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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal.

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Der Ucnnpf der deutschen Nationalität mit fremden Kulturen.

Nicht nur auf die Schule, auch auf die Literatur hat der Neuhumanismus
einen großen Einfluß ausgeübt. Die Weimarer Klassicität ist von ihr durch¬
drungen. Wieland, Herder, Goethe, Schiller und ihre Freunde, wie Wilhelm
von Humboldt, wurden von der neuhumanistischen Verherrlichung der Griechen
stark beeinflußt. Bei Goethe und Schiller ist dies umso merkwürdiger, als
Goethe erst spät das Griechische erlernte und ernsten philologischen Studie"
überhaupt nicht hold war, Schiller aber, von kärglichen Anfängen auf der
Karlsschule abgesehen, dieser Sprache nie mächtig wurde. Es war also der In¬
halt der griechischen Klassiker, wie er in Übersetzungen vorlag, der Reiz der
griechischen Kunstwerke, vielleicht auch ein ideales Gesamtbild vom griechischen
Leben, was unsre großen Dichter anzog. Man ersieht daraus, daß Übersetzungen
uicht weniger stark wirken als Originale, sobald die rechte Empfänglichkeit vor¬
handen ist. Ein beachtenswerter Wink für Pädagogen! Man ersieht daraus
ferner, daß Kunst und Philosophie allein den hohem Inhalt des griechischen
Lebens ausmachen; die politische Geschichte ist häßlich entstellt durch Verräterei
und Bosheit selbst in den hervorragendsten Partien der Perserkriege, das soziale
Leben aber ist wie das aller alten Kulturvölker durch die Sklaverei gebrand-
markt und schon darum nichts weniger als mustergiltig. Die griechische Philo¬
sophie und Kunst hat unsrer klassischen Dichtung teilweise wenigstens eine ge¬
wisse Färbung gegeben. Goethe ging nach seiner Rückkehr ans Italien so sehr
in der Vergötterung der Griechen auf, daß er seinen nächsten Freunden unver-
ständlich wurde. Die griechische Walpurgisnacht, die er innerlich durchlebte,
hat er im zweiten Teile des Faust abgesetzt. Im Epimenides, dem griechisch-
allegorischen Festspiele nach dem großen Freiheitskriege, bekennt er naiv, daß er
während der Erhebung seines Volles gegen die Fremdherrschaft geschlafen habe:


Epimenives:

Doch Scham' ich mich der Nnhcstnndcn,
Mit euch zu leiden war Gewinn.
Denn sür den. Schmerz, den ihr empfunden,
Seid ihr mich großer als ich bin.


Schiller erging sich zu derselben Zeit, als Goethe zu den Füßen des Homer und
des Sophokles saß, in schwungvollen Hhmnen zu Ehren der Götter Griechenlands
und der mythologischen Kulturentwicklung, und noch in einer viel spätern Zeit
lenkte er in die griechische Schicksalstragödie ein. Unsre großen Dichter haben
unter dem Einflüsse der Griechen ohne Zweifel viel Schönes geschaffen, das
Schönste dann, wann es ihnen gelang, die Griechen auf ihrem eignen Gebiete zu
besiegen, wie Goethe in der Iphigenie. Anderseits aber ist durch diese neuhuma-
nistische Überverherrlichnng des griechischen Lebens auch viel Kränkliches, Mattes
und Fremdes in die deutsche Literatur eingedrungen. Man denke an die ge¬
spreizten allegorischen Gedichte Herders, an die Romane Wielands, an die Braut
von Messina und an den zweiten Teil des Faust. Unsre Knaben und Mädchen
müssen Schillers Ring des Polykrates auswendig lernen, nachdem der Lehrer


Der Ucnnpf der deutschen Nationalität mit fremden Kulturen.

Nicht nur auf die Schule, auch auf die Literatur hat der Neuhumanismus
einen großen Einfluß ausgeübt. Die Weimarer Klassicität ist von ihr durch¬
drungen. Wieland, Herder, Goethe, Schiller und ihre Freunde, wie Wilhelm
von Humboldt, wurden von der neuhumanistischen Verherrlichung der Griechen
stark beeinflußt. Bei Goethe und Schiller ist dies umso merkwürdiger, als
Goethe erst spät das Griechische erlernte und ernsten philologischen Studie»
überhaupt nicht hold war, Schiller aber, von kärglichen Anfängen auf der
Karlsschule abgesehen, dieser Sprache nie mächtig wurde. Es war also der In¬
halt der griechischen Klassiker, wie er in Übersetzungen vorlag, der Reiz der
griechischen Kunstwerke, vielleicht auch ein ideales Gesamtbild vom griechischen
Leben, was unsre großen Dichter anzog. Man ersieht daraus, daß Übersetzungen
uicht weniger stark wirken als Originale, sobald die rechte Empfänglichkeit vor¬
handen ist. Ein beachtenswerter Wink für Pädagogen! Man ersieht daraus
ferner, daß Kunst und Philosophie allein den hohem Inhalt des griechischen
Lebens ausmachen; die politische Geschichte ist häßlich entstellt durch Verräterei
und Bosheit selbst in den hervorragendsten Partien der Perserkriege, das soziale
Leben aber ist wie das aller alten Kulturvölker durch die Sklaverei gebrand-
markt und schon darum nichts weniger als mustergiltig. Die griechische Philo¬
sophie und Kunst hat unsrer klassischen Dichtung teilweise wenigstens eine ge¬
wisse Färbung gegeben. Goethe ging nach seiner Rückkehr ans Italien so sehr
in der Vergötterung der Griechen auf, daß er seinen nächsten Freunden unver-
ständlich wurde. Die griechische Walpurgisnacht, die er innerlich durchlebte,
hat er im zweiten Teile des Faust abgesetzt. Im Epimenides, dem griechisch-
allegorischen Festspiele nach dem großen Freiheitskriege, bekennt er naiv, daß er
während der Erhebung seines Volles gegen die Fremdherrschaft geschlafen habe:


Epimenives:

Doch Scham' ich mich der Nnhcstnndcn,
Mit euch zu leiden war Gewinn.
Denn sür den. Schmerz, den ihr empfunden,
Seid ihr mich großer als ich bin.


Schiller erging sich zu derselben Zeit, als Goethe zu den Füßen des Homer und
des Sophokles saß, in schwungvollen Hhmnen zu Ehren der Götter Griechenlands
und der mythologischen Kulturentwicklung, und noch in einer viel spätern Zeit
lenkte er in die griechische Schicksalstragödie ein. Unsre großen Dichter haben
unter dem Einflüsse der Griechen ohne Zweifel viel Schönes geschaffen, das
Schönste dann, wann es ihnen gelang, die Griechen auf ihrem eignen Gebiete zu
besiegen, wie Goethe in der Iphigenie. Anderseits aber ist durch diese neuhuma-
nistische Überverherrlichnng des griechischen Lebens auch viel Kränkliches, Mattes
und Fremdes in die deutsche Literatur eingedrungen. Man denke an die ge¬
spreizten allegorischen Gedichte Herders, an die Romane Wielands, an die Braut
von Messina und an den zweiten Teil des Faust. Unsre Knaben und Mädchen
müssen Schillers Ring des Polykrates auswendig lernen, nachdem der Lehrer


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[0469] Der Ucnnpf der deutschen Nationalität mit fremden Kulturen. Nicht nur auf die Schule, auch auf die Literatur hat der Neuhumanismus einen großen Einfluß ausgeübt. Die Weimarer Klassicität ist von ihr durch¬ drungen. Wieland, Herder, Goethe, Schiller und ihre Freunde, wie Wilhelm von Humboldt, wurden von der neuhumanistischen Verherrlichung der Griechen stark beeinflußt. Bei Goethe und Schiller ist dies umso merkwürdiger, als Goethe erst spät das Griechische erlernte und ernsten philologischen Studie» überhaupt nicht hold war, Schiller aber, von kärglichen Anfängen auf der Karlsschule abgesehen, dieser Sprache nie mächtig wurde. Es war also der In¬ halt der griechischen Klassiker, wie er in Übersetzungen vorlag, der Reiz der griechischen Kunstwerke, vielleicht auch ein ideales Gesamtbild vom griechischen Leben, was unsre großen Dichter anzog. Man ersieht daraus, daß Übersetzungen uicht weniger stark wirken als Originale, sobald die rechte Empfänglichkeit vor¬ handen ist. Ein beachtenswerter Wink für Pädagogen! Man ersieht daraus ferner, daß Kunst und Philosophie allein den hohem Inhalt des griechischen Lebens ausmachen; die politische Geschichte ist häßlich entstellt durch Verräterei und Bosheit selbst in den hervorragendsten Partien der Perserkriege, das soziale Leben aber ist wie das aller alten Kulturvölker durch die Sklaverei gebrand- markt und schon darum nichts weniger als mustergiltig. Die griechische Philo¬ sophie und Kunst hat unsrer klassischen Dichtung teilweise wenigstens eine ge¬ wisse Färbung gegeben. Goethe ging nach seiner Rückkehr ans Italien so sehr in der Vergötterung der Griechen auf, daß er seinen nächsten Freunden unver- ständlich wurde. Die griechische Walpurgisnacht, die er innerlich durchlebte, hat er im zweiten Teile des Faust abgesetzt. Im Epimenides, dem griechisch- allegorischen Festspiele nach dem großen Freiheitskriege, bekennt er naiv, daß er während der Erhebung seines Volles gegen die Fremdherrschaft geschlafen habe: Epimenives: Doch Scham' ich mich der Nnhcstnndcn, Mit euch zu leiden war Gewinn. Denn sür den. Schmerz, den ihr empfunden, Seid ihr mich großer als ich bin. Schiller erging sich zu derselben Zeit, als Goethe zu den Füßen des Homer und des Sophokles saß, in schwungvollen Hhmnen zu Ehren der Götter Griechenlands und der mythologischen Kulturentwicklung, und noch in einer viel spätern Zeit lenkte er in die griechische Schicksalstragödie ein. Unsre großen Dichter haben unter dem Einflüsse der Griechen ohne Zweifel viel Schönes geschaffen, das Schönste dann, wann es ihnen gelang, die Griechen auf ihrem eignen Gebiete zu besiegen, wie Goethe in der Iphigenie. Anderseits aber ist durch diese neuhuma- nistische Überverherrlichnng des griechischen Lebens auch viel Kränkliches, Mattes und Fremdes in die deutsche Literatur eingedrungen. Man denke an die ge¬ spreizten allegorischen Gedichte Herders, an die Romane Wielands, an die Braut von Messina und an den zweiten Teil des Faust. Unsre Knaben und Mädchen müssen Schillers Ring des Polykrates auswendig lernen, nachdem der Lehrer

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198065/469>, abgerufen am 25.07.2024.