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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal.

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Musikalische Sünden.

hübsches Beispiel. Zu einer Dichtung "Thermopylä," komponirt für Soli und
Männerchor mit vier häutiger Klavierbegleitung von Richard Müller, hatte der
Dichter (Theodor Souchay) "auf Wunsch des Komponisten zu dessen musikalischer
Intention" dem Epilog (wörtlich aus dem Programm des Leipziger Universitäts-
gesangvercins Arion vom 29. Januar 1886) folgende Fassung gegeben:


Und so sank sie dahin in das grüne Gras,
Die tapfere Schaar des Leonidas.
Wie ihrs?), so leucht' es auf unserem Schild,
Von wehenden Banner im deutschen Gefild:
Gott schütze dich tior tiefer Not,
Mein Vaterland! Treu dir zum Tod!

Indessen von dichterischen Sünden will ich jetzt nicht reden. Den unerläßlichen
Beweis dafür, daß der Liederkomponist seinen Beruf richtig versteht, liefert
derselbe zuerst dadurch, daß er sich nie und nimmer unterfange, den Dichter
meistern zu wollen.

Die willkürlichsten Abweichungen vom Wortlaute der Gedichte hat sich wohl
Mendelssohn erlaubt. Bekannt ist seine Mißhandlung des Heineschen Textes:


Ich wollt', meine Schmerzen ergossen
Sich all in ein einziges Wort.
Das gNb' ich den lustigen Winden,
Die trügen es lustig fort.

Schon Oskar Blumenthal in der Deutschen Dichterhallc (1873, S. 34) hat ihm
diese Versündigung an dem Dichter vorgerückt und die Musikkritiker auf der¬
artige musikalische Verwäsfcrungcu aufmerksam gemacht -- ohne jeden Erfolg,
wie mich dünkt. Aus Mendelssohn ließen sich die Beispiele häufen: man ver¬
gleiche seine "Herbstklage" von Lenau (Holder Lenz, du bist dahin) und die
rücksichtslose Änderung des tieftraurigen Schlusses (welkes Laub und welkes
Hoffen) in einen vergnügten (neues Laub wie neues Hoffen), ferner das "Nacht¬
lied" von Eichendorff (Vergangen ist der lichte Tag), von dem er zwei Strophen
ans der Mitte gestrichen und außerdem ein Wort geändert hat u. s. w.

Aber Mendelssohn ist nicht der einzige; es giebt vielmehr wenige Ton¬
setzer, die diese" Fehler ganz vermeiden. Das schöne Gebet von Geibel: "Herr,
den ich tief im Herzen trage" ist in der vielgcsungeneu Komposition von Hiller
in unverantwortlicher Weise verballhornt.

Selbst wenn der Grund erkennbar ist, wie in der "Mainacht" von
Brahms (Wann der silberne Mond durch die Gesträuche blinkt), wo der Komponist
von vier Strophen die zweite ausläßt, muß das Verfahren verurteilt werden.
Und sollte sogar ein Kunstwerk ersten Ranges so entstehen, so stört das Be¬
wußtsein des Unrechts, das dem Dichter widerfährt, dem denkenden Hörer den
Genuß, und das Mittel bleibt unter allen Umständen verwerflich. Wie viele
mögen, als sie die "Rhapsodie" von Brahms zum erstenmale hörten, gleich gewußt


Grenzboten II. 18L6. 72
Musikalische Sünden.

hübsches Beispiel. Zu einer Dichtung „Thermopylä," komponirt für Soli und
Männerchor mit vier häutiger Klavierbegleitung von Richard Müller, hatte der
Dichter (Theodor Souchay) „auf Wunsch des Komponisten zu dessen musikalischer
Intention" dem Epilog (wörtlich aus dem Programm des Leipziger Universitäts-
gesangvercins Arion vom 29. Januar 1886) folgende Fassung gegeben:


Und so sank sie dahin in das grüne Gras,
Die tapfere Schaar des Leonidas.
Wie ihrs?), so leucht' es auf unserem Schild,
Von wehenden Banner im deutschen Gefild:
Gott schütze dich tior tiefer Not,
Mein Vaterland! Treu dir zum Tod!

Indessen von dichterischen Sünden will ich jetzt nicht reden. Den unerläßlichen
Beweis dafür, daß der Liederkomponist seinen Beruf richtig versteht, liefert
derselbe zuerst dadurch, daß er sich nie und nimmer unterfange, den Dichter
meistern zu wollen.

Die willkürlichsten Abweichungen vom Wortlaute der Gedichte hat sich wohl
Mendelssohn erlaubt. Bekannt ist seine Mißhandlung des Heineschen Textes:


Ich wollt', meine Schmerzen ergossen
Sich all in ein einziges Wort.
Das gNb' ich den lustigen Winden,
Die trügen es lustig fort.

Schon Oskar Blumenthal in der Deutschen Dichterhallc (1873, S. 34) hat ihm
diese Versündigung an dem Dichter vorgerückt und die Musikkritiker auf der¬
artige musikalische Verwäsfcrungcu aufmerksam gemacht — ohne jeden Erfolg,
wie mich dünkt. Aus Mendelssohn ließen sich die Beispiele häufen: man ver¬
gleiche seine „Herbstklage" von Lenau (Holder Lenz, du bist dahin) und die
rücksichtslose Änderung des tieftraurigen Schlusses (welkes Laub und welkes
Hoffen) in einen vergnügten (neues Laub wie neues Hoffen), ferner das „Nacht¬
lied" von Eichendorff (Vergangen ist der lichte Tag), von dem er zwei Strophen
ans der Mitte gestrichen und außerdem ein Wort geändert hat u. s. w.

Aber Mendelssohn ist nicht der einzige; es giebt vielmehr wenige Ton¬
setzer, die diese» Fehler ganz vermeiden. Das schöne Gebet von Geibel: „Herr,
den ich tief im Herzen trage" ist in der vielgcsungeneu Komposition von Hiller
in unverantwortlicher Weise verballhornt.

Selbst wenn der Grund erkennbar ist, wie in der „Mainacht" von
Brahms (Wann der silberne Mond durch die Gesträuche blinkt), wo der Komponist
von vier Strophen die zweite ausläßt, muß das Verfahren verurteilt werden.
Und sollte sogar ein Kunstwerk ersten Ranges so entstehen, so stört das Be¬
wußtsein des Unrechts, das dem Dichter widerfährt, dem denkenden Hörer den
Genuß, und das Mittel bleibt unter allen Umständen verwerflich. Wie viele
mögen, als sie die „Rhapsodie" von Brahms zum erstenmale hörten, gleich gewußt


Grenzboten II. 18L6. 72
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198065/578>, abgerufen am 25.07.2024.