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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal.

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Die naturalistische Schule in Deutschland.

als für ausnehmend abscheulich halten wird. Wenn es nicht Heuchelei ist,
da, wo man einfach auf brutale Effekte ausgeht, von einem heiligen Wahrheits-
drange zu reden, nicht Heuchelei, da, wo man die Eingebungen der schmutzigsten
Phantasie in Szene setzt, von tiefern Studien zu fabeln und mit Makrokosmus
und Mikrokosmus um sich zu werfen, nicht Heuchelei, da wo es sich um fenille-
tonistische Fechterstellungen handelt, die Absicht vorzugehen, die Tiefen des modernen
Lebens zu ergründen und sich zu neuen Idealen durchzuringen, so hat Tartüffe
niemals geheuchelt. Wem es Ernst um alle diese Dinge ist, der holt anders aus,
der arbeitet, der konzentrirt seine Anschauung in etwas andern Gestalten als
diese Erichs, Ottos und Arthurs, der stellt die Welt dar, nun wie Zola oder
Dostojewski, Wenns sein soll, als eine Holle, aber nicht mit dieser armseligen
Eintönigkeit von renommistischen Bummlern und Dirnen.

Der Heuchelei, welche die Pose des großen Weltschmerzes macht, um ein
Paar Nacktheiten besser zur Anschauung bringen zu können, gesellt sich eine
Angewöhnung, die entweder auch nur Berechnung auf die Gedankenlosigkeit des
modernen Lesepublikums ist oder einen Mangel an Unterschcidnngsveriuögen
bekundet, welcher der naturalistischen Schule sehr verhängnisvoll werden muß.
Die Wortführer nehmen die Miene an, als ob zwei gruudverschicduc Dinge
ein- und dasselbe wären, als ob die Freiheit, ohne welche eine große und inner¬
lich machtvolle Kunst allerdings nicht gedacht werden kann, und die zügellose
Willkür von fenstereinwerfenden und wändebesudeludcu Gassenbuben garnicht
unterschieden werden könnten. Sie agiren, wie schon eingangs hervorgehoben
ward, mit den Sätzen, auf die auch wir uns berufen müssen. Sie verwechseln
geflissentlich die Anschauung, welche der Literatur und der Dichtung zumal die
Wirkungsfähigkeit der Reinheit, der innern Größe, der Schönheit und der see¬
lischen Tiefe zuspricht und erhalten wissen will, mit jener kvusistorialrätlich-
schulmcisterlichen Befangenheit, welche die poetische Wcltdarstelluug kläglicher¬
weise einschränken möchte lind vor den Kühnheiten Shakespeares und Goethes
erschrickt. Sie gehen von einem unbestreitbare Vordersatz aus und schieben
ihm plötzlich einen bedenklichen Nachsatz unter. Ans der Thatsache, daß mir
Philister und Tröpfe an der keuschen Nackthei techter Plastik oder an dem sinn¬
lichen Reiz einzelner unsterblichen Dichtungen Anstoß nehmen, folgern die Herren
im Handumdrehen, daß jeder, der sich mit Ekel von der gemeinen Lüsternheit
abwendet, jeder, der einen Unterschied zwischen Rafaels Galatea und zwischen
"Pikanten" Bildern macht, wie sie in gewissen Kneipen zwischen Mitternacht und
Morgen heimlich feilgeboten werden, ein Philister und Tropf sei. Diese Art
der Verwechslung spielt in den kritischen Versuche", den literarischen Satiren
der Schule eine Hauptrolle, und es muß denn doch Gimpel genug geben, auf die
sie Eindruck macht. Den" die unglaubliche Unsicherheit, mit welcher ein ge¬
wisser Teil der Kritik den Produktionen der Schule gegenübersteht, läßt sich
nur auf diese Weise erklären.


Die naturalistische Schule in Deutschland.

als für ausnehmend abscheulich halten wird. Wenn es nicht Heuchelei ist,
da, wo man einfach auf brutale Effekte ausgeht, von einem heiligen Wahrheits-
drange zu reden, nicht Heuchelei, da, wo man die Eingebungen der schmutzigsten
Phantasie in Szene setzt, von tiefern Studien zu fabeln und mit Makrokosmus
und Mikrokosmus um sich zu werfen, nicht Heuchelei, da wo es sich um fenille-
tonistische Fechterstellungen handelt, die Absicht vorzugehen, die Tiefen des modernen
Lebens zu ergründen und sich zu neuen Idealen durchzuringen, so hat Tartüffe
niemals geheuchelt. Wem es Ernst um alle diese Dinge ist, der holt anders aus,
der arbeitet, der konzentrirt seine Anschauung in etwas andern Gestalten als
diese Erichs, Ottos und Arthurs, der stellt die Welt dar, nun wie Zola oder
Dostojewski, Wenns sein soll, als eine Holle, aber nicht mit dieser armseligen
Eintönigkeit von renommistischen Bummlern und Dirnen.

Der Heuchelei, welche die Pose des großen Weltschmerzes macht, um ein
Paar Nacktheiten besser zur Anschauung bringen zu können, gesellt sich eine
Angewöhnung, die entweder auch nur Berechnung auf die Gedankenlosigkeit des
modernen Lesepublikums ist oder einen Mangel an Unterschcidnngsveriuögen
bekundet, welcher der naturalistischen Schule sehr verhängnisvoll werden muß.
Die Wortführer nehmen die Miene an, als ob zwei gruudverschicduc Dinge
ein- und dasselbe wären, als ob die Freiheit, ohne welche eine große und inner¬
lich machtvolle Kunst allerdings nicht gedacht werden kann, und die zügellose
Willkür von fenstereinwerfenden und wändebesudeludcu Gassenbuben garnicht
unterschieden werden könnten. Sie agiren, wie schon eingangs hervorgehoben
ward, mit den Sätzen, auf die auch wir uns berufen müssen. Sie verwechseln
geflissentlich die Anschauung, welche der Literatur und der Dichtung zumal die
Wirkungsfähigkeit der Reinheit, der innern Größe, der Schönheit und der see¬
lischen Tiefe zuspricht und erhalten wissen will, mit jener kvusistorialrätlich-
schulmcisterlichen Befangenheit, welche die poetische Wcltdarstelluug kläglicher¬
weise einschränken möchte lind vor den Kühnheiten Shakespeares und Goethes
erschrickt. Sie gehen von einem unbestreitbare Vordersatz aus und schieben
ihm plötzlich einen bedenklichen Nachsatz unter. Ans der Thatsache, daß mir
Philister und Tröpfe an der keuschen Nackthei techter Plastik oder an dem sinn¬
lichen Reiz einzelner unsterblichen Dichtungen Anstoß nehmen, folgern die Herren
im Handumdrehen, daß jeder, der sich mit Ekel von der gemeinen Lüsternheit
abwendet, jeder, der einen Unterschied zwischen Rafaels Galatea und zwischen
„Pikanten" Bildern macht, wie sie in gewissen Kneipen zwischen Mitternacht und
Morgen heimlich feilgeboten werden, ein Philister und Tropf sei. Diese Art
der Verwechslung spielt in den kritischen Versuche», den literarischen Satiren
der Schule eine Hauptrolle, und es muß denn doch Gimpel genug geben, auf die
sie Eindruck macht. Den» die unglaubliche Unsicherheit, mit welcher ein ge¬
wisser Teil der Kritik den Produktionen der Schule gegenübersteht, läßt sich
nur auf diese Weise erklären.


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[0431] Die naturalistische Schule in Deutschland. als für ausnehmend abscheulich halten wird. Wenn es nicht Heuchelei ist, da, wo man einfach auf brutale Effekte ausgeht, von einem heiligen Wahrheits- drange zu reden, nicht Heuchelei, da, wo man die Eingebungen der schmutzigsten Phantasie in Szene setzt, von tiefern Studien zu fabeln und mit Makrokosmus und Mikrokosmus um sich zu werfen, nicht Heuchelei, da wo es sich um fenille- tonistische Fechterstellungen handelt, die Absicht vorzugehen, die Tiefen des modernen Lebens zu ergründen und sich zu neuen Idealen durchzuringen, so hat Tartüffe niemals geheuchelt. Wem es Ernst um alle diese Dinge ist, der holt anders aus, der arbeitet, der konzentrirt seine Anschauung in etwas andern Gestalten als diese Erichs, Ottos und Arthurs, der stellt die Welt dar, nun wie Zola oder Dostojewski, Wenns sein soll, als eine Holle, aber nicht mit dieser armseligen Eintönigkeit von renommistischen Bummlern und Dirnen. Der Heuchelei, welche die Pose des großen Weltschmerzes macht, um ein Paar Nacktheiten besser zur Anschauung bringen zu können, gesellt sich eine Angewöhnung, die entweder auch nur Berechnung auf die Gedankenlosigkeit des modernen Lesepublikums ist oder einen Mangel an Unterschcidnngsveriuögen bekundet, welcher der naturalistischen Schule sehr verhängnisvoll werden muß. Die Wortführer nehmen die Miene an, als ob zwei gruudverschicduc Dinge ein- und dasselbe wären, als ob die Freiheit, ohne welche eine große und inner¬ lich machtvolle Kunst allerdings nicht gedacht werden kann, und die zügellose Willkür von fenstereinwerfenden und wändebesudeludcu Gassenbuben garnicht unterschieden werden könnten. Sie agiren, wie schon eingangs hervorgehoben ward, mit den Sätzen, auf die auch wir uns berufen müssen. Sie verwechseln geflissentlich die Anschauung, welche der Literatur und der Dichtung zumal die Wirkungsfähigkeit der Reinheit, der innern Größe, der Schönheit und der see¬ lischen Tiefe zuspricht und erhalten wissen will, mit jener kvusistorialrätlich- schulmcisterlichen Befangenheit, welche die poetische Wcltdarstelluug kläglicher¬ weise einschränken möchte lind vor den Kühnheiten Shakespeares und Goethes erschrickt. Sie gehen von einem unbestreitbare Vordersatz aus und schieben ihm plötzlich einen bedenklichen Nachsatz unter. Ans der Thatsache, daß mir Philister und Tröpfe an der keuschen Nackthei techter Plastik oder an dem sinn¬ lichen Reiz einzelner unsterblichen Dichtungen Anstoß nehmen, folgern die Herren im Handumdrehen, daß jeder, der sich mit Ekel von der gemeinen Lüsternheit abwendet, jeder, der einen Unterschied zwischen Rafaels Galatea und zwischen „Pikanten" Bildern macht, wie sie in gewissen Kneipen zwischen Mitternacht und Morgen heimlich feilgeboten werden, ein Philister und Tropf sei. Diese Art der Verwechslung spielt in den kritischen Versuche», den literarischen Satiren der Schule eine Hauptrolle, und es muß denn doch Gimpel genug geben, auf die sie Eindruck macht. Den» die unglaubliche Unsicherheit, mit welcher ein ge¬ wisser Teil der Kritik den Produktionen der Schule gegenübersteht, läßt sich nur auf diese Weise erklären.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198065/431>, abgerufen am 24.07.2024.