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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal.

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Englische Gper in Berlin,

Unsre Operette ist allerdings nicht so gemein, sondern sie ist viel gemeiner.
Sie überkleidet die Gemeinheit mit einem täuschenden Firniß von Chik und
Koketterie; mit der diabolischen Kunst des PaSquillanten geht sie um alles herum,
was ihren gesetzgebenden Körper, das Publikum der oiÄxnIö, verletzen könnte;
ja sie ist Pasquill, nicht Satire, denn ihre Spitze gilt nicht dem offen Anzu¬
greifenden, dem bequemen, schillernden Laster, sondern der Macht, der man nur
versteckt beikommen kann, der schwere", undankbaren Moral. Darum affektirt
die Operette jetzt so gern die Formen des höhern Lustspiels, welches mit seinen
vielfachen poetischen Details viel mehr wagen kann als die von der Musik ein¬
geschränkte, auf grobe Züge angewiesene Operette. Aber in den Maschen einer
verzwickten Handlung geht dann der letzte Nest von anständigem Bewußtsein
unter, den die lärmende, nervös synkopirte, auf ohreumarteruden Vorhalten
und festgehaltenen Durchgangsnoten hingeilende Musik und -- die "Phantasie¬
kostüme" der Damen übrig gelassen haben. Die Operette ist offenbar der beste
Boden für die alte Komödie, die ja zur Zeit ihrer Blüte schon einen guten Teil
ihrer Wirkungen aus der Musik zog. Unser modernes Charakterlustspiel hat ganz
andre Aufgaben zu lösen. Aber der unglückliche Stern, der über der Wieder¬
erweckung der dramatischen Musik überhaupt schwebte, hat auch sie verfolgt.
Wie man die ernste Oper einfach zur musikalischen Übersetzung des rezitirendcn
Dramas machte, so wurde aus der komischen nichts weiter als eine musikalische
Verballhornung des Jntriguenlustspiels. Man kann diese Entwicklung in
Deutschland ganz besonders verfolgen, von den ersten Hamburger Vuffonerien
bis auf Lvrtzing. Wer wollte leugnen, daß mit Offenbach ein neuer Geist in
die komische Oper fährt! Ein guter -- das dürfte man schwer beweisen können,
aber trotzdem ein richtiger. Hier wird die komische Oper wieder das, wozu sie
ihre Entstehung bestimmt: rücksichtslose Lebensparvdie, drastische Satire. Schade,
daß diese Wiedergeburt, herausgefordert von einer durch und durch verlumpten
Zeit, die Spuren ihrer Umgebung, die Gebrechen ihrer Erzeuger so deutlich um
sich trägt. Wir meinen hiermit die immer wieder überwuchernde spitzbübische
Freude am Schmutz, vor allem die als priapische Konzession fast jedem Stücke
beigegebene Casanovasche Nomanszene ohne eigentliche Zote, aber voll gespanntester
Lüsternheit. Man denke an den zweiten Akt der "Schönen Helena." Aber man
vergesse darüber nicht Stellen von so grauenerregender sittlicher Gewalt wie das
Lied der Schauspielerin im "Pariser Leben," welches mitten im tollsten Jubel einer
olmirM-o 8vxg,roö den liWÄöirmiQ schildert, wenn die morgentlichen Gassenkehrer
den hcimturkelnden Nouvs zuschreien: "Seht, da gehn die Lumpen nach Haus!"
Wie dämonisch wahr markirt da die Musik die Accente grinsenden Hohnes!
Aber diese Operettenmusik ist überhaupt noch fern von ihrem heutigen Stand¬
punkte blöder, physiognomieloser Gemeingefälligkeit. Sie ist noch komisch, das
heißt charakteristisch, wenn auch in andrer Weise als die naiv burleske, die ko¬
mischen Grundtypen einfach bezeichnende oder übertreibende Art der großen


Englische Gper in Berlin,

Unsre Operette ist allerdings nicht so gemein, sondern sie ist viel gemeiner.
Sie überkleidet die Gemeinheit mit einem täuschenden Firniß von Chik und
Koketterie; mit der diabolischen Kunst des PaSquillanten geht sie um alles herum,
was ihren gesetzgebenden Körper, das Publikum der oiÄxnIö, verletzen könnte;
ja sie ist Pasquill, nicht Satire, denn ihre Spitze gilt nicht dem offen Anzu¬
greifenden, dem bequemen, schillernden Laster, sondern der Macht, der man nur
versteckt beikommen kann, der schwere», undankbaren Moral. Darum affektirt
die Operette jetzt so gern die Formen des höhern Lustspiels, welches mit seinen
vielfachen poetischen Details viel mehr wagen kann als die von der Musik ein¬
geschränkte, auf grobe Züge angewiesene Operette. Aber in den Maschen einer
verzwickten Handlung geht dann der letzte Nest von anständigem Bewußtsein
unter, den die lärmende, nervös synkopirte, auf ohreumarteruden Vorhalten
und festgehaltenen Durchgangsnoten hingeilende Musik und — die „Phantasie¬
kostüme" der Damen übrig gelassen haben. Die Operette ist offenbar der beste
Boden für die alte Komödie, die ja zur Zeit ihrer Blüte schon einen guten Teil
ihrer Wirkungen aus der Musik zog. Unser modernes Charakterlustspiel hat ganz
andre Aufgaben zu lösen. Aber der unglückliche Stern, der über der Wieder¬
erweckung der dramatischen Musik überhaupt schwebte, hat auch sie verfolgt.
Wie man die ernste Oper einfach zur musikalischen Übersetzung des rezitirendcn
Dramas machte, so wurde aus der komischen nichts weiter als eine musikalische
Verballhornung des Jntriguenlustspiels. Man kann diese Entwicklung in
Deutschland ganz besonders verfolgen, von den ersten Hamburger Vuffonerien
bis auf Lvrtzing. Wer wollte leugnen, daß mit Offenbach ein neuer Geist in
die komische Oper fährt! Ein guter — das dürfte man schwer beweisen können,
aber trotzdem ein richtiger. Hier wird die komische Oper wieder das, wozu sie
ihre Entstehung bestimmt: rücksichtslose Lebensparvdie, drastische Satire. Schade,
daß diese Wiedergeburt, herausgefordert von einer durch und durch verlumpten
Zeit, die Spuren ihrer Umgebung, die Gebrechen ihrer Erzeuger so deutlich um
sich trägt. Wir meinen hiermit die immer wieder überwuchernde spitzbübische
Freude am Schmutz, vor allem die als priapische Konzession fast jedem Stücke
beigegebene Casanovasche Nomanszene ohne eigentliche Zote, aber voll gespanntester
Lüsternheit. Man denke an den zweiten Akt der „Schönen Helena." Aber man
vergesse darüber nicht Stellen von so grauenerregender sittlicher Gewalt wie das
Lied der Schauspielerin im „Pariser Leben," welches mitten im tollsten Jubel einer
olmirM-o 8vxg,roö den liWÄöirmiQ schildert, wenn die morgentlichen Gassenkehrer
den hcimturkelnden Nouvs zuschreien: „Seht, da gehn die Lumpen nach Haus!"
Wie dämonisch wahr markirt da die Musik die Accente grinsenden Hohnes!
Aber diese Operettenmusik ist überhaupt noch fern von ihrem heutigen Stand¬
punkte blöder, physiognomieloser Gemeingefälligkeit. Sie ist noch komisch, das
heißt charakteristisch, wenn auch in andrer Weise als die naiv burleske, die ko¬
mischen Grundtypen einfach bezeichnende oder übertreibende Art der großen


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[0630] Englische Gper in Berlin, Unsre Operette ist allerdings nicht so gemein, sondern sie ist viel gemeiner. Sie überkleidet die Gemeinheit mit einem täuschenden Firniß von Chik und Koketterie; mit der diabolischen Kunst des PaSquillanten geht sie um alles herum, was ihren gesetzgebenden Körper, das Publikum der oiÄxnIö, verletzen könnte; ja sie ist Pasquill, nicht Satire, denn ihre Spitze gilt nicht dem offen Anzu¬ greifenden, dem bequemen, schillernden Laster, sondern der Macht, der man nur versteckt beikommen kann, der schwere», undankbaren Moral. Darum affektirt die Operette jetzt so gern die Formen des höhern Lustspiels, welches mit seinen vielfachen poetischen Details viel mehr wagen kann als die von der Musik ein¬ geschränkte, auf grobe Züge angewiesene Operette. Aber in den Maschen einer verzwickten Handlung geht dann der letzte Nest von anständigem Bewußtsein unter, den die lärmende, nervös synkopirte, auf ohreumarteruden Vorhalten und festgehaltenen Durchgangsnoten hingeilende Musik und — die „Phantasie¬ kostüme" der Damen übrig gelassen haben. Die Operette ist offenbar der beste Boden für die alte Komödie, die ja zur Zeit ihrer Blüte schon einen guten Teil ihrer Wirkungen aus der Musik zog. Unser modernes Charakterlustspiel hat ganz andre Aufgaben zu lösen. Aber der unglückliche Stern, der über der Wieder¬ erweckung der dramatischen Musik überhaupt schwebte, hat auch sie verfolgt. Wie man die ernste Oper einfach zur musikalischen Übersetzung des rezitirendcn Dramas machte, so wurde aus der komischen nichts weiter als eine musikalische Verballhornung des Jntriguenlustspiels. Man kann diese Entwicklung in Deutschland ganz besonders verfolgen, von den ersten Hamburger Vuffonerien bis auf Lvrtzing. Wer wollte leugnen, daß mit Offenbach ein neuer Geist in die komische Oper fährt! Ein guter — das dürfte man schwer beweisen können, aber trotzdem ein richtiger. Hier wird die komische Oper wieder das, wozu sie ihre Entstehung bestimmt: rücksichtslose Lebensparvdie, drastische Satire. Schade, daß diese Wiedergeburt, herausgefordert von einer durch und durch verlumpten Zeit, die Spuren ihrer Umgebung, die Gebrechen ihrer Erzeuger so deutlich um sich trägt. Wir meinen hiermit die immer wieder überwuchernde spitzbübische Freude am Schmutz, vor allem die als priapische Konzession fast jedem Stücke beigegebene Casanovasche Nomanszene ohne eigentliche Zote, aber voll gespanntester Lüsternheit. Man denke an den zweiten Akt der „Schönen Helena." Aber man vergesse darüber nicht Stellen von so grauenerregender sittlicher Gewalt wie das Lied der Schauspielerin im „Pariser Leben," welches mitten im tollsten Jubel einer olmirM-o 8vxg,roö den liWÄöirmiQ schildert, wenn die morgentlichen Gassenkehrer den hcimturkelnden Nouvs zuschreien: „Seht, da gehn die Lumpen nach Haus!" Wie dämonisch wahr markirt da die Musik die Accente grinsenden Hohnes! Aber diese Operettenmusik ist überhaupt noch fern von ihrem heutigen Stand¬ punkte blöder, physiognomieloser Gemeingefälligkeit. Sie ist noch komisch, das heißt charakteristisch, wenn auch in andrer Weise als die naiv burleske, die ko¬ mischen Grundtypen einfach bezeichnende oder übertreibende Art der großen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198065/630>, abgerufen am 25.08.2024.