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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal.

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Die Wohnungsnot der ärmern Klassen in deutschen Großstädten.

Wohnungsverhältnissen seinen Ausdruck findet, liegt in der Natur der Sache.
Wären wir noch einmal so reich, so könnten wir auch bessere Wohnungen haben.
Die Verhältnisse würden aber in den Großstädten doch nicht so schlimm ge¬
worden sein, wenn nicht die Freizügigkeit hinzugekommen wäre. Wir sind weit
entfernt, diese etwa bekämpfen zu wollen. Wir halten sie im Prinzip für not¬
wendig und auch für wohlthätig. Aber der aus ihr hervorgegangen" Zudrang
nach den großen Städten, der einerseits das Platte Land entvölkert, anderseits
den in der Stadt wohnenden das Leben immer schwerer macht, ist die schlimme
Kehrseite der Sache.

Prüfen wir nun, ob und welche Mittel denkbar seien, um den Leiden der
Wohnungsnot abzuhelfen. Wir werden bei dieser Prüfung vorzugsweise die
von I)r. Miauet gemachten Vorschläge ins Auge fassen.

Es wird zunächst vorgeschlagen, das Recht des Mietvertrages teilweise um¬
zugestalten. Höchst tadelnd spricht sich Miquel (und auch Dr. Flesch) darüber
aus, daß die Gerichte neuerdings dem Vermieter gestatten, wegen rückständigen
Mietzinses beim Abzug des Mieters selbst die unentbehrlichsten Mobilien des
letzter", welche der gerichtlichen Pfändung entzogen sind, zurückzuhalten. Dadurch
werde der arme Mann ganz nackt auf die Straße gesetzt, und in der Regel sei
die Armenverwaltung genötigt, jene Mobilien beim Vermieter für ihn aus¬
zulösen. Wir teilen vollkommen die Mißbilligung dieser gerichtlichen Praxis.
Es verhält sich mit dieser Lehre folgendermaßen. In einem Erkenntnis von
1871 hatte das Oberappellativnsgericht zu Berlin ausgesprochen, daß diejenigen
Mobilien, welche gesetzlich der Pfändung entzogen seien, wegen des hierin sich
aussprechenden öffentlichen Interesses auch nicht dein Nttckbehaltungsrecht des
Vermieters unterworfen werden könnten. Die höhere Weisheit des Reichs¬
gerichts -- freilich nur eines Strafsenats desselben -- hat aber diesen Grundsatz
mißbilligt, und daraus erklärt sich wohl jene neuere Gerichtspraxis.") Ein
Gesetz, welches in dieser Beziehung Abhilfe brächte, wäre gewiß wünschens¬
wert. Außerdem könnte man vielleicht eine Anordnung dahin treffen, daß durch
Mietverträge der Arbeiter nicht über eine gewisse Zeit hinaus gebunden werden
kann. Viel würde damit freilich nicht erreicht werden.

Andre Abänderungen in dem Rechte des Mietvertrages zu treffen, halten
wir für bedenklich. Es mag ja sein, daß öfters Vermieter ihre Verpflichtungen
gegen die Mieter gröblich hintansetzen. Aber die Sache ist schwer kontrolirbar.
Und welche über das bestehende Recht hinausgehenden Mittel der Abhilfe lassen
sich dafür denken? Namentlich können wir dem von Miquel angeregten Ge¬
danken, die Ausbedingung eines übermäßige" Mietzinses uach Analogie des
Geldwuchers zu behandeln, nicht beistimmen. Das Wuchergesetz von 1880 war



*) Die sich gegenüberstehenden Entscheidungen sind mitgeteilt in Fenner und Mecke,
Zivilrechtliche Entscheidungen, Bd. 3 S. 31, und Entscheidungen des Reichsgerichts in Straf¬
sachen, Bd. 4 S. 201.
Die Wohnungsnot der ärmern Klassen in deutschen Großstädten.

Wohnungsverhältnissen seinen Ausdruck findet, liegt in der Natur der Sache.
Wären wir noch einmal so reich, so könnten wir auch bessere Wohnungen haben.
Die Verhältnisse würden aber in den Großstädten doch nicht so schlimm ge¬
worden sein, wenn nicht die Freizügigkeit hinzugekommen wäre. Wir sind weit
entfernt, diese etwa bekämpfen zu wollen. Wir halten sie im Prinzip für not¬
wendig und auch für wohlthätig. Aber der aus ihr hervorgegangen« Zudrang
nach den großen Städten, der einerseits das Platte Land entvölkert, anderseits
den in der Stadt wohnenden das Leben immer schwerer macht, ist die schlimme
Kehrseite der Sache.

Prüfen wir nun, ob und welche Mittel denkbar seien, um den Leiden der
Wohnungsnot abzuhelfen. Wir werden bei dieser Prüfung vorzugsweise die
von I)r. Miauet gemachten Vorschläge ins Auge fassen.

Es wird zunächst vorgeschlagen, das Recht des Mietvertrages teilweise um¬
zugestalten. Höchst tadelnd spricht sich Miquel (und auch Dr. Flesch) darüber
aus, daß die Gerichte neuerdings dem Vermieter gestatten, wegen rückständigen
Mietzinses beim Abzug des Mieters selbst die unentbehrlichsten Mobilien des
letzter», welche der gerichtlichen Pfändung entzogen sind, zurückzuhalten. Dadurch
werde der arme Mann ganz nackt auf die Straße gesetzt, und in der Regel sei
die Armenverwaltung genötigt, jene Mobilien beim Vermieter für ihn aus¬
zulösen. Wir teilen vollkommen die Mißbilligung dieser gerichtlichen Praxis.
Es verhält sich mit dieser Lehre folgendermaßen. In einem Erkenntnis von
1871 hatte das Oberappellativnsgericht zu Berlin ausgesprochen, daß diejenigen
Mobilien, welche gesetzlich der Pfändung entzogen seien, wegen des hierin sich
aussprechenden öffentlichen Interesses auch nicht dein Nttckbehaltungsrecht des
Vermieters unterworfen werden könnten. Die höhere Weisheit des Reichs¬
gerichts — freilich nur eines Strafsenats desselben — hat aber diesen Grundsatz
mißbilligt, und daraus erklärt sich wohl jene neuere Gerichtspraxis.") Ein
Gesetz, welches in dieser Beziehung Abhilfe brächte, wäre gewiß wünschens¬
wert. Außerdem könnte man vielleicht eine Anordnung dahin treffen, daß durch
Mietverträge der Arbeiter nicht über eine gewisse Zeit hinaus gebunden werden
kann. Viel würde damit freilich nicht erreicht werden.

Andre Abänderungen in dem Rechte des Mietvertrages zu treffen, halten
wir für bedenklich. Es mag ja sein, daß öfters Vermieter ihre Verpflichtungen
gegen die Mieter gröblich hintansetzen. Aber die Sache ist schwer kontrolirbar.
Und welche über das bestehende Recht hinausgehenden Mittel der Abhilfe lassen
sich dafür denken? Namentlich können wir dem von Miquel angeregten Ge¬
danken, die Ausbedingung eines übermäßige» Mietzinses uach Analogie des
Geldwuchers zu behandeln, nicht beistimmen. Das Wuchergesetz von 1880 war



*) Die sich gegenüberstehenden Entscheidungen sind mitgeteilt in Fenner und Mecke,
Zivilrechtliche Entscheidungen, Bd. 3 S. 31, und Entscheidungen des Reichsgerichts in Straf¬
sachen, Bd. 4 S. 201.
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[0520] Die Wohnungsnot der ärmern Klassen in deutschen Großstädten. Wohnungsverhältnissen seinen Ausdruck findet, liegt in der Natur der Sache. Wären wir noch einmal so reich, so könnten wir auch bessere Wohnungen haben. Die Verhältnisse würden aber in den Großstädten doch nicht so schlimm ge¬ worden sein, wenn nicht die Freizügigkeit hinzugekommen wäre. Wir sind weit entfernt, diese etwa bekämpfen zu wollen. Wir halten sie im Prinzip für not¬ wendig und auch für wohlthätig. Aber der aus ihr hervorgegangen« Zudrang nach den großen Städten, der einerseits das Platte Land entvölkert, anderseits den in der Stadt wohnenden das Leben immer schwerer macht, ist die schlimme Kehrseite der Sache. Prüfen wir nun, ob und welche Mittel denkbar seien, um den Leiden der Wohnungsnot abzuhelfen. Wir werden bei dieser Prüfung vorzugsweise die von I)r. Miauet gemachten Vorschläge ins Auge fassen. Es wird zunächst vorgeschlagen, das Recht des Mietvertrages teilweise um¬ zugestalten. Höchst tadelnd spricht sich Miquel (und auch Dr. Flesch) darüber aus, daß die Gerichte neuerdings dem Vermieter gestatten, wegen rückständigen Mietzinses beim Abzug des Mieters selbst die unentbehrlichsten Mobilien des letzter», welche der gerichtlichen Pfändung entzogen sind, zurückzuhalten. Dadurch werde der arme Mann ganz nackt auf die Straße gesetzt, und in der Regel sei die Armenverwaltung genötigt, jene Mobilien beim Vermieter für ihn aus¬ zulösen. Wir teilen vollkommen die Mißbilligung dieser gerichtlichen Praxis. Es verhält sich mit dieser Lehre folgendermaßen. In einem Erkenntnis von 1871 hatte das Oberappellativnsgericht zu Berlin ausgesprochen, daß diejenigen Mobilien, welche gesetzlich der Pfändung entzogen seien, wegen des hierin sich aussprechenden öffentlichen Interesses auch nicht dein Nttckbehaltungsrecht des Vermieters unterworfen werden könnten. Die höhere Weisheit des Reichs¬ gerichts — freilich nur eines Strafsenats desselben — hat aber diesen Grundsatz mißbilligt, und daraus erklärt sich wohl jene neuere Gerichtspraxis.") Ein Gesetz, welches in dieser Beziehung Abhilfe brächte, wäre gewiß wünschens¬ wert. Außerdem könnte man vielleicht eine Anordnung dahin treffen, daß durch Mietverträge der Arbeiter nicht über eine gewisse Zeit hinaus gebunden werden kann. Viel würde damit freilich nicht erreicht werden. Andre Abänderungen in dem Rechte des Mietvertrages zu treffen, halten wir für bedenklich. Es mag ja sein, daß öfters Vermieter ihre Verpflichtungen gegen die Mieter gröblich hintansetzen. Aber die Sache ist schwer kontrolirbar. Und welche über das bestehende Recht hinausgehenden Mittel der Abhilfe lassen sich dafür denken? Namentlich können wir dem von Miquel angeregten Ge¬ danken, die Ausbedingung eines übermäßige» Mietzinses uach Analogie des Geldwuchers zu behandeln, nicht beistimmen. Das Wuchergesetz von 1880 war *) Die sich gegenüberstehenden Entscheidungen sind mitgeteilt in Fenner und Mecke, Zivilrechtliche Entscheidungen, Bd. 3 S. 31, und Entscheidungen des Reichsgerichts in Straf¬ sachen, Bd. 4 S. 201.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198065/520>, abgerufen am 24.07.2024.