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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Drittes Quartal.

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Hermann Lotzos kleine Schriften.

abwägenden Zergliederungskunst ist die Rezension von Krauses Buch "Über die
Wahrhaftigkeit," welche alle die dünngcspvnnenen, vielverschlungenen Fäden
dieser ethischen Erwägungen mit unermüdlicher Geduld und Reinlichkeit des
Denkens entwirrt. Das Urteil ist, wenn es not thut, scharf und entschieden,
mit ernstem Tadel hält er nicht zurück, entschiedne Verurteilung wird nicht ge¬
mieden.

Nicht zufrieden mit der Zergliederung fremder Gedanken, welche die An¬
sichten des Verfassers aus ihnen selbst in Widersprüche verwickelt, gräbt Lotze
weiter den Wurzeln jeuer Gedanken nach, legt die verschwiegenen, dem Ver¬
sasser selbst vielleicht unbewußten Voraussetzungen bloß, auf denen jene er¬
wachsen, und weist so den Ort etwaiger Fehler genau nach. An dies zu¬
stimmende oder ablehnende, an sich noch unfruchtbare Urteil schließt sich allerorten
die fruchtbare Förderung, die auch den kleinen Lotzischen Rezensionen entsprießt.
Er verfolgt die Gedankenwege, auf denen dem Verfasser der Faden gerissen oder
verwirrt ist, weist selbst die Wege, die weiterführen, giebt eigne Zusätze und Bestim¬
mungen, stellt neue Forschungsziele und Methoden auf gegen die als irrig erwie¬
sene" und verdrängt die als hohl und unzureichend erkannten Grundsätze durch
eigne kräftige und gehaltvolle Anschauungen. So verfährt er vor allem in den
eingehenden Rezensionen, die eigne Abhandlungen zu heißen verdienen, bei Stark,
Hnrtcustein und Krause. Nicht selteu fügt er pshchologisch eindringende Bemer¬
kungen über die Weise des Verfassers, seine geistig-wissenschaftliche Persönlichkeit
hinzu und zeichnet mit wenigen Strichen ein Bild seines Wesens. Am Ende
faßt dann ein zusammenfassender Urteilssatz das Ergebnis des Buches und der
Kritik verständlich zusammen, Ist Lotze zu Ende, so ist die Absicht der echten
Kritik vollkommen erreicht: auch der Leser, der das Buch noch nicht gelesen hat,
ist über den Verfasser, den Wert oder Unwert seiner Leistung unterrichtet, weiß,
was er von dem Werke zu erwarten hat; er sowohl wie der, der es schon kennt,
hat für die Auffassung und Beurteilung desselben feste Anhaltepunkte erhalten,
und darüber hinaus öffnen sich ihnen weitreichende freie Aussichten in weitere
Gedankenbahnen.

Auch für solche Leser, die den behandelten Gegenständen fernstehen, ist
das Lesen dieser Rezensionen ein voller Genuß: so groß ist die Kunst und die
Gedankenschärfe des Kritikers. Dazu kommt der Reiz des gleichmäßig schönen,
kunstvoll runden Lotzischeu Stils, der schon in den ersten Abhandlungen lebendig
wirkt, und seine seine, bei aller sachlichen Entschiedenheit maßvoll verbindliche
Art, die man in Rezensionen und Streitschriften heute oft vergeblich sucht.
Es ist die Art eines ohne alle persönlichen Nebengedanken der Wahrheit allein
nachstrebenden Gemütes, welches ohne Gunst und Ungunst seine Bemerkungen
zur Verteidigung seiner für wahr erkannten Ansichten vorträgt und sich freuen
würde, durch zwingende Entgegnungen etwaiger Irrtümer überführt zu werden.
Auch in der sachlich schärfsten Polemik klingt der Ton ruhiger Erörterung fort.


Hermann Lotzos kleine Schriften.

abwägenden Zergliederungskunst ist die Rezension von Krauses Buch „Über die
Wahrhaftigkeit," welche alle die dünngcspvnnenen, vielverschlungenen Fäden
dieser ethischen Erwägungen mit unermüdlicher Geduld und Reinlichkeit des
Denkens entwirrt. Das Urteil ist, wenn es not thut, scharf und entschieden,
mit ernstem Tadel hält er nicht zurück, entschiedne Verurteilung wird nicht ge¬
mieden.

Nicht zufrieden mit der Zergliederung fremder Gedanken, welche die An¬
sichten des Verfassers aus ihnen selbst in Widersprüche verwickelt, gräbt Lotze
weiter den Wurzeln jeuer Gedanken nach, legt die verschwiegenen, dem Ver¬
sasser selbst vielleicht unbewußten Voraussetzungen bloß, auf denen jene er¬
wachsen, und weist so den Ort etwaiger Fehler genau nach. An dies zu¬
stimmende oder ablehnende, an sich noch unfruchtbare Urteil schließt sich allerorten
die fruchtbare Förderung, die auch den kleinen Lotzischen Rezensionen entsprießt.
Er verfolgt die Gedankenwege, auf denen dem Verfasser der Faden gerissen oder
verwirrt ist, weist selbst die Wege, die weiterführen, giebt eigne Zusätze und Bestim¬
mungen, stellt neue Forschungsziele und Methoden auf gegen die als irrig erwie¬
sene» und verdrängt die als hohl und unzureichend erkannten Grundsätze durch
eigne kräftige und gehaltvolle Anschauungen. So verfährt er vor allem in den
eingehenden Rezensionen, die eigne Abhandlungen zu heißen verdienen, bei Stark,
Hnrtcustein und Krause. Nicht selteu fügt er pshchologisch eindringende Bemer¬
kungen über die Weise des Verfassers, seine geistig-wissenschaftliche Persönlichkeit
hinzu und zeichnet mit wenigen Strichen ein Bild seines Wesens. Am Ende
faßt dann ein zusammenfassender Urteilssatz das Ergebnis des Buches und der
Kritik verständlich zusammen, Ist Lotze zu Ende, so ist die Absicht der echten
Kritik vollkommen erreicht: auch der Leser, der das Buch noch nicht gelesen hat,
ist über den Verfasser, den Wert oder Unwert seiner Leistung unterrichtet, weiß,
was er von dem Werke zu erwarten hat; er sowohl wie der, der es schon kennt,
hat für die Auffassung und Beurteilung desselben feste Anhaltepunkte erhalten,
und darüber hinaus öffnen sich ihnen weitreichende freie Aussichten in weitere
Gedankenbahnen.

Auch für solche Leser, die den behandelten Gegenständen fernstehen, ist
das Lesen dieser Rezensionen ein voller Genuß: so groß ist die Kunst und die
Gedankenschärfe des Kritikers. Dazu kommt der Reiz des gleichmäßig schönen,
kunstvoll runden Lotzischeu Stils, der schon in den ersten Abhandlungen lebendig
wirkt, und seine seine, bei aller sachlichen Entschiedenheit maßvoll verbindliche
Art, die man in Rezensionen und Streitschriften heute oft vergeblich sucht.
Es ist die Art eines ohne alle persönlichen Nebengedanken der Wahrheit allein
nachstrebenden Gemütes, welches ohne Gunst und Ungunst seine Bemerkungen
zur Verteidigung seiner für wahr erkannten Ansichten vorträgt und sich freuen
würde, durch zwingende Entgegnungen etwaiger Irrtümer überführt zu werden.
Auch in der sachlich schärfsten Polemik klingt der Ton ruhiger Erörterung fort.


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[0220] Hermann Lotzos kleine Schriften. abwägenden Zergliederungskunst ist die Rezension von Krauses Buch „Über die Wahrhaftigkeit," welche alle die dünngcspvnnenen, vielverschlungenen Fäden dieser ethischen Erwägungen mit unermüdlicher Geduld und Reinlichkeit des Denkens entwirrt. Das Urteil ist, wenn es not thut, scharf und entschieden, mit ernstem Tadel hält er nicht zurück, entschiedne Verurteilung wird nicht ge¬ mieden. Nicht zufrieden mit der Zergliederung fremder Gedanken, welche die An¬ sichten des Verfassers aus ihnen selbst in Widersprüche verwickelt, gräbt Lotze weiter den Wurzeln jeuer Gedanken nach, legt die verschwiegenen, dem Ver¬ sasser selbst vielleicht unbewußten Voraussetzungen bloß, auf denen jene er¬ wachsen, und weist so den Ort etwaiger Fehler genau nach. An dies zu¬ stimmende oder ablehnende, an sich noch unfruchtbare Urteil schließt sich allerorten die fruchtbare Förderung, die auch den kleinen Lotzischen Rezensionen entsprießt. Er verfolgt die Gedankenwege, auf denen dem Verfasser der Faden gerissen oder verwirrt ist, weist selbst die Wege, die weiterführen, giebt eigne Zusätze und Bestim¬ mungen, stellt neue Forschungsziele und Methoden auf gegen die als irrig erwie¬ sene» und verdrängt die als hohl und unzureichend erkannten Grundsätze durch eigne kräftige und gehaltvolle Anschauungen. So verfährt er vor allem in den eingehenden Rezensionen, die eigne Abhandlungen zu heißen verdienen, bei Stark, Hnrtcustein und Krause. Nicht selteu fügt er pshchologisch eindringende Bemer¬ kungen über die Weise des Verfassers, seine geistig-wissenschaftliche Persönlichkeit hinzu und zeichnet mit wenigen Strichen ein Bild seines Wesens. Am Ende faßt dann ein zusammenfassender Urteilssatz das Ergebnis des Buches und der Kritik verständlich zusammen, Ist Lotze zu Ende, so ist die Absicht der echten Kritik vollkommen erreicht: auch der Leser, der das Buch noch nicht gelesen hat, ist über den Verfasser, den Wert oder Unwert seiner Leistung unterrichtet, weiß, was er von dem Werke zu erwarten hat; er sowohl wie der, der es schon kennt, hat für die Auffassung und Beurteilung desselben feste Anhaltepunkte erhalten, und darüber hinaus öffnen sich ihnen weitreichende freie Aussichten in weitere Gedankenbahnen. Auch für solche Leser, die den behandelten Gegenständen fernstehen, ist das Lesen dieser Rezensionen ein voller Genuß: so groß ist die Kunst und die Gedankenschärfe des Kritikers. Dazu kommt der Reiz des gleichmäßig schönen, kunstvoll runden Lotzischeu Stils, der schon in den ersten Abhandlungen lebendig wirkt, und seine seine, bei aller sachlichen Entschiedenheit maßvoll verbindliche Art, die man in Rezensionen und Streitschriften heute oft vergeblich sucht. Es ist die Art eines ohne alle persönlichen Nebengedanken der Wahrheit allein nachstrebenden Gemütes, welches ohne Gunst und Ungunst seine Bemerkungen zur Verteidigung seiner für wahr erkannten Ansichten vorträgt und sich freuen würde, durch zwingende Entgegnungen etwaiger Irrtümer überführt zu werden. Auch in der sachlich schärfsten Polemik klingt der Ton ruhiger Erörterung fort.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198719/220>, abgerufen am 22.07.2024.