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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Drittes Quartal.

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Schiller der Demokrat.

übertyrannt die Tyrannei der Freiheit, da ist das Gesetz nur eine "Schnürbrust,
die zum Schneckengang verdorben, was Adlerflug geworden wäre," da hat es
"noch keinen großen Mann" gegeben unterm Gesetz, "aber die Freiheit brütet
Kolosse und Extremitäten aus," da ist jeder Gymnasialabituricnt ein Rousseau,
und sein drittes Wort ist "Brutus." In dieser Welt schrieb Schiller seine
"Räuber." Ein deutscher Fürst von damals hätte diese Welt nicht geschaffen,
wenn er gewußt hätte, daß Schiller darin seine "Räuber" schreiben würde. Dieser
deutsche Fürst hat unglücklicherweise die Zeit der anarchistischen Zeitschriften
und nihilistischen Manifeste nicht mehr erlebt. Er hätte diese Welt dann trotz
seiner Schöpfungsmühe wieder zertrümmert. Aber die Welt besteht trotz Schillers
"Räubern," und sie wird bestehen voraussichtlich auch nach den anarchistischen
Zeitschriften. Weder die einen noch die andern haben sie wesentlich geändert;
denn sie verändert nur das, was sie erhält, was zwar keine Kolosse und Ex¬
tremitäten ausbrütet, aber sie selbst erschaffen hat, das in sicherer Mnjestät
langsam, aber stetig wirkende, statt zur dürftigen Umkehr des Gegebenen zum
gänzlich Neuen, Ungeahnten fortschreitende Triebrad der Welt: das Gesetz.

Wie es damals still und unvermerkt auf abseits gelegenem Eiland die
eiserne Klammer schmiedete für die außer Rand und Band gekommene materielle
Welt, so mischte es sich leise in die Kvpfrevolutivuen der tollen Deutschen. Aus
der Freiheit' heraus wuchs der kategorische Imperativ der Körper und des Geistes:
Napoleon und Kant. Es ist merkwürdig, sie wirkten positiv und individuali-
sirend, die beiden destruktivsten und abstraktesten Helden der Geschichte und Philo¬
sophie. Der eine wandelte mit seinen niederschmetternder Triumphen über die
politisch im sechzehnten Jahrhundert stehen gebliebenen südlichen und östlichen
Nachbarn den Kosmopolitismus der Renaissance in das moderne National¬
bewußtsein, der andre beschränkte bei seiner Kritik des superkluger Rationalismus
die vage kosmische Freiheit der theistischer Systeme aus das Individuum, wies
von der schemenhaften Menschheit auf den greifbaren Menschen. Beide bewirkten
eine Umkehr: die Revolutionäre kehren zu monarchischen Formen, die philo¬
sophischen Köpfe zur Poesie zurück. Der cito^vn (Zille wendet sich mit Ekel
von den Schinderknechtcn in Paris, aus dem revoltirenden Publizisten wird ein
stiller Historiker, aus dem materialistischen Strudelkvpf der einsame Kantische
Jdealitätsphilosvph.

Aber Kant ist der "Philosoph der Freiheit," und in Schillers "Gedichten
dritter Periode" heißt es noch: "Der Mensch ist frei geschaffen, ist frei -- und
wär' er in Ketten geboren." Kant, der Philosoph der Freiheit, der demokra¬
tischen Freiheit? Man könnte fast versucht sein, es den gebildeten Gleichheits-
machern zu glauben, wenn man nicht zufällig seinen Kant gelesen hätte. Mau
hört die Worte so oft zusammen: Kant -- Freiheit, das Gesetz in uns -- (mit
der geheimnisvollen Miene des Wissenden) der große Königsberger Philosoph.
Der hats schon ganz genau gewußt, wie alles dermaleinst kommen würde, aber


Schiller der Demokrat.

übertyrannt die Tyrannei der Freiheit, da ist das Gesetz nur eine „Schnürbrust,
die zum Schneckengang verdorben, was Adlerflug geworden wäre," da hat es
„noch keinen großen Mann" gegeben unterm Gesetz, „aber die Freiheit brütet
Kolosse und Extremitäten aus," da ist jeder Gymnasialabituricnt ein Rousseau,
und sein drittes Wort ist „Brutus." In dieser Welt schrieb Schiller seine
„Räuber." Ein deutscher Fürst von damals hätte diese Welt nicht geschaffen,
wenn er gewußt hätte, daß Schiller darin seine „Räuber" schreiben würde. Dieser
deutsche Fürst hat unglücklicherweise die Zeit der anarchistischen Zeitschriften
und nihilistischen Manifeste nicht mehr erlebt. Er hätte diese Welt dann trotz
seiner Schöpfungsmühe wieder zertrümmert. Aber die Welt besteht trotz Schillers
„Räubern," und sie wird bestehen voraussichtlich auch nach den anarchistischen
Zeitschriften. Weder die einen noch die andern haben sie wesentlich geändert;
denn sie verändert nur das, was sie erhält, was zwar keine Kolosse und Ex¬
tremitäten ausbrütet, aber sie selbst erschaffen hat, das in sicherer Mnjestät
langsam, aber stetig wirkende, statt zur dürftigen Umkehr des Gegebenen zum
gänzlich Neuen, Ungeahnten fortschreitende Triebrad der Welt: das Gesetz.

Wie es damals still und unvermerkt auf abseits gelegenem Eiland die
eiserne Klammer schmiedete für die außer Rand und Band gekommene materielle
Welt, so mischte es sich leise in die Kvpfrevolutivuen der tollen Deutschen. Aus
der Freiheit' heraus wuchs der kategorische Imperativ der Körper und des Geistes:
Napoleon und Kant. Es ist merkwürdig, sie wirkten positiv und individuali-
sirend, die beiden destruktivsten und abstraktesten Helden der Geschichte und Philo¬
sophie. Der eine wandelte mit seinen niederschmetternder Triumphen über die
politisch im sechzehnten Jahrhundert stehen gebliebenen südlichen und östlichen
Nachbarn den Kosmopolitismus der Renaissance in das moderne National¬
bewußtsein, der andre beschränkte bei seiner Kritik des superkluger Rationalismus
die vage kosmische Freiheit der theistischer Systeme aus das Individuum, wies
von der schemenhaften Menschheit auf den greifbaren Menschen. Beide bewirkten
eine Umkehr: die Revolutionäre kehren zu monarchischen Formen, die philo¬
sophischen Köpfe zur Poesie zurück. Der cito^vn (Zille wendet sich mit Ekel
von den Schinderknechtcn in Paris, aus dem revoltirenden Publizisten wird ein
stiller Historiker, aus dem materialistischen Strudelkvpf der einsame Kantische
Jdealitätsphilosvph.

Aber Kant ist der „Philosoph der Freiheit," und in Schillers „Gedichten
dritter Periode" heißt es noch: „Der Mensch ist frei geschaffen, ist frei — und
wär' er in Ketten geboren." Kant, der Philosoph der Freiheit, der demokra¬
tischen Freiheit? Man könnte fast versucht sein, es den gebildeten Gleichheits-
machern zu glauben, wenn man nicht zufällig seinen Kant gelesen hätte. Mau
hört die Worte so oft zusammen: Kant — Freiheit, das Gesetz in uns — (mit
der geheimnisvollen Miene des Wissenden) der große Königsberger Philosoph.
Der hats schon ganz genau gewußt, wie alles dermaleinst kommen würde, aber


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198719/155>, abgerufen am 22.07.2024.