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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal.

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Tutherspiele in Erfurt und Jena.

durch einige wenige Gestalten wirkt nahezu komisch, jedenfalls dürftig und
drückend, das lebendige Auftreten einer großen Schaar von bilderstürmerischen
Bürgern und wildgewordnen Bauern ist schon ein Eingehen auf die Massen-
darstellnng und Massenbewegung, der einesteils Hcrrigs Festspiel und andernteils
die Erfurter Darstellung desselben so ängstlich ausweichen. Hier ist ein
Schwanken im künstlerischen Prinzip unverkennbar und hier der einzige Punkt,
in welchem wir dem Lutherspiel von Jena einen gewissen Vorzug zusprechen
möchten. Beim Vergleich des poetischen Gehalts der beiden in Erfurt und
Jena benutzten Dichtungen steht die Herrigschc sehr viel höher als die Devrientschc,
die lyrische Unmittelbarkeit, die subjektive Wahrheit der erstgenannten Dichtung
wird ihres Eindrucks nicht verfehlen und, wie schon gesagt, in einzelnen, besonders
gehobnen Teilen des Festspiels die tiefste, über den bloßen theatralischen Effekt
hinausreichende Wirkung hinterlassen. Sie ist frei von jenem rein schau¬
spielerischen Pathos, welches in gewissen Szenen des Jenenser Lntherspicls bei
Lektüre und Darstellung fast verletzend hervortrat.

Anders hingegen steht es um die Darstellung. Daß das Bürgerschauspiel
in Jena auf die einmal geltenden und gewohnten Hilfsmittel der theatralischen
Vorführung, auf Dekoration, auf die den Bühnenrahmen füllende Massenmit¬
wirkung nicht verzichtet, sichert ihm den Charakter oder vielmehr den Schein
der Naivität und Unmittelbarkeit, verhilft den großen Szenen desselben (namentlich
der Neichstagsszene) zu einem mächtigen Gesamteindruck, rückt das Ganze nicht
in das Licht des künstlerische" Experiments. Es mag sein, daß die Anlage
der Herrigschen Dichtung aus der Bezeichnung und der ursprünglichen Bestimmung
als "kirchliches" Festspiel hervorgegangen war; das würde aber nur beweisen,
wie schwierig es ist, eine Form zu schaffen oder neu zu beleben, welche dem
künstlerischen und geistigen Bewußtsein der Gegenwart einmal fremd geworden
ist. Wir sind der Meinung, daß ein Bürgerschanspiel, welches die Vorzüge
beider Lutherspiele, des Worms-Erfurtischeu und des Jenensischen, vereinigte, das
Rechte sein müßte. Als allgemeines Ergebnis aber dünkt uns unzweifelhaft,
daß, je stärker, unbedingter Dichtungen und Darstellungen dieser besondern Art
vom Geiste des heutigen "realen" Theaters abweichen müssen, umso rätlicher
die deutbar geringste Abweichung von der Darstelluugspraxis und den äußern
Hilfsmitteln des Theaters (sinnloser Prunk und Ansstattungsblödsinn verbieten
sich ja von selbst!) sein dürfte. Über das mögliche Wachstum der Keime, welche
uus in den Luthcrspieleu begegnen, wird sich erst urteilen lassen, wenn einige
mehr derselben vorhanden sind, wenn sich herausgestellt haben wird, ob wirklich
ein allgemeineres Bedürfnis oder die bloße Gunst zufälliger lokaler Umstände
sie gezeitigt hat. Einstweilen ist es Lob genug, daß sie zu ernstem Nachdenken
und ernster Besprechung überhaupt Anlaß geben, jedenfalls ist es mehr, als
sich von der Masse der theatralischen Tageserscheinungen sagen läßt.




Tutherspiele in Erfurt und Jena.

durch einige wenige Gestalten wirkt nahezu komisch, jedenfalls dürftig und
drückend, das lebendige Auftreten einer großen Schaar von bilderstürmerischen
Bürgern und wildgewordnen Bauern ist schon ein Eingehen auf die Massen-
darstellnng und Massenbewegung, der einesteils Hcrrigs Festspiel und andernteils
die Erfurter Darstellung desselben so ängstlich ausweichen. Hier ist ein
Schwanken im künstlerischen Prinzip unverkennbar und hier der einzige Punkt,
in welchem wir dem Lutherspiel von Jena einen gewissen Vorzug zusprechen
möchten. Beim Vergleich des poetischen Gehalts der beiden in Erfurt und
Jena benutzten Dichtungen steht die Herrigschc sehr viel höher als die Devrientschc,
die lyrische Unmittelbarkeit, die subjektive Wahrheit der erstgenannten Dichtung
wird ihres Eindrucks nicht verfehlen und, wie schon gesagt, in einzelnen, besonders
gehobnen Teilen des Festspiels die tiefste, über den bloßen theatralischen Effekt
hinausreichende Wirkung hinterlassen. Sie ist frei von jenem rein schau¬
spielerischen Pathos, welches in gewissen Szenen des Jenenser Lntherspicls bei
Lektüre und Darstellung fast verletzend hervortrat.

Anders hingegen steht es um die Darstellung. Daß das Bürgerschauspiel
in Jena auf die einmal geltenden und gewohnten Hilfsmittel der theatralischen
Vorführung, auf Dekoration, auf die den Bühnenrahmen füllende Massenmit¬
wirkung nicht verzichtet, sichert ihm den Charakter oder vielmehr den Schein
der Naivität und Unmittelbarkeit, verhilft den großen Szenen desselben (namentlich
der Neichstagsszene) zu einem mächtigen Gesamteindruck, rückt das Ganze nicht
in das Licht des künstlerische» Experiments. Es mag sein, daß die Anlage
der Herrigschen Dichtung aus der Bezeichnung und der ursprünglichen Bestimmung
als „kirchliches" Festspiel hervorgegangen war; das würde aber nur beweisen,
wie schwierig es ist, eine Form zu schaffen oder neu zu beleben, welche dem
künstlerischen und geistigen Bewußtsein der Gegenwart einmal fremd geworden
ist. Wir sind der Meinung, daß ein Bürgerschanspiel, welches die Vorzüge
beider Lutherspiele, des Worms-Erfurtischeu und des Jenensischen, vereinigte, das
Rechte sein müßte. Als allgemeines Ergebnis aber dünkt uns unzweifelhaft,
daß, je stärker, unbedingter Dichtungen und Darstellungen dieser besondern Art
vom Geiste des heutigen „realen" Theaters abweichen müssen, umso rätlicher
die deutbar geringste Abweichung von der Darstelluugspraxis und den äußern
Hilfsmitteln des Theaters (sinnloser Prunk und Ansstattungsblödsinn verbieten
sich ja von selbst!) sein dürfte. Über das mögliche Wachstum der Keime, welche
uus in den Luthcrspieleu begegnen, wird sich erst urteilen lassen, wenn einige
mehr derselben vorhanden sind, wenn sich herausgestellt haben wird, ob wirklich
ein allgemeineres Bedürfnis oder die bloße Gunst zufälliger lokaler Umstände
sie gezeitigt hat. Einstweilen ist es Lob genug, daß sie zu ernstem Nachdenken
und ernster Besprechung überhaupt Anlaß geben, jedenfalls ist es mehr, als
sich von der Masse der theatralischen Tageserscheinungen sagen läßt.




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[0485] Tutherspiele in Erfurt und Jena. durch einige wenige Gestalten wirkt nahezu komisch, jedenfalls dürftig und drückend, das lebendige Auftreten einer großen Schaar von bilderstürmerischen Bürgern und wildgewordnen Bauern ist schon ein Eingehen auf die Massen- darstellnng und Massenbewegung, der einesteils Hcrrigs Festspiel und andernteils die Erfurter Darstellung desselben so ängstlich ausweichen. Hier ist ein Schwanken im künstlerischen Prinzip unverkennbar und hier der einzige Punkt, in welchem wir dem Lutherspiel von Jena einen gewissen Vorzug zusprechen möchten. Beim Vergleich des poetischen Gehalts der beiden in Erfurt und Jena benutzten Dichtungen steht die Herrigschc sehr viel höher als die Devrientschc, die lyrische Unmittelbarkeit, die subjektive Wahrheit der erstgenannten Dichtung wird ihres Eindrucks nicht verfehlen und, wie schon gesagt, in einzelnen, besonders gehobnen Teilen des Festspiels die tiefste, über den bloßen theatralischen Effekt hinausreichende Wirkung hinterlassen. Sie ist frei von jenem rein schau¬ spielerischen Pathos, welches in gewissen Szenen des Jenenser Lntherspicls bei Lektüre und Darstellung fast verletzend hervortrat. Anders hingegen steht es um die Darstellung. Daß das Bürgerschauspiel in Jena auf die einmal geltenden und gewohnten Hilfsmittel der theatralischen Vorführung, auf Dekoration, auf die den Bühnenrahmen füllende Massenmit¬ wirkung nicht verzichtet, sichert ihm den Charakter oder vielmehr den Schein der Naivität und Unmittelbarkeit, verhilft den großen Szenen desselben (namentlich der Neichstagsszene) zu einem mächtigen Gesamteindruck, rückt das Ganze nicht in das Licht des künstlerische» Experiments. Es mag sein, daß die Anlage der Herrigschen Dichtung aus der Bezeichnung und der ursprünglichen Bestimmung als „kirchliches" Festspiel hervorgegangen war; das würde aber nur beweisen, wie schwierig es ist, eine Form zu schaffen oder neu zu beleben, welche dem künstlerischen und geistigen Bewußtsein der Gegenwart einmal fremd geworden ist. Wir sind der Meinung, daß ein Bürgerschanspiel, welches die Vorzüge beider Lutherspiele, des Worms-Erfurtischeu und des Jenensischen, vereinigte, das Rechte sein müßte. Als allgemeines Ergebnis aber dünkt uns unzweifelhaft, daß, je stärker, unbedingter Dichtungen und Darstellungen dieser besondern Art vom Geiste des heutigen „realen" Theaters abweichen müssen, umso rätlicher die deutbar geringste Abweichung von der Darstelluugspraxis und den äußern Hilfsmitteln des Theaters (sinnloser Prunk und Ansstattungsblödsinn verbieten sich ja von selbst!) sein dürfte. Über das mögliche Wachstum der Keime, welche uus in den Luthcrspieleu begegnen, wird sich erst urteilen lassen, wenn einige mehr derselben vorhanden sind, wenn sich herausgestellt haben wird, ob wirklich ein allgemeineres Bedürfnis oder die bloße Gunst zufälliger lokaler Umstände sie gezeitigt hat. Einstweilen ist es Lob genug, daß sie zu ernstem Nachdenken und ernster Besprechung überhaupt Anlaß geben, jedenfalls ist es mehr, als sich von der Masse der theatralischen Tageserscheinungen sagen läßt.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198065/485>, abgerufen am 24.07.2024.