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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Drittes Quartal.

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Schiller der Demokrat.

Gesetze einen Übergang bahnte und, ohne den moralischen Charakter an seiner
Entwicklung zu verhindern, vielmehr zu einem sinnlichen Pfande der unsichtbaren
Sittlichkeit diente." Einen solchen dritten Charakter erzeugt nun die ästhetische
Erziehung. Kann ihr Resultat aber jemals ein solches sein, daß es der "den
Naturstaat aufhebenden Vernunft" die erforderliche Stütze mit den nötigen
Garantien gewährt? Die Antwort wäre -- nach seinen Bedingungen -- po¬
sitiver zu geben als bei Schiller. Jeder individuelle Mensch trägt ja nach
seiner Voraussetzung "einen reinen, idealischen Menschen in sich," und der
Staat (Ideal- und Naturstaat wird hier nicht unterschieden) ist ja nichts andres
als die "Repräsentation dieses reinen Menschen, der sich, mehr oder weniger
deutlich, in jedem Subjekt zu erkennen giebt," nichts als die "objektive und
gleichsam kanonische Form, in der sich die Mannichfaltigkeit der Subjekte zu
vereinigen trachtet." Hat nun ästhetische Erziehung die von ihr gerühmte Kraft,
jenen "dritten Charakter" zu schaffen, aus dem individuellen Menschen den ver¬
steckten idealen soweit herauszulocken, daß er eine Stütze für den sich bildenden
Vernunftstaat wird, warum setzen wir nicht alle Hebel in Bewegung, um dies
so sichere Ziel sobald als möglich zu erreichen? Warum lassen wir diese Wunder-
kraft ungenutzt? Warum quälen wir uns in einem engen, unsicher" Dasein,
warum behelfen wir uns, um dies zu erhalten, mit komplizirten, niemals zu¬
verlässigen Staatsmaschincrien, statt einfach unser Zauberwcrk in Bewegung zu
setzen, ästhetische Erziehung in Aktion treten zu lassen und so sofort jenen
Mittelzustand herbeizuführen, in welchem "der Mensch der Zeit mit dem Menschen
in der Idee zusammentrifft"? Dann wird der einzelne (empirische) Mensch
Staat, ohne seine Individualität aufzugeben, der Staat als "der reine Mensch"
braucht "den empirischen nicht mehr zu unterdrücken" und kaun doch seine Würde
als objektive, kanonische Form aller Individuen bewahren. Man könnte freilich
einwenden, daß es überflüssig sei, solche Folgerungen erst zu ziehen, da Schiller
selbst daran nicht gedacht hat. Andre politische Künstler und künstlerische Po¬
litiker aber haben in unserm Jahrhunderte ernsthafte Theoreme darauf gebaut,
es diene daher zum Beweise, daß auch das Ausdenken dieses revolutionären
Gedankens an Ungeheuerlichkeit verloren hat. Für Schiller gilt dies noch nicht.
Überdies war er zu sehr der Mann des Unbedingten, um an pedantischen An¬
passungen des Ideals Gefallen zu finden, geschweige denn an Zerrbildern.
Schon manches in den obigen Äußerungen hat uns angedeutet, daß er sich
schließlich wie mit dem moralischen Gesetze so auch mit dem Staate, seinem
Vertreter, so gut es ging, aussöhnte. Geschichte und Drama hatten ihm gelehrt,
daß "in seinen Thaten sich der Mensch male." Er beurteilt ihn nicht mehr nach
seinen Ideen, er sieht und sieht mit Entsetzen, "wie er sich in dem Drama der
jetzigen Zeit abbildet." "In den niedern und zahlreichern Klassen stellen sich
uns rohe, gesetzlose Triebe dar, die sich nach aufgelöstem Bande der bürgerlichen
Ordnung entfesseln und mit unlenksamer Wut zu ihrer tierischen Befriedigung


Schiller der Demokrat.

Gesetze einen Übergang bahnte und, ohne den moralischen Charakter an seiner
Entwicklung zu verhindern, vielmehr zu einem sinnlichen Pfande der unsichtbaren
Sittlichkeit diente." Einen solchen dritten Charakter erzeugt nun die ästhetische
Erziehung. Kann ihr Resultat aber jemals ein solches sein, daß es der „den
Naturstaat aufhebenden Vernunft" die erforderliche Stütze mit den nötigen
Garantien gewährt? Die Antwort wäre — nach seinen Bedingungen — po¬
sitiver zu geben als bei Schiller. Jeder individuelle Mensch trägt ja nach
seiner Voraussetzung „einen reinen, idealischen Menschen in sich," und der
Staat (Ideal- und Naturstaat wird hier nicht unterschieden) ist ja nichts andres
als die „Repräsentation dieses reinen Menschen, der sich, mehr oder weniger
deutlich, in jedem Subjekt zu erkennen giebt," nichts als die „objektive und
gleichsam kanonische Form, in der sich die Mannichfaltigkeit der Subjekte zu
vereinigen trachtet." Hat nun ästhetische Erziehung die von ihr gerühmte Kraft,
jenen „dritten Charakter" zu schaffen, aus dem individuellen Menschen den ver¬
steckten idealen soweit herauszulocken, daß er eine Stütze für den sich bildenden
Vernunftstaat wird, warum setzen wir nicht alle Hebel in Bewegung, um dies
so sichere Ziel sobald als möglich zu erreichen? Warum lassen wir diese Wunder-
kraft ungenutzt? Warum quälen wir uns in einem engen, unsicher» Dasein,
warum behelfen wir uns, um dies zu erhalten, mit komplizirten, niemals zu¬
verlässigen Staatsmaschincrien, statt einfach unser Zauberwcrk in Bewegung zu
setzen, ästhetische Erziehung in Aktion treten zu lassen und so sofort jenen
Mittelzustand herbeizuführen, in welchem „der Mensch der Zeit mit dem Menschen
in der Idee zusammentrifft"? Dann wird der einzelne (empirische) Mensch
Staat, ohne seine Individualität aufzugeben, der Staat als „der reine Mensch"
braucht „den empirischen nicht mehr zu unterdrücken" und kaun doch seine Würde
als objektive, kanonische Form aller Individuen bewahren. Man könnte freilich
einwenden, daß es überflüssig sei, solche Folgerungen erst zu ziehen, da Schiller
selbst daran nicht gedacht hat. Andre politische Künstler und künstlerische Po¬
litiker aber haben in unserm Jahrhunderte ernsthafte Theoreme darauf gebaut,
es diene daher zum Beweise, daß auch das Ausdenken dieses revolutionären
Gedankens an Ungeheuerlichkeit verloren hat. Für Schiller gilt dies noch nicht.
Überdies war er zu sehr der Mann des Unbedingten, um an pedantischen An¬
passungen des Ideals Gefallen zu finden, geschweige denn an Zerrbildern.
Schon manches in den obigen Äußerungen hat uns angedeutet, daß er sich
schließlich wie mit dem moralischen Gesetze so auch mit dem Staate, seinem
Vertreter, so gut es ging, aussöhnte. Geschichte und Drama hatten ihm gelehrt,
daß „in seinen Thaten sich der Mensch male." Er beurteilt ihn nicht mehr nach
seinen Ideen, er sieht und sieht mit Entsetzen, „wie er sich in dem Drama der
jetzigen Zeit abbildet." „In den niedern und zahlreichern Klassen stellen sich
uns rohe, gesetzlose Triebe dar, die sich nach aufgelöstem Bande der bürgerlichen
Ordnung entfesseln und mit unlenksamer Wut zu ihrer tierischen Befriedigung


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[0160] Schiller der Demokrat. Gesetze einen Übergang bahnte und, ohne den moralischen Charakter an seiner Entwicklung zu verhindern, vielmehr zu einem sinnlichen Pfande der unsichtbaren Sittlichkeit diente." Einen solchen dritten Charakter erzeugt nun die ästhetische Erziehung. Kann ihr Resultat aber jemals ein solches sein, daß es der „den Naturstaat aufhebenden Vernunft" die erforderliche Stütze mit den nötigen Garantien gewährt? Die Antwort wäre — nach seinen Bedingungen — po¬ sitiver zu geben als bei Schiller. Jeder individuelle Mensch trägt ja nach seiner Voraussetzung „einen reinen, idealischen Menschen in sich," und der Staat (Ideal- und Naturstaat wird hier nicht unterschieden) ist ja nichts andres als die „Repräsentation dieses reinen Menschen, der sich, mehr oder weniger deutlich, in jedem Subjekt zu erkennen giebt," nichts als die „objektive und gleichsam kanonische Form, in der sich die Mannichfaltigkeit der Subjekte zu vereinigen trachtet." Hat nun ästhetische Erziehung die von ihr gerühmte Kraft, jenen „dritten Charakter" zu schaffen, aus dem individuellen Menschen den ver¬ steckten idealen soweit herauszulocken, daß er eine Stütze für den sich bildenden Vernunftstaat wird, warum setzen wir nicht alle Hebel in Bewegung, um dies so sichere Ziel sobald als möglich zu erreichen? Warum lassen wir diese Wunder- kraft ungenutzt? Warum quälen wir uns in einem engen, unsicher» Dasein, warum behelfen wir uns, um dies zu erhalten, mit komplizirten, niemals zu¬ verlässigen Staatsmaschincrien, statt einfach unser Zauberwcrk in Bewegung zu setzen, ästhetische Erziehung in Aktion treten zu lassen und so sofort jenen Mittelzustand herbeizuführen, in welchem „der Mensch der Zeit mit dem Menschen in der Idee zusammentrifft"? Dann wird der einzelne (empirische) Mensch Staat, ohne seine Individualität aufzugeben, der Staat als „der reine Mensch" braucht „den empirischen nicht mehr zu unterdrücken" und kaun doch seine Würde als objektive, kanonische Form aller Individuen bewahren. Man könnte freilich einwenden, daß es überflüssig sei, solche Folgerungen erst zu ziehen, da Schiller selbst daran nicht gedacht hat. Andre politische Künstler und künstlerische Po¬ litiker aber haben in unserm Jahrhunderte ernsthafte Theoreme darauf gebaut, es diene daher zum Beweise, daß auch das Ausdenken dieses revolutionären Gedankens an Ungeheuerlichkeit verloren hat. Für Schiller gilt dies noch nicht. Überdies war er zu sehr der Mann des Unbedingten, um an pedantischen An¬ passungen des Ideals Gefallen zu finden, geschweige denn an Zerrbildern. Schon manches in den obigen Äußerungen hat uns angedeutet, daß er sich schließlich wie mit dem moralischen Gesetze so auch mit dem Staate, seinem Vertreter, so gut es ging, aussöhnte. Geschichte und Drama hatten ihm gelehrt, daß „in seinen Thaten sich der Mensch male." Er beurteilt ihn nicht mehr nach seinen Ideen, er sieht und sieht mit Entsetzen, „wie er sich in dem Drama der jetzigen Zeit abbildet." „In den niedern und zahlreichern Klassen stellen sich uns rohe, gesetzlose Triebe dar, die sich nach aufgelöstem Bande der bürgerlichen Ordnung entfesseln und mit unlenksamer Wut zu ihrer tierischen Befriedigung

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198719/160>, abgerufen am 22.07.2024.