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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal.

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Die naturalistische schule in Deutschland.
Warum nur die hübschen Leute
Mir nicht gefallen sollen?
Manchen hält man für fett,
Er ist nur geschwollen.
Goethe.
i.

is im Jahre 1830 die französische Julirevolution den Zündstoff
in Flammen setzte, der während der stillen, allzustillen Nestcm-
rationsjahre auch in deutschen Köpfen und Gemütern aufgehäuft
Morden war, gesellte sich zu deu politischen Bewegungen jene
liternrische Revolution, welche nach den Vorvcrknndigungen ihrer
Leiter der deutschen Literatur eine neue glänzende Zukunft eröffnen sollte. In
allen Tonarten wurde nicht bewiesen, aber behauptet, daß die Schöpfungen der
deutschen Literatur von Lessing bis Uhland lind Grillparzer im Grunde äußerst
dürftig gewesen seien und höchstens als fragmentarische Vorbereitungen sür die
Herrlichkeit der Zukunft gelten dürften. Die Apostel Wienbarg und Mundt
verkündeten das Zeitalter der "modernen Prosa," die dem erstern "ein kolossales,
alle Töne der Welt umfassendes Instrument" hieß und deren höchste Vollendung
er in Heines "Reisebildern" erblickte, sie mühten sich mit und ohne Umschrei¬
bungen ab, das deutsche Volk zu überzeuge", welche kläglichen Stümper und
Tröpfe Lessing und Goethe gewesen seien, sie offenbarten der gläubig lauschenden
Welt, daß mit Börne und Heine nicht nur eine neue Periode der Literatur,
sondern eine Weltära des freien Geistes begonnen habe. Sie fanden in den
Gutzkowschen "Briefen eines Narren an eine Närrin," in Börnes "Briefen aus
Paris" und Heines "Memoiren des Herrn von Schnabelewopski" die Politik,
Wissenschaft und Religion der Zukunft bei einander. Der einzige wahrhaft
poetische Vorkämpfer der neuen Richtung, Heinrich Heine, war freilich ehrlicher,
wenn er sang:


Schlage die Trommel und fürchte dich nicht
Und küsse die Marketenderin!
Das ist die ganze Wissenschaft,
Das ist der Bücher tiefster Sinn.

Aber wenn ihm seine Genossen auch bezüglich des Trommelns Recht gaben und
die Schlägel kräftig rührten, so besaßen sie im allgemeinen weder Heines leicht¬
fertige Grazie, noch den Trieb zu gelegentlichen Eingeständnissen wie dem obigen.
Sie fuhren einige Jahre hindurch fort, zu behaupten, daß alle "alte" Literatur
in die Rumpelkammer geworfen werden müsse und der erleuchtete Geschmack


Die naturalistische schule in Deutschland.
Warum nur die hübschen Leute
Mir nicht gefallen sollen?
Manchen hält man für fett,
Er ist nur geschwollen.
Goethe.
i.

is im Jahre 1830 die französische Julirevolution den Zündstoff
in Flammen setzte, der während der stillen, allzustillen Nestcm-
rationsjahre auch in deutschen Köpfen und Gemütern aufgehäuft
Morden war, gesellte sich zu deu politischen Bewegungen jene
liternrische Revolution, welche nach den Vorvcrknndigungen ihrer
Leiter der deutschen Literatur eine neue glänzende Zukunft eröffnen sollte. In
allen Tonarten wurde nicht bewiesen, aber behauptet, daß die Schöpfungen der
deutschen Literatur von Lessing bis Uhland lind Grillparzer im Grunde äußerst
dürftig gewesen seien und höchstens als fragmentarische Vorbereitungen sür die
Herrlichkeit der Zukunft gelten dürften. Die Apostel Wienbarg und Mundt
verkündeten das Zeitalter der „modernen Prosa," die dem erstern „ein kolossales,
alle Töne der Welt umfassendes Instrument" hieß und deren höchste Vollendung
er in Heines „Reisebildern" erblickte, sie mühten sich mit und ohne Umschrei¬
bungen ab, das deutsche Volk zu überzeuge», welche kläglichen Stümper und
Tröpfe Lessing und Goethe gewesen seien, sie offenbarten der gläubig lauschenden
Welt, daß mit Börne und Heine nicht nur eine neue Periode der Literatur,
sondern eine Weltära des freien Geistes begonnen habe. Sie fanden in den
Gutzkowschen „Briefen eines Narren an eine Närrin," in Börnes „Briefen aus
Paris" und Heines „Memoiren des Herrn von Schnabelewopski" die Politik,
Wissenschaft und Religion der Zukunft bei einander. Der einzige wahrhaft
poetische Vorkämpfer der neuen Richtung, Heinrich Heine, war freilich ehrlicher,
wenn er sang:


Schlage die Trommel und fürchte dich nicht
Und küsse die Marketenderin!
Das ist die ganze Wissenschaft,
Das ist der Bücher tiefster Sinn.

Aber wenn ihm seine Genossen auch bezüglich des Trommelns Recht gaben und
die Schlägel kräftig rührten, so besaßen sie im allgemeinen weder Heines leicht¬
fertige Grazie, noch den Trieb zu gelegentlichen Eingeständnissen wie dem obigen.
Sie fuhren einige Jahre hindurch fort, zu behaupten, daß alle „alte" Literatur
in die Rumpelkammer geworfen werden müsse und der erleuchtete Geschmack


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[0074] Die naturalistische schule in Deutschland. Warum nur die hübschen Leute Mir nicht gefallen sollen? Manchen hält man für fett, Er ist nur geschwollen. Goethe. i. is im Jahre 1830 die französische Julirevolution den Zündstoff in Flammen setzte, der während der stillen, allzustillen Nestcm- rationsjahre auch in deutschen Köpfen und Gemütern aufgehäuft Morden war, gesellte sich zu deu politischen Bewegungen jene liternrische Revolution, welche nach den Vorvcrknndigungen ihrer Leiter der deutschen Literatur eine neue glänzende Zukunft eröffnen sollte. In allen Tonarten wurde nicht bewiesen, aber behauptet, daß die Schöpfungen der deutschen Literatur von Lessing bis Uhland lind Grillparzer im Grunde äußerst dürftig gewesen seien und höchstens als fragmentarische Vorbereitungen sür die Herrlichkeit der Zukunft gelten dürften. Die Apostel Wienbarg und Mundt verkündeten das Zeitalter der „modernen Prosa," die dem erstern „ein kolossales, alle Töne der Welt umfassendes Instrument" hieß und deren höchste Vollendung er in Heines „Reisebildern" erblickte, sie mühten sich mit und ohne Umschrei¬ bungen ab, das deutsche Volk zu überzeuge», welche kläglichen Stümper und Tröpfe Lessing und Goethe gewesen seien, sie offenbarten der gläubig lauschenden Welt, daß mit Börne und Heine nicht nur eine neue Periode der Literatur, sondern eine Weltära des freien Geistes begonnen habe. Sie fanden in den Gutzkowschen „Briefen eines Narren an eine Närrin," in Börnes „Briefen aus Paris" und Heines „Memoiren des Herrn von Schnabelewopski" die Politik, Wissenschaft und Religion der Zukunft bei einander. Der einzige wahrhaft poetische Vorkämpfer der neuen Richtung, Heinrich Heine, war freilich ehrlicher, wenn er sang: Schlage die Trommel und fürchte dich nicht Und küsse die Marketenderin! Das ist die ganze Wissenschaft, Das ist der Bücher tiefster Sinn. Aber wenn ihm seine Genossen auch bezüglich des Trommelns Recht gaben und die Schlägel kräftig rührten, so besaßen sie im allgemeinen weder Heines leicht¬ fertige Grazie, noch den Trieb zu gelegentlichen Eingeständnissen wie dem obigen. Sie fuhren einige Jahre hindurch fort, zu behaupten, daß alle „alte" Literatur in die Rumpelkammer geworfen werden müsse und der erleuchtete Geschmack

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198065/74>, abgerufen am 09.01.2025.