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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal.

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Die religiöse Maleroi der Gegenwart.

kämpft und das ärmliche Hausgerät und die Figuren umspielt, das ist mit seltener
Meisterschaft dargestellt. Das Anfechtbare liegt in der Wahl der Typen, Wenn
es auch verständlich ist, daß Abbe sich gerade die niedrigste Hütte und eine arme
Familie ausgesucht hat, um einen der Fundamentalsätze der christlichen Lehre
recht eindringlich zur Anschauung zu bringen, so ist doch nicht einzusehen,
weshalb der Künstler gerade die häßlichsten Exemplare des Menschengeschlechtes
am darstellungswürdigsten gefunden hat. Es ist noch keine ausgemachte Sache,
daß Armut und Häßlichkeit immer identisch sind. Das ist ein Schluß, deu die
Naturalisten nur ihrem Programm zuliebe gezogen haben, welches das Häßliche
vor dem Anmutigen und Schönen bevorzugt wissen will, damit seine Bekenner
nicht in Trivialität, in die idealistische Schablone zurückversinken. Wir wollen
wünschen, daß der einseitige Kultus des Häßlichen nur ein Durchgaugsstadinm
der naturalistischen Bewegung kennzeichne und daß man später die Wahrheit
auch auf der Seite des Schönen suchen werde. Kraus und Vareler werden
ihre Genrebilder aus dem deutschen Bauernleben auch über deu Naturalismus
hinaus in die Zukunft retten, obwohl sie nach modernen Begriffen von Jdeali--
sirungssucht und Schönfärberei nicht ganz freizusprechen sind.

Abtes Streben ist, wie erwähnt, darauf gerichtet, den Herrn, der in Knechts¬
gestalt auf Erden wandelte, auch deu "Knechten" in der gegenwärtigen Auffassung
des Wortes, den Mühseligen und Beladnen, den "Enterbten" beizugesellen. Wir
sind weit entfernt, den Künstler sozialistischer Tendenzen zu zeihen. Er muß
uns dann aber auch gestatten, seine rationalistische Deutung der evangelischen
Lehre bis zur äußersten Konsequenz zu treiben. Christus tritt also in die Hütte
des Armen, d. h. der göttliche Mittler, der die Jahrtausende durchwandelt und
überall weilt, wo zwei in seinem Namen versammelt sind. Die Worte des
Evangeliums siud aber vieldeutig. Die Gläubigen können ebensowohl im Palast
wie in der Hütte wohnen, zumal da nach der modernen Lebensanschauung Reichtum
keine Schande ist. Mit demselben Rechte, mit welchem Abbe den Heiland in
die Hütte des Proletariers zum Mittagsmahle ladet, kann ein andrer Maler
die verehrungswürdige Gestalt an die Hochzeitstafel eines Reichen oder zum
Kindtanfsschmaus eines wohlsituirteu Pfahlbürgers bitten, der die Mittel hat,
um sichs was kosten zu lassen, nebenbei aber ein fleißiger Kirchenbesucher und
ehrlicher Christ ist. Wir würden uns einer Blasphemie schuldig machen, wenn
wir diesen Gedanken weiter ausspinnen, wenn wir schildern wollten, wie etwa
Christus in der Darstellung eines vollständig skrupelfreieu Malers der Uhdeschen
Richtung bei dem opulenten Hochzeitsmahle eines Großkaufmanns von befrackten
Hotelkellnern mit Champagner, Eis und Konfekt bedient werden könnte. Die
alten Niederländer und die Venezianer haben ein solches Wagnis in ihrer
himmlischen Naivität oft genug verübt und den Herrn und Heiland der Welt
in ihrer Unbefangenheit an allen guten Dingen teilnehmen lassen, welche der
grundgütige Himmel ihnen selbst bescheert hatte. Der immer schroffer werdende


Die religiöse Maleroi der Gegenwart.

kämpft und das ärmliche Hausgerät und die Figuren umspielt, das ist mit seltener
Meisterschaft dargestellt. Das Anfechtbare liegt in der Wahl der Typen, Wenn
es auch verständlich ist, daß Abbe sich gerade die niedrigste Hütte und eine arme
Familie ausgesucht hat, um einen der Fundamentalsätze der christlichen Lehre
recht eindringlich zur Anschauung zu bringen, so ist doch nicht einzusehen,
weshalb der Künstler gerade die häßlichsten Exemplare des Menschengeschlechtes
am darstellungswürdigsten gefunden hat. Es ist noch keine ausgemachte Sache,
daß Armut und Häßlichkeit immer identisch sind. Das ist ein Schluß, deu die
Naturalisten nur ihrem Programm zuliebe gezogen haben, welches das Häßliche
vor dem Anmutigen und Schönen bevorzugt wissen will, damit seine Bekenner
nicht in Trivialität, in die idealistische Schablone zurückversinken. Wir wollen
wünschen, daß der einseitige Kultus des Häßlichen nur ein Durchgaugsstadinm
der naturalistischen Bewegung kennzeichne und daß man später die Wahrheit
auch auf der Seite des Schönen suchen werde. Kraus und Vareler werden
ihre Genrebilder aus dem deutschen Bauernleben auch über deu Naturalismus
hinaus in die Zukunft retten, obwohl sie nach modernen Begriffen von Jdeali--
sirungssucht und Schönfärberei nicht ganz freizusprechen sind.

Abtes Streben ist, wie erwähnt, darauf gerichtet, den Herrn, der in Knechts¬
gestalt auf Erden wandelte, auch deu „Knechten" in der gegenwärtigen Auffassung
des Wortes, den Mühseligen und Beladnen, den „Enterbten" beizugesellen. Wir
sind weit entfernt, den Künstler sozialistischer Tendenzen zu zeihen. Er muß
uns dann aber auch gestatten, seine rationalistische Deutung der evangelischen
Lehre bis zur äußersten Konsequenz zu treiben. Christus tritt also in die Hütte
des Armen, d. h. der göttliche Mittler, der die Jahrtausende durchwandelt und
überall weilt, wo zwei in seinem Namen versammelt sind. Die Worte des
Evangeliums siud aber vieldeutig. Die Gläubigen können ebensowohl im Palast
wie in der Hütte wohnen, zumal da nach der modernen Lebensanschauung Reichtum
keine Schande ist. Mit demselben Rechte, mit welchem Abbe den Heiland in
die Hütte des Proletariers zum Mittagsmahle ladet, kann ein andrer Maler
die verehrungswürdige Gestalt an die Hochzeitstafel eines Reichen oder zum
Kindtanfsschmaus eines wohlsituirteu Pfahlbürgers bitten, der die Mittel hat,
um sichs was kosten zu lassen, nebenbei aber ein fleißiger Kirchenbesucher und
ehrlicher Christ ist. Wir würden uns einer Blasphemie schuldig machen, wenn
wir diesen Gedanken weiter ausspinnen, wenn wir schildern wollten, wie etwa
Christus in der Darstellung eines vollständig skrupelfreieu Malers der Uhdeschen
Richtung bei dem opulenten Hochzeitsmahle eines Großkaufmanns von befrackten
Hotelkellnern mit Champagner, Eis und Konfekt bedient werden könnte. Die
alten Niederländer und die Venezianer haben ein solches Wagnis in ihrer
himmlischen Naivität oft genug verübt und den Herrn und Heiland der Welt
in ihrer Unbefangenheit an allen guten Dingen teilnehmen lassen, welche der
grundgütige Himmel ihnen selbst bescheert hatte. Der immer schroffer werdende


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198065/572>, abgerufen am 24.07.2024.