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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Drittes Quartal.

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Margarethe von Navarra.

verloren hatte, ganz ohne Rücksicht. Doch konnte sie sich wenigstens überzeugen,
daß die Ehe des jungen Paares glücklich war.

Schwach und fortwährend kränkelnd, zog sich Margarethe auf Schloß Odos
in Bigorre zurück und war auf ihr baldiges Ende gefaßt. Als sie in einer
Nacht einen Kometen beobachtete, erkältete sie sich und beschleunigte so ihren
Tod. Sie starb am 21. Dezember 1549 im achtundfünfzigsten Jahre ihres
Lebens. Ihr Heimgang erregte allgemeine Trauer. Thucmus sagte von ihrem
Tode: "Um das Ende des Jahres starb zu Odos Margarethe, eine durch die
höchsten Gaben des Geistes und Charakters ausgezeichnete Frau."

Margarethe von Navarra war duldsam in einem Zeitalter voller Un¬
duldsamkeit; selbst fromm, achtete sie die Überzeugung andrer, auch wenn ihr
diese irrig erschien. Fest in der Gesinnung, suchte sie doch zwischen den strei¬
tenden Parteien nach Möglichkeit zu vermitteln. Keine der großen Fragen ihres
nährenden Zeitalters blieb ihr fremd, der Theologie widmete sie kaum weniger
ernste Studien als der Kunst und der Literatur. Ju fast heldenhafter Seelen¬
größe trat sie in Zeiten drohendster Gefahr ihrem Bruder wie den protestan¬
tischen Flüchtlingen schützend zur Seite. Die ernsten, feinen Züge, welche
ein Bild aus ihren spätern Lebensjahren erkennen läßt, der Blick voller Güte
stimmen zu diesem Charakter.

Wer heutigen Tages von der Königin Margarethe von Navarra spricht,
meint wohl immer zunächst die Dichterin. Denn sie war nicht allein eine begeisterte
Freundin aller Kunst und Poesie, sie war auch selbst mit dichterischem Talent
begabt. In ihren Gedichten lesen wir ihr eignes Leben; die reformatorischen
Ideen, das wechselnde Geschick ihres Bruders, Liebeslust und Liebesleid fanden
in ihren Versen lebendigen Ausdruck. "Die französische Literatur -- urteilt
Lvthcißeu -- hat während der ersten Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts nur
einen einzigen Mann, Rabelais, aufzuweisen, der die Königin an Vielseitigkeit
und Tiefe der Gedanken übertraf. Allen andern Dichtern und Schriftstellern
ihrer Zeit stand sie voran, sie übertraf selbst Marot, wenn anch nicht an Leichtig¬
keit, so doch gewiß an Empfindung, geistiger Kraft und sittlichem Ernst." Auch
zahlreiche Briefe find von ihr erhalten, die uns einen Blick in die vornehme,
feine Natur der königlichen Frau vergönnen; alle zeigen ihre Selbstlosigkeit,
ihr warmes Mitgefühl, zeigen, wie sie immer bestrebt ist, ihr Wissen zu erweitern,
und nie die Bestimmtheit ihres Denkens und Handelns verleugnet; in ihrer
klaren Sprache sind sie der Ausdruck eines praktischen Geistes. Nur die an
Bischof Bri^vnnet gerichteten Briefe bilden mit ihren verworrenen, überschwäng-
lichen, den Stil des Bischofs nachahmenden Sätzen eine Ausnahme.

Von der Dichterin Margarethe und von den Zuständen der französischen
Literatur überhaupt entwirft Lotheißen ein lebensvolles Bild; diese Schilderungen
gehören zu den glänzendsten Seiten des Buches. Ausführliche Charakteristiken
der bedeutenderen Persönlichkeiten aus dem engern und weitern literarischen


Grenzboten III. 1886. 22
Margarethe von Navarra.

verloren hatte, ganz ohne Rücksicht. Doch konnte sie sich wenigstens überzeugen,
daß die Ehe des jungen Paares glücklich war.

Schwach und fortwährend kränkelnd, zog sich Margarethe auf Schloß Odos
in Bigorre zurück und war auf ihr baldiges Ende gefaßt. Als sie in einer
Nacht einen Kometen beobachtete, erkältete sie sich und beschleunigte so ihren
Tod. Sie starb am 21. Dezember 1549 im achtundfünfzigsten Jahre ihres
Lebens. Ihr Heimgang erregte allgemeine Trauer. Thucmus sagte von ihrem
Tode: „Um das Ende des Jahres starb zu Odos Margarethe, eine durch die
höchsten Gaben des Geistes und Charakters ausgezeichnete Frau."

Margarethe von Navarra war duldsam in einem Zeitalter voller Un¬
duldsamkeit; selbst fromm, achtete sie die Überzeugung andrer, auch wenn ihr
diese irrig erschien. Fest in der Gesinnung, suchte sie doch zwischen den strei¬
tenden Parteien nach Möglichkeit zu vermitteln. Keine der großen Fragen ihres
nährenden Zeitalters blieb ihr fremd, der Theologie widmete sie kaum weniger
ernste Studien als der Kunst und der Literatur. Ju fast heldenhafter Seelen¬
größe trat sie in Zeiten drohendster Gefahr ihrem Bruder wie den protestan¬
tischen Flüchtlingen schützend zur Seite. Die ernsten, feinen Züge, welche
ein Bild aus ihren spätern Lebensjahren erkennen läßt, der Blick voller Güte
stimmen zu diesem Charakter.

Wer heutigen Tages von der Königin Margarethe von Navarra spricht,
meint wohl immer zunächst die Dichterin. Denn sie war nicht allein eine begeisterte
Freundin aller Kunst und Poesie, sie war auch selbst mit dichterischem Talent
begabt. In ihren Gedichten lesen wir ihr eignes Leben; die reformatorischen
Ideen, das wechselnde Geschick ihres Bruders, Liebeslust und Liebesleid fanden
in ihren Versen lebendigen Ausdruck. „Die französische Literatur — urteilt
Lvthcißeu — hat während der ersten Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts nur
einen einzigen Mann, Rabelais, aufzuweisen, der die Königin an Vielseitigkeit
und Tiefe der Gedanken übertraf. Allen andern Dichtern und Schriftstellern
ihrer Zeit stand sie voran, sie übertraf selbst Marot, wenn anch nicht an Leichtig¬
keit, so doch gewiß an Empfindung, geistiger Kraft und sittlichem Ernst." Auch
zahlreiche Briefe find von ihr erhalten, die uns einen Blick in die vornehme,
feine Natur der königlichen Frau vergönnen; alle zeigen ihre Selbstlosigkeit,
ihr warmes Mitgefühl, zeigen, wie sie immer bestrebt ist, ihr Wissen zu erweitern,
und nie die Bestimmtheit ihres Denkens und Handelns verleugnet; in ihrer
klaren Sprache sind sie der Ausdruck eines praktischen Geistes. Nur die an
Bischof Bri^vnnet gerichteten Briefe bilden mit ihren verworrenen, überschwäng-
lichen, den Stil des Bischofs nachahmenden Sätzen eine Ausnahme.

Von der Dichterin Margarethe und von den Zuständen der französischen
Literatur überhaupt entwirft Lotheißen ein lebensvolles Bild; diese Schilderungen
gehören zu den glänzendsten Seiten des Buches. Ausführliche Charakteristiken
der bedeutenderen Persönlichkeiten aus dem engern und weitern literarischen


Grenzboten III. 1886. 22
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[0177] Margarethe von Navarra. verloren hatte, ganz ohne Rücksicht. Doch konnte sie sich wenigstens überzeugen, daß die Ehe des jungen Paares glücklich war. Schwach und fortwährend kränkelnd, zog sich Margarethe auf Schloß Odos in Bigorre zurück und war auf ihr baldiges Ende gefaßt. Als sie in einer Nacht einen Kometen beobachtete, erkältete sie sich und beschleunigte so ihren Tod. Sie starb am 21. Dezember 1549 im achtundfünfzigsten Jahre ihres Lebens. Ihr Heimgang erregte allgemeine Trauer. Thucmus sagte von ihrem Tode: „Um das Ende des Jahres starb zu Odos Margarethe, eine durch die höchsten Gaben des Geistes und Charakters ausgezeichnete Frau." Margarethe von Navarra war duldsam in einem Zeitalter voller Un¬ duldsamkeit; selbst fromm, achtete sie die Überzeugung andrer, auch wenn ihr diese irrig erschien. Fest in der Gesinnung, suchte sie doch zwischen den strei¬ tenden Parteien nach Möglichkeit zu vermitteln. Keine der großen Fragen ihres nährenden Zeitalters blieb ihr fremd, der Theologie widmete sie kaum weniger ernste Studien als der Kunst und der Literatur. Ju fast heldenhafter Seelen¬ größe trat sie in Zeiten drohendster Gefahr ihrem Bruder wie den protestan¬ tischen Flüchtlingen schützend zur Seite. Die ernsten, feinen Züge, welche ein Bild aus ihren spätern Lebensjahren erkennen läßt, der Blick voller Güte stimmen zu diesem Charakter. Wer heutigen Tages von der Königin Margarethe von Navarra spricht, meint wohl immer zunächst die Dichterin. Denn sie war nicht allein eine begeisterte Freundin aller Kunst und Poesie, sie war auch selbst mit dichterischem Talent begabt. In ihren Gedichten lesen wir ihr eignes Leben; die reformatorischen Ideen, das wechselnde Geschick ihres Bruders, Liebeslust und Liebesleid fanden in ihren Versen lebendigen Ausdruck. „Die französische Literatur — urteilt Lvthcißeu — hat während der ersten Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts nur einen einzigen Mann, Rabelais, aufzuweisen, der die Königin an Vielseitigkeit und Tiefe der Gedanken übertraf. Allen andern Dichtern und Schriftstellern ihrer Zeit stand sie voran, sie übertraf selbst Marot, wenn anch nicht an Leichtig¬ keit, so doch gewiß an Empfindung, geistiger Kraft und sittlichem Ernst." Auch zahlreiche Briefe find von ihr erhalten, die uns einen Blick in die vornehme, feine Natur der königlichen Frau vergönnen; alle zeigen ihre Selbstlosigkeit, ihr warmes Mitgefühl, zeigen, wie sie immer bestrebt ist, ihr Wissen zu erweitern, und nie die Bestimmtheit ihres Denkens und Handelns verleugnet; in ihrer klaren Sprache sind sie der Ausdruck eines praktischen Geistes. Nur die an Bischof Bri^vnnet gerichteten Briefe bilden mit ihren verworrenen, überschwäng- lichen, den Stil des Bischofs nachahmenden Sätzen eine Ausnahme. Von der Dichterin Margarethe und von den Zuständen der französischen Literatur überhaupt entwirft Lotheißen ein lebensvolles Bild; diese Schilderungen gehören zu den glänzendsten Seiten des Buches. Ausführliche Charakteristiken der bedeutenderen Persönlichkeiten aus dem engern und weitern literarischen Grenzboten III. 1886. 22

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198719/177>, abgerufen am 22.07.2024.