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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal.

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Der Arbeiteranfstand in Belgien.

thaten aber sonst nichts zur Änderung ihrer Lage. Sie mußte also wenigstens
nicht ganz unerträglich sein. In Zeiten, wo der Handel blüht, sind die Menschen
zu beschäftigt und zu wenig schlecht gelohnt, um an ihr Schicksal viel zu denken
und dessen Härten so zu empfinden, daß sie sich dagegen auflehnen. Fehlt es
dagegen an genügendem Absatz, stockt die Arbeit und sinken die Löhne, so sieht
man sich mit andern Augen an, die Unzufriedenheit erwacht, der Neid und der
Haß, der bisher nur glimmte, flammt auf, und die politischen und sozialistischen
Demagogen, die sich dann beeilen, ihn zu Gewaltthat"" anzufachen, finden für
ihre Brandreden bereitwillige Ohren. Die Regierung mußte, auch wenn sie
sonst kein Auge und Herz für die traurige Lage der Arbeiter hatte, solche Fälle
voraussehen und für sie gerüstet sein. Sie hatte wenigstens rasch zu sorgen,
daß die Klasse der Besitzenden, aus der sie hervorgegangen war und die sie
vertrat, nicht zu schwer unter den Folgen der Unterlassungssünden litt, deren
sie, die klerikale Regierung, sich gleich ihrer liberalen Vorgängerin gegenüber
den Arbeitern schuldig gemacht hatte. Sie mußte wissen, dnß es im Lande viel
Pöbel und Gesindel giebt, immer bereit, sich Meutereien anzuschließen, um
Plünderungen und Zerstörungen von Eigentum vornehmen zu können. Sie
kannte die Wühler aus höhern Ständen, welche die Massen aufsetzten, schritt
aber weder gegen deren Reden noch gegen deren Flugschriften ein. Sie war
gewarnt durch den Streik und die Mordszene zu Decazeville im benachbarten
Frankreich. Dennoch versäumte sie, rechtzeitig Vorkehrungen zu treffen. Jetzt,
wo das Kind in den Brunnen gefallen ist, will sie ihn zudecken. Aber in¬
zwischen habe" die erhitzten Massen viel Unheil angerichtet und in ihrer Ver¬
blendung durch Niederbrcnnung von Arbeitsstätten und andre Zerstörung sich
für die nächste Zeit selbst die schwache Lebensluft entzogen, die ihnen bisher
gegönnt war. Man hat verhältnismäßig viele von den Aufständischen zusammen¬
schießen müssen. Hätte man eher Soldaten gebraucht und eher geschossen, so
wären unzweifelhaft viel weniger Schüsse nötig geworden. Jetzt herrscht die
Ruhe des Belagerungszustandes. Der aber kann nicht ewig währen. Was
soll geschehen? Was wird die Regierung thun, um die billigen Ansprüche der
Arbeiter zu erfüllen? Am 30. März sagte der Minister Bernaert in der De-
putirtenkammer, man müsse jetzt an die Zukunft denken, und die Regierung
werde dies in aller Ruhe thun und nach Mitteln suchen, den Arbeitern zu
helfen und Arbeit für sie zu finden. Sie werde zu dem Zwecke von den Volks¬
vertretern einen Kredit von 43 Millionen Franks fordern, und man werde
damit Vizinallinien bauen, deren Vollendung in der Ausdehnung von 352 Kilo¬
metern noch in diesem Jahre zu hoffen sei. Das wird aber nur für eine kleine
Zeit der Verlegenheit steuern, und der Minister wird nach weitern Maßregeln
zur Abhilfe, zu dauernder Abhilfe suchen müssen. Der Generalrat der belgischen
Arbeiterpartei verlangt in dem sozialistischen Blatte "Le Peuple" für die Arbeits¬
losen Beschäftigung mit genügendem Lohne durch Anordnung öffentlicher Ar-


GrenzboN'n II. 188". II
Der Arbeiteranfstand in Belgien.

thaten aber sonst nichts zur Änderung ihrer Lage. Sie mußte also wenigstens
nicht ganz unerträglich sein. In Zeiten, wo der Handel blüht, sind die Menschen
zu beschäftigt und zu wenig schlecht gelohnt, um an ihr Schicksal viel zu denken
und dessen Härten so zu empfinden, daß sie sich dagegen auflehnen. Fehlt es
dagegen an genügendem Absatz, stockt die Arbeit und sinken die Löhne, so sieht
man sich mit andern Augen an, die Unzufriedenheit erwacht, der Neid und der
Haß, der bisher nur glimmte, flammt auf, und die politischen und sozialistischen
Demagogen, die sich dann beeilen, ihn zu Gewaltthat«» anzufachen, finden für
ihre Brandreden bereitwillige Ohren. Die Regierung mußte, auch wenn sie
sonst kein Auge und Herz für die traurige Lage der Arbeiter hatte, solche Fälle
voraussehen und für sie gerüstet sein. Sie hatte wenigstens rasch zu sorgen,
daß die Klasse der Besitzenden, aus der sie hervorgegangen war und die sie
vertrat, nicht zu schwer unter den Folgen der Unterlassungssünden litt, deren
sie, die klerikale Regierung, sich gleich ihrer liberalen Vorgängerin gegenüber
den Arbeitern schuldig gemacht hatte. Sie mußte wissen, dnß es im Lande viel
Pöbel und Gesindel giebt, immer bereit, sich Meutereien anzuschließen, um
Plünderungen und Zerstörungen von Eigentum vornehmen zu können. Sie
kannte die Wühler aus höhern Ständen, welche die Massen aufsetzten, schritt
aber weder gegen deren Reden noch gegen deren Flugschriften ein. Sie war
gewarnt durch den Streik und die Mordszene zu Decazeville im benachbarten
Frankreich. Dennoch versäumte sie, rechtzeitig Vorkehrungen zu treffen. Jetzt,
wo das Kind in den Brunnen gefallen ist, will sie ihn zudecken. Aber in¬
zwischen habe» die erhitzten Massen viel Unheil angerichtet und in ihrer Ver¬
blendung durch Niederbrcnnung von Arbeitsstätten und andre Zerstörung sich
für die nächste Zeit selbst die schwache Lebensluft entzogen, die ihnen bisher
gegönnt war. Man hat verhältnismäßig viele von den Aufständischen zusammen¬
schießen müssen. Hätte man eher Soldaten gebraucht und eher geschossen, so
wären unzweifelhaft viel weniger Schüsse nötig geworden. Jetzt herrscht die
Ruhe des Belagerungszustandes. Der aber kann nicht ewig währen. Was
soll geschehen? Was wird die Regierung thun, um die billigen Ansprüche der
Arbeiter zu erfüllen? Am 30. März sagte der Minister Bernaert in der De-
putirtenkammer, man müsse jetzt an die Zukunft denken, und die Regierung
werde dies in aller Ruhe thun und nach Mitteln suchen, den Arbeitern zu
helfen und Arbeit für sie zu finden. Sie werde zu dem Zwecke von den Volks¬
vertretern einen Kredit von 43 Millionen Franks fordern, und man werde
damit Vizinallinien bauen, deren Vollendung in der Ausdehnung von 352 Kilo¬
metern noch in diesem Jahre zu hoffen sei. Das wird aber nur für eine kleine
Zeit der Verlegenheit steuern, und der Minister wird nach weitern Maßregeln
zur Abhilfe, zu dauernder Abhilfe suchen müssen. Der Generalrat der belgischen
Arbeiterpartei verlangt in dem sozialistischen Blatte „Le Peuple" für die Arbeits¬
losen Beschäftigung mit genügendem Lohne durch Anordnung öffentlicher Ar-


GrenzboN'n II. 188«. II
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[0089] Der Arbeiteranfstand in Belgien. thaten aber sonst nichts zur Änderung ihrer Lage. Sie mußte also wenigstens nicht ganz unerträglich sein. In Zeiten, wo der Handel blüht, sind die Menschen zu beschäftigt und zu wenig schlecht gelohnt, um an ihr Schicksal viel zu denken und dessen Härten so zu empfinden, daß sie sich dagegen auflehnen. Fehlt es dagegen an genügendem Absatz, stockt die Arbeit und sinken die Löhne, so sieht man sich mit andern Augen an, die Unzufriedenheit erwacht, der Neid und der Haß, der bisher nur glimmte, flammt auf, und die politischen und sozialistischen Demagogen, die sich dann beeilen, ihn zu Gewaltthat«» anzufachen, finden für ihre Brandreden bereitwillige Ohren. Die Regierung mußte, auch wenn sie sonst kein Auge und Herz für die traurige Lage der Arbeiter hatte, solche Fälle voraussehen und für sie gerüstet sein. Sie hatte wenigstens rasch zu sorgen, daß die Klasse der Besitzenden, aus der sie hervorgegangen war und die sie vertrat, nicht zu schwer unter den Folgen der Unterlassungssünden litt, deren sie, die klerikale Regierung, sich gleich ihrer liberalen Vorgängerin gegenüber den Arbeitern schuldig gemacht hatte. Sie mußte wissen, dnß es im Lande viel Pöbel und Gesindel giebt, immer bereit, sich Meutereien anzuschließen, um Plünderungen und Zerstörungen von Eigentum vornehmen zu können. Sie kannte die Wühler aus höhern Ständen, welche die Massen aufsetzten, schritt aber weder gegen deren Reden noch gegen deren Flugschriften ein. Sie war gewarnt durch den Streik und die Mordszene zu Decazeville im benachbarten Frankreich. Dennoch versäumte sie, rechtzeitig Vorkehrungen zu treffen. Jetzt, wo das Kind in den Brunnen gefallen ist, will sie ihn zudecken. Aber in¬ zwischen habe» die erhitzten Massen viel Unheil angerichtet und in ihrer Ver¬ blendung durch Niederbrcnnung von Arbeitsstätten und andre Zerstörung sich für die nächste Zeit selbst die schwache Lebensluft entzogen, die ihnen bisher gegönnt war. Man hat verhältnismäßig viele von den Aufständischen zusammen¬ schießen müssen. Hätte man eher Soldaten gebraucht und eher geschossen, so wären unzweifelhaft viel weniger Schüsse nötig geworden. Jetzt herrscht die Ruhe des Belagerungszustandes. Der aber kann nicht ewig währen. Was soll geschehen? Was wird die Regierung thun, um die billigen Ansprüche der Arbeiter zu erfüllen? Am 30. März sagte der Minister Bernaert in der De- putirtenkammer, man müsse jetzt an die Zukunft denken, und die Regierung werde dies in aller Ruhe thun und nach Mitteln suchen, den Arbeitern zu helfen und Arbeit für sie zu finden. Sie werde zu dem Zwecke von den Volks¬ vertretern einen Kredit von 43 Millionen Franks fordern, und man werde damit Vizinallinien bauen, deren Vollendung in der Ausdehnung von 352 Kilo¬ metern noch in diesem Jahre zu hoffen sei. Das wird aber nur für eine kleine Zeit der Verlegenheit steuern, und der Minister wird nach weitern Maßregeln zur Abhilfe, zu dauernder Abhilfe suchen müssen. Der Generalrat der belgischen Arbeiterpartei verlangt in dem sozialistischen Blatte „Le Peuple" für die Arbeits¬ losen Beschäftigung mit genügendem Lohne durch Anordnung öffentlicher Ar- GrenzboN'n II. 188«. II

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198065/89>, abgerufen am 28.12.2024.