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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal.

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Wird man sich des Schlagwortes bemächtigen, wird alle Poesie, die über die
Geschichte der sozialen Krankheit der Gegenwart hinausgeht, die sich "im Interesse
ästhetischer Geiiicßlinge" (sagen die Naturalisten) von der großen staubigen
Heerstraße entfernt, akademisch nennen, und wird umgekehrt alles, was sich auf
der Bühne der moderne" Großstadt bewegt, alles, was das Scheingepräge der
"Aktualität" trägt, ohne weiteres für unmittelbar, lebendig und lebensvoll er¬
achten. Und wie weit ist schon jetzt in seinen Anfängen dieser Naturalismus
nicht akademisch (dazu sind seine Produkte meist zu formlos), aber konventionell
durch und durch! Dies ängstliche Wandeln in den Spuren Daudets, Zolas,
Kjellauds, wie wenig Selbständigkeit verrät es! Diese getreulich wieder und
wieder kopirten Szenen und Figuren, diese eintönige Schilderung der geistlosen
und geldhungrigen bürgerlichen Kreise, diese Krcinkheits- und Elendsgeschichten,
wie oft liegen ihnen nichts weniger als Lebenseindrücke und sorgfältige
Studien zu Gründe, wie oft sind sie bis auf die Nachstammlung der gleichen
Zorn- und Schmerzlautc, bis auf die Grimassen, mit denen satirische Be¬
merkungen eingeleitet werden, armseliger Abklatsch der großen Muster und
Vorbilder! Die Mode hat an der Entstehung dieser Produkte einen genan
so großen, vielleicht einen größern Anteil als die künstlerische Tradition
an der Entstehung akademischer Epen und Dramen; in beiden Fällen
handelt es sich um einen Mangel wirklichen Lebensgefühls und selbständiger
Gestaltungskraft, Die tiefste und schwerste Probe der innern Lebensfähigkeit
poetischer Werte: die Probe der Wirkung in der Dauer, haben natürlich die
naturalistischen Versuche noch nicht bestehen können, ohne daß ihnen daraus ein
Vorwurf erwächst. Die Erfahrung, welche den Aposteln Jungdeutschlands nicht
erspart blieb, daß ihre durchaus modernen, ganz vom Zeitgeist inspirirter
Werke noch vor Ablauf eines Jahrzehnts geradezu ungenießbar wurden, dürfte
auch den Naturalisten beschert sein, obschon sie ganz sicher in dem Maße, als
wirklicher Odem der Natur durch ihre Erfindungen hindnrchwcht, mich Bürg¬
schaften für ihre längere Dauer und Wirkungsfähigkeit besitzen.

Auch in Bezug auf die augenblickliche Gesamtlage unsrer Literatur und
die Herrschaft gesellschaftlicher Vorurteile und falscher oder enger Anstandsbcgriffe
über die poetische, namentlich die erzählende Produktion führen die Naturalisten
das große Wort und rühmen sich Luft und Licht zu schaffen. Wäre die
Herrschaft dieser Begriffe auch uoch thranuischer, als sie in der That ist, so
würden wir immer noch nach dem Preise fragen dürfen, um den wir befreit
werden sollen. Es ist ganz richtig, daß die allgemeinen Sittenzustande der
Gegenwart und die Forderungen, die man an die poetische Literatur stellt, oft
im schärfsten Gegensatze stehen, daß die Ausschließlichkeit, mit welcher Dichtungen
und Romane von Frauen gelesen werden, eine Reihe von falschen Maßstäben
hervorgerufen hat. Jedoch ist es von altersher ein mißliches Unternehmen
gewesen, den Teufel durch Beelzebub zu beschwören, und hinter der angebliche"


Wird man sich des Schlagwortes bemächtigen, wird alle Poesie, die über die
Geschichte der sozialen Krankheit der Gegenwart hinausgeht, die sich „im Interesse
ästhetischer Geiiicßlinge" (sagen die Naturalisten) von der großen staubigen
Heerstraße entfernt, akademisch nennen, und wird umgekehrt alles, was sich auf
der Bühne der moderne» Großstadt bewegt, alles, was das Scheingepräge der
„Aktualität" trägt, ohne weiteres für unmittelbar, lebendig und lebensvoll er¬
achten. Und wie weit ist schon jetzt in seinen Anfängen dieser Naturalismus
nicht akademisch (dazu sind seine Produkte meist zu formlos), aber konventionell
durch und durch! Dies ängstliche Wandeln in den Spuren Daudets, Zolas,
Kjellauds, wie wenig Selbständigkeit verrät es! Diese getreulich wieder und
wieder kopirten Szenen und Figuren, diese eintönige Schilderung der geistlosen
und geldhungrigen bürgerlichen Kreise, diese Krcinkheits- und Elendsgeschichten,
wie oft liegen ihnen nichts weniger als Lebenseindrücke und sorgfältige
Studien zu Gründe, wie oft sind sie bis auf die Nachstammlung der gleichen
Zorn- und Schmerzlautc, bis auf die Grimassen, mit denen satirische Be¬
merkungen eingeleitet werden, armseliger Abklatsch der großen Muster und
Vorbilder! Die Mode hat an der Entstehung dieser Produkte einen genan
so großen, vielleicht einen größern Anteil als die künstlerische Tradition
an der Entstehung akademischer Epen und Dramen; in beiden Fällen
handelt es sich um einen Mangel wirklichen Lebensgefühls und selbständiger
Gestaltungskraft, Die tiefste und schwerste Probe der innern Lebensfähigkeit
poetischer Werte: die Probe der Wirkung in der Dauer, haben natürlich die
naturalistischen Versuche noch nicht bestehen können, ohne daß ihnen daraus ein
Vorwurf erwächst. Die Erfahrung, welche den Aposteln Jungdeutschlands nicht
erspart blieb, daß ihre durchaus modernen, ganz vom Zeitgeist inspirirter
Werke noch vor Ablauf eines Jahrzehnts geradezu ungenießbar wurden, dürfte
auch den Naturalisten beschert sein, obschon sie ganz sicher in dem Maße, als
wirklicher Odem der Natur durch ihre Erfindungen hindnrchwcht, mich Bürg¬
schaften für ihre längere Dauer und Wirkungsfähigkeit besitzen.

Auch in Bezug auf die augenblickliche Gesamtlage unsrer Literatur und
die Herrschaft gesellschaftlicher Vorurteile und falscher oder enger Anstandsbcgriffe
über die poetische, namentlich die erzählende Produktion führen die Naturalisten
das große Wort und rühmen sich Luft und Licht zu schaffen. Wäre die
Herrschaft dieser Begriffe auch uoch thranuischer, als sie in der That ist, so
würden wir immer noch nach dem Preise fragen dürfen, um den wir befreit
werden sollen. Es ist ganz richtig, daß die allgemeinen Sittenzustande der
Gegenwart und die Forderungen, die man an die poetische Literatur stellt, oft
im schärfsten Gegensatze stehen, daß die Ausschließlichkeit, mit welcher Dichtungen
und Romane von Frauen gelesen werden, eine Reihe von falschen Maßstäben
hervorgerufen hat. Jedoch ist es von altersher ein mißliches Unternehmen
gewesen, den Teufel durch Beelzebub zu beschwören, und hinter der angebliche»


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198065/83>, abgerufen am 28.12.2024.