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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal.

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Die religiöse Malerei der Gegenwart.

giöse Malerei gewissermaßen in Erbpacht genommen hatte und jede andre Auf¬
fassung als die ihrige mit tyrannischer Gewalt unterdrückte. Nachdem ihre
Vertreter einer nach dem andern ins Grab gesunken, ist dieses Gebiet wieder
frei geworden, und aller Orten regen sich die Geister, nicht um neuen Most in
alte Schläuche zu füllen, sondern um ebenso radikal mit der Tradition zu
brechen, wie es ihre Vorläufer auf dem Felde der historische" Forschung, die
Mitglieder der Tübinger Schule, Strauß und Renan gethan hatten.

Die Wege, auf denen die Malerei zu einer realistischen Behandlung reli¬
giöser Motive gelaugt ist, sind verschiedenartige, zum Teil gänzlich neue, zum
Teil aber auch solche, welche nur Jahrhunderte lang verschüttet gewesen waren.
Die Wahrnehmung, daß die Sitten, die Lebensweise, die Trachten und das
Hausgerät der heutigen Araber, der Bewohner von Nordafrika, Syrien, Palä¬
stina und Kleinasien sich aus uralten Zeiten in fast unverfälschter Ursprüng-
lichkeit bis ans die Gegenwart erhalte" haben, ist fast zu gleicher Zeit von zwei
Franzosen, von Eugen Delacroix und Horace Vernet, gemacht worden. Beide haben
aber uicht die äußersten Konsequenzen aus ihrer Wahrnehmung gezogen. Dela-
croix war z" sehr Idealist, zu sehr Dichter der Farbe und der Stimmung, zu
sehr Dramatiker, um seiue Zeit an der peinlichen Nachbildung ethnographischer
Details, archäologischen Kleinkrams zu verlieren. Vernet war eine viel zu ober¬
flächliche Natur, um sich lange mit der Lösung eines Problems abzuquälen,
auch wenn er es im Anfange mit größter Leidenschaft erfaßt hatte. Aber das
Beispiel dieser beiden berühmten Männer war doch so mächtig, daß ein großer
Teil der französischen Schule die konventionelle Behandlung religiöser Stoffe in
der Art von Ingres und Hippolyte Flandrin aufgab und die Farbenpracht
des gegenwärtige" Orients in die biblischen Darstellungen hineinspielen ließ. Die
Franzosen eigneten sich dabei vorzugsweise das romantische Element des Orients
um und umgaben namentlich den Mittelpunkt jeuer Darstellungen, die Gestalt
Jesu Christi, mit jenem Scheine dichterischer Verklärung, welche ihr Ernest Rena"
übrig gelassen, nachdem er sie der göttlichen Herkunft beraubt hatte.

Ein beträchtlicher Schritt weiter auf diesem Wege historischer Rückbildung
wurde hoben" durch deutsche Künstler gethan. Wir wollen dabei auf eine Arbeit
von Menzel, der im Jahre 1851 den zwölfjährigen Jesus im Tempel unter
den Schriftgelehrten in historisch-realistischer Auffassung, zum allgemeinen Ent¬
setzen der meisten seiner Zeitgenossen, darstellte, nicht näher eingehe", weil diese
Arbeit vereinzelt geblieben ist und, soweit sich erkennen läßt, auch keinen Ein¬
fluß auf andre geübt hat. Von größerer Bedeutung ist erst das Vorgehen des
Düsseldorfers Eduard von Gebhardt geworden, welcher seit der Mitte der sech¬
ziger Jahre das damals noch große und folgenschwere Wagnis unternahm, an
dem abstrakten Idealismus der corueliauischeu Schule Kritik zu üben. Er knüpfte
da an, wo die nationale Entwicklung der germanischen Kunst einen Bruch erlitte"
hatte, an die Kunst des fünfzehnten und sechzehnten Jahrhunderts, und stellte die


Die religiöse Malerei der Gegenwart.

giöse Malerei gewissermaßen in Erbpacht genommen hatte und jede andre Auf¬
fassung als die ihrige mit tyrannischer Gewalt unterdrückte. Nachdem ihre
Vertreter einer nach dem andern ins Grab gesunken, ist dieses Gebiet wieder
frei geworden, und aller Orten regen sich die Geister, nicht um neuen Most in
alte Schläuche zu füllen, sondern um ebenso radikal mit der Tradition zu
brechen, wie es ihre Vorläufer auf dem Felde der historische» Forschung, die
Mitglieder der Tübinger Schule, Strauß und Renan gethan hatten.

Die Wege, auf denen die Malerei zu einer realistischen Behandlung reli¬
giöser Motive gelaugt ist, sind verschiedenartige, zum Teil gänzlich neue, zum
Teil aber auch solche, welche nur Jahrhunderte lang verschüttet gewesen waren.
Die Wahrnehmung, daß die Sitten, die Lebensweise, die Trachten und das
Hausgerät der heutigen Araber, der Bewohner von Nordafrika, Syrien, Palä¬
stina und Kleinasien sich aus uralten Zeiten in fast unverfälschter Ursprüng-
lichkeit bis ans die Gegenwart erhalte» haben, ist fast zu gleicher Zeit von zwei
Franzosen, von Eugen Delacroix und Horace Vernet, gemacht worden. Beide haben
aber uicht die äußersten Konsequenzen aus ihrer Wahrnehmung gezogen. Dela-
croix war z» sehr Idealist, zu sehr Dichter der Farbe und der Stimmung, zu
sehr Dramatiker, um seiue Zeit an der peinlichen Nachbildung ethnographischer
Details, archäologischen Kleinkrams zu verlieren. Vernet war eine viel zu ober¬
flächliche Natur, um sich lange mit der Lösung eines Problems abzuquälen,
auch wenn er es im Anfange mit größter Leidenschaft erfaßt hatte. Aber das
Beispiel dieser beiden berühmten Männer war doch so mächtig, daß ein großer
Teil der französischen Schule die konventionelle Behandlung religiöser Stoffe in
der Art von Ingres und Hippolyte Flandrin aufgab und die Farbenpracht
des gegenwärtige» Orients in die biblischen Darstellungen hineinspielen ließ. Die
Franzosen eigneten sich dabei vorzugsweise das romantische Element des Orients
um und umgaben namentlich den Mittelpunkt jeuer Darstellungen, die Gestalt
Jesu Christi, mit jenem Scheine dichterischer Verklärung, welche ihr Ernest Rena»
übrig gelassen, nachdem er sie der göttlichen Herkunft beraubt hatte.

Ein beträchtlicher Schritt weiter auf diesem Wege historischer Rückbildung
wurde hoben» durch deutsche Künstler gethan. Wir wollen dabei auf eine Arbeit
von Menzel, der im Jahre 1851 den zwölfjährigen Jesus im Tempel unter
den Schriftgelehrten in historisch-realistischer Auffassung, zum allgemeinen Ent¬
setzen der meisten seiner Zeitgenossen, darstellte, nicht näher eingehe», weil diese
Arbeit vereinzelt geblieben ist und, soweit sich erkennen läßt, auch keinen Ein¬
fluß auf andre geübt hat. Von größerer Bedeutung ist erst das Vorgehen des
Düsseldorfers Eduard von Gebhardt geworden, welcher seit der Mitte der sech¬
ziger Jahre das damals noch große und folgenschwere Wagnis unternahm, an
dem abstrakten Idealismus der corueliauischeu Schule Kritik zu üben. Er knüpfte
da an, wo die nationale Entwicklung der germanischen Kunst einen Bruch erlitte»
hatte, an die Kunst des fünfzehnten und sechzehnten Jahrhunderts, und stellte die


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[0472] Die religiöse Malerei der Gegenwart. giöse Malerei gewissermaßen in Erbpacht genommen hatte und jede andre Auf¬ fassung als die ihrige mit tyrannischer Gewalt unterdrückte. Nachdem ihre Vertreter einer nach dem andern ins Grab gesunken, ist dieses Gebiet wieder frei geworden, und aller Orten regen sich die Geister, nicht um neuen Most in alte Schläuche zu füllen, sondern um ebenso radikal mit der Tradition zu brechen, wie es ihre Vorläufer auf dem Felde der historische» Forschung, die Mitglieder der Tübinger Schule, Strauß und Renan gethan hatten. Die Wege, auf denen die Malerei zu einer realistischen Behandlung reli¬ giöser Motive gelaugt ist, sind verschiedenartige, zum Teil gänzlich neue, zum Teil aber auch solche, welche nur Jahrhunderte lang verschüttet gewesen waren. Die Wahrnehmung, daß die Sitten, die Lebensweise, die Trachten und das Hausgerät der heutigen Araber, der Bewohner von Nordafrika, Syrien, Palä¬ stina und Kleinasien sich aus uralten Zeiten in fast unverfälschter Ursprüng- lichkeit bis ans die Gegenwart erhalte» haben, ist fast zu gleicher Zeit von zwei Franzosen, von Eugen Delacroix und Horace Vernet, gemacht worden. Beide haben aber uicht die äußersten Konsequenzen aus ihrer Wahrnehmung gezogen. Dela- croix war z» sehr Idealist, zu sehr Dichter der Farbe und der Stimmung, zu sehr Dramatiker, um seiue Zeit an der peinlichen Nachbildung ethnographischer Details, archäologischen Kleinkrams zu verlieren. Vernet war eine viel zu ober¬ flächliche Natur, um sich lange mit der Lösung eines Problems abzuquälen, auch wenn er es im Anfange mit größter Leidenschaft erfaßt hatte. Aber das Beispiel dieser beiden berühmten Männer war doch so mächtig, daß ein großer Teil der französischen Schule die konventionelle Behandlung religiöser Stoffe in der Art von Ingres und Hippolyte Flandrin aufgab und die Farbenpracht des gegenwärtige» Orients in die biblischen Darstellungen hineinspielen ließ. Die Franzosen eigneten sich dabei vorzugsweise das romantische Element des Orients um und umgaben namentlich den Mittelpunkt jeuer Darstellungen, die Gestalt Jesu Christi, mit jenem Scheine dichterischer Verklärung, welche ihr Ernest Rena» übrig gelassen, nachdem er sie der göttlichen Herkunft beraubt hatte. Ein beträchtlicher Schritt weiter auf diesem Wege historischer Rückbildung wurde hoben» durch deutsche Künstler gethan. Wir wollen dabei auf eine Arbeit von Menzel, der im Jahre 1851 den zwölfjährigen Jesus im Tempel unter den Schriftgelehrten in historisch-realistischer Auffassung, zum allgemeinen Ent¬ setzen der meisten seiner Zeitgenossen, darstellte, nicht näher eingehe», weil diese Arbeit vereinzelt geblieben ist und, soweit sich erkennen läßt, auch keinen Ein¬ fluß auf andre geübt hat. Von größerer Bedeutung ist erst das Vorgehen des Düsseldorfers Eduard von Gebhardt geworden, welcher seit der Mitte der sech¬ ziger Jahre das damals noch große und folgenschwere Wagnis unternahm, an dem abstrakten Idealismus der corueliauischeu Schule Kritik zu üben. Er knüpfte da an, wo die nationale Entwicklung der germanischen Kunst einen Bruch erlitte» hatte, an die Kunst des fünfzehnten und sechzehnten Jahrhunderts, und stellte die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198065/472>, abgerufen am 28.12.2024.