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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal.

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Musikalische Sünden.

So wahr die Sonne scheinet; Reinecke, Kein Sorg' um den Weg; Reinecke, Ein
Bruder und eine Schwester; Brcihms, Wir Schwestern zwei, wir schönen. Man
vergleiche damit die sämtlichen Mcndelssohnschen Duette, bekanntlich die meist
gesungncn. Nur eins von ihnen, Suleika und Haken, hat einen Wortlaut, der
die Form des Duetts verlangte, die wenigsten sind derart, daß die zweistimmige
Fassung erklärlich ist: aus reiner Laune hat er ihnen diese Gestalt gegeben.

Was ich verlange, ist, daß der Komponist, ehe er den ersten Notenkopf
schreibt, sich in den gesamten Gedanken- und Gefühlsinhalt des Liedes versenke,
die Lage, aus der heraus die Dichterwvrte flössen, sich vor die Seele führe und
mit sorgfältiger Rücksicht hierauf ihre musikalische Gestaltung unternehme. Mir
scheint, es ist das der bekannte Satz: die Technik ist abhängig von dem zu ver¬
arbeitenden Material, nur übertragen auf ein Kunstgebiet, das von solchen Stil¬
gesetzen seither nicht viel hat wissen wollen.

Aber nicht bloß der Komponist hat dem Inhalte des darzustellenden Liedes
genaue Beachtung zu schenken, sondern ebenso auch die vortragenden Sänger
und Sängerinnen. Wie hcivfig dies unterlassen wird, zeigen uns die Konzert¬
programme; namentlich die Sängerinnen, und unter ihnen vorzugsweise wieder
die Altistinnen sind es, die in dieser Beziehung oft sonderbare Zumutungen an
die Konzertbesucher stellen.

Wird wohl je ein Sänger den allbekannten Schumannschen Liederkreis
"Frauenliebe und -Leben" zum Vortrag wählen? Oder sollte es je einem
Tenoristen in den Sinn kommen, Klärchens Lied aus Egmont zu singen: "O
hätt' ich ein Wämslein und Hosen und Hut!" oder auch nur die Schubertschen
Miguvnlieder? Wer in dieser Weise die Natur auf den Kopf stellen wollte,
würde doch mit Recht ausgelacht werden. Aber ist es denn etwas andres, wenn
eine Sängerin Beethovens Liederkreis "An die ferne Geliebte" vorträgt? Nach
einem Konzertbericht aus Würzburg (Musikal. Zentralblatt 1884, Ur. 22) hat
ein Fräulein von Berg die Unerschrockenheit besessen, dies zu thun, aber ähn¬
liches kann man auch in Leipzig und überall in jedem Konzerte erleben!
Natürlich giebt es eine Menge Lieder, die, obschon sie männlichen Empfindungen
Ausdruck geben, im Munde der Frau immerhin deutbar oder erträglich sind.
Aber die eigentlichen Werbelicder, die die Schönheit der Geliebten preisen, ihre
liebe, kleine Hand, ihr goldnes oder rabenschwarzes Lockenhaar, ihr rotes
Mündlein, "die Grübchen in den Wangen, das Grübchen in dem Kinn," das
Beben ihrer weißen Brust, dann die Geständnislieder (Schumann ox. 48. Ur. 1),
die vergeblichen und erfolgreichen Ständchen, die Aufforderungen, sich entführen
zu lassen, ferner jene Siegeslieder der Liebe: Sie ist deine, sie ist dein! -- all
das sollte doch ein zartfühlendes Weib garnicht über die Lippen bringen! Nun
werden manche einwenden: die Sängerin tritt garnicht in ihrer Eigenschaft als
Weib auf, ihre Stimme ist einfach das Instrument zur Darstellung des be¬
treffenden Liedes. Ja, aber kann und will man denn das Geschlecht und das


Musikalische Sünden.

So wahr die Sonne scheinet; Reinecke, Kein Sorg' um den Weg; Reinecke, Ein
Bruder und eine Schwester; Brcihms, Wir Schwestern zwei, wir schönen. Man
vergleiche damit die sämtlichen Mcndelssohnschen Duette, bekanntlich die meist
gesungncn. Nur eins von ihnen, Suleika und Haken, hat einen Wortlaut, der
die Form des Duetts verlangte, die wenigsten sind derart, daß die zweistimmige
Fassung erklärlich ist: aus reiner Laune hat er ihnen diese Gestalt gegeben.

Was ich verlange, ist, daß der Komponist, ehe er den ersten Notenkopf
schreibt, sich in den gesamten Gedanken- und Gefühlsinhalt des Liedes versenke,
die Lage, aus der heraus die Dichterwvrte flössen, sich vor die Seele führe und
mit sorgfältiger Rücksicht hierauf ihre musikalische Gestaltung unternehme. Mir
scheint, es ist das der bekannte Satz: die Technik ist abhängig von dem zu ver¬
arbeitenden Material, nur übertragen auf ein Kunstgebiet, das von solchen Stil¬
gesetzen seither nicht viel hat wissen wollen.

Aber nicht bloß der Komponist hat dem Inhalte des darzustellenden Liedes
genaue Beachtung zu schenken, sondern ebenso auch die vortragenden Sänger
und Sängerinnen. Wie hcivfig dies unterlassen wird, zeigen uns die Konzert¬
programme; namentlich die Sängerinnen, und unter ihnen vorzugsweise wieder
die Altistinnen sind es, die in dieser Beziehung oft sonderbare Zumutungen an
die Konzertbesucher stellen.

Wird wohl je ein Sänger den allbekannten Schumannschen Liederkreis
„Frauenliebe und -Leben" zum Vortrag wählen? Oder sollte es je einem
Tenoristen in den Sinn kommen, Klärchens Lied aus Egmont zu singen: „O
hätt' ich ein Wämslein und Hosen und Hut!" oder auch nur die Schubertschen
Miguvnlieder? Wer in dieser Weise die Natur auf den Kopf stellen wollte,
würde doch mit Recht ausgelacht werden. Aber ist es denn etwas andres, wenn
eine Sängerin Beethovens Liederkreis „An die ferne Geliebte" vorträgt? Nach
einem Konzertbericht aus Würzburg (Musikal. Zentralblatt 1884, Ur. 22) hat
ein Fräulein von Berg die Unerschrockenheit besessen, dies zu thun, aber ähn¬
liches kann man auch in Leipzig und überall in jedem Konzerte erleben!
Natürlich giebt es eine Menge Lieder, die, obschon sie männlichen Empfindungen
Ausdruck geben, im Munde der Frau immerhin deutbar oder erträglich sind.
Aber die eigentlichen Werbelicder, die die Schönheit der Geliebten preisen, ihre
liebe, kleine Hand, ihr goldnes oder rabenschwarzes Lockenhaar, ihr rotes
Mündlein, „die Grübchen in den Wangen, das Grübchen in dem Kinn," das
Beben ihrer weißen Brust, dann die Geständnislieder (Schumann ox. 48. Ur. 1),
die vergeblichen und erfolgreichen Ständchen, die Aufforderungen, sich entführen
zu lassen, ferner jene Siegeslieder der Liebe: Sie ist deine, sie ist dein! — all
das sollte doch ein zartfühlendes Weib garnicht über die Lippen bringen! Nun
werden manche einwenden: die Sängerin tritt garnicht in ihrer Eigenschaft als
Weib auf, ihre Stimme ist einfach das Instrument zur Darstellung des be¬
treffenden Liedes. Ja, aber kann und will man denn das Geschlecht und das


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[0581] Musikalische Sünden. So wahr die Sonne scheinet; Reinecke, Kein Sorg' um den Weg; Reinecke, Ein Bruder und eine Schwester; Brcihms, Wir Schwestern zwei, wir schönen. Man vergleiche damit die sämtlichen Mcndelssohnschen Duette, bekanntlich die meist gesungncn. Nur eins von ihnen, Suleika und Haken, hat einen Wortlaut, der die Form des Duetts verlangte, die wenigsten sind derart, daß die zweistimmige Fassung erklärlich ist: aus reiner Laune hat er ihnen diese Gestalt gegeben. Was ich verlange, ist, daß der Komponist, ehe er den ersten Notenkopf schreibt, sich in den gesamten Gedanken- und Gefühlsinhalt des Liedes versenke, die Lage, aus der heraus die Dichterwvrte flössen, sich vor die Seele führe und mit sorgfältiger Rücksicht hierauf ihre musikalische Gestaltung unternehme. Mir scheint, es ist das der bekannte Satz: die Technik ist abhängig von dem zu ver¬ arbeitenden Material, nur übertragen auf ein Kunstgebiet, das von solchen Stil¬ gesetzen seither nicht viel hat wissen wollen. Aber nicht bloß der Komponist hat dem Inhalte des darzustellenden Liedes genaue Beachtung zu schenken, sondern ebenso auch die vortragenden Sänger und Sängerinnen. Wie hcivfig dies unterlassen wird, zeigen uns die Konzert¬ programme; namentlich die Sängerinnen, und unter ihnen vorzugsweise wieder die Altistinnen sind es, die in dieser Beziehung oft sonderbare Zumutungen an die Konzertbesucher stellen. Wird wohl je ein Sänger den allbekannten Schumannschen Liederkreis „Frauenliebe und -Leben" zum Vortrag wählen? Oder sollte es je einem Tenoristen in den Sinn kommen, Klärchens Lied aus Egmont zu singen: „O hätt' ich ein Wämslein und Hosen und Hut!" oder auch nur die Schubertschen Miguvnlieder? Wer in dieser Weise die Natur auf den Kopf stellen wollte, würde doch mit Recht ausgelacht werden. Aber ist es denn etwas andres, wenn eine Sängerin Beethovens Liederkreis „An die ferne Geliebte" vorträgt? Nach einem Konzertbericht aus Würzburg (Musikal. Zentralblatt 1884, Ur. 22) hat ein Fräulein von Berg die Unerschrockenheit besessen, dies zu thun, aber ähn¬ liches kann man auch in Leipzig und überall in jedem Konzerte erleben! Natürlich giebt es eine Menge Lieder, die, obschon sie männlichen Empfindungen Ausdruck geben, im Munde der Frau immerhin deutbar oder erträglich sind. Aber die eigentlichen Werbelicder, die die Schönheit der Geliebten preisen, ihre liebe, kleine Hand, ihr goldnes oder rabenschwarzes Lockenhaar, ihr rotes Mündlein, „die Grübchen in den Wangen, das Grübchen in dem Kinn," das Beben ihrer weißen Brust, dann die Geständnislieder (Schumann ox. 48. Ur. 1), die vergeblichen und erfolgreichen Ständchen, die Aufforderungen, sich entführen zu lassen, ferner jene Siegeslieder der Liebe: Sie ist deine, sie ist dein! — all das sollte doch ein zartfühlendes Weib garnicht über die Lippen bringen! Nun werden manche einwenden: die Sängerin tritt garnicht in ihrer Eigenschaft als Weib auf, ihre Stimme ist einfach das Instrument zur Darstellung des be¬ treffenden Liedes. Ja, aber kann und will man denn das Geschlecht und das

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198065/581>, abgerufen am 25.07.2024.