beschränke er sich fein auf ein kleines Feld, auf welchem die Lücken seines künstlerischen Vermögens weniger zu Tage treten. Jene drei Künstler verfügen jedoch über ausgiebige technische Fähigkeiten, und es kann nicht geleugnet werden, daß ihre Schöpfungen gerade durch die Wahl des Maßstabes einen imponirenden Eindruck machen, der vielleicht bei einer Re¬ duktion des Formates auf das übliche der Genrebilder ausgeblieben wäre. Die Kühnheit des Wagnisses liegt aber auch in der Wahl des Stoffes. Unsre Künstler fangen nachgerade doch an, aus dem engen Zirkel der harmlosen Ka- lendcrbilder herauszutreten und sich das Leben in ihrer Umgebung anzusehen, das ihnen bisher wie durch eine chinesische Mauer verschlossen gewesen war. Der Vorwurf, der namentlich der Genremalerei gemacht wurde, daß ihr Horizont durch die vier Wände des Wirtshauses abgegrenzt sei, besteht nicht mehr zu Recht, obwohl es auch auf unsrer Jubiläumsausstellung noch von Wirtshaus¬ szenen wimmelt. Daneben kommt aber auch schon der Salon, das Leben ans den Straßen und Plätzen, der Kampf auf den zahllosen industriellen Gebieten und die Poesie der Arbeit zur Geltung. Welch einen dankbaren Vorwurf gerade die letztere unsrer Kunst bietet, hat der in München ansässige Maler Philipp Fleischer mit seinem kolossalen Gotthardbilde bewiesen. Wir hatten

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198719/224>, abgerufen am 22.07.2024.