Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal.Die naturalistische Schule in Deutschland. zur Tugend machen," sie beweisen nicht, aber behaupten, daß es nur Am erträglichsten stellt sich der Naturalismus in einer kleinen Gruppe Die naturalistische Schule in Deutschland. zur Tugend machen," sie beweisen nicht, aber behaupten, daß es nur Am erträglichsten stellt sich der Naturalismus in einer kleinen Gruppe <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0427" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/198493"/> <fw type="header" place="top"> Die naturalistische Schule in Deutschland.</fw><lb/> <p xml:id="ID_1246" prev="#ID_1245"> zur Tugend machen," sie beweisen nicht, aber behaupten, daß es nur<lb/> „Heuchelei" sei, einen Zoll über die Gemeinheit hinauszuragen. Der Dichter,<lb/> wir wiederholen es, kann alles darstellen, alles, wofür er eine menschliche<lb/> Mitempfindung (und auf Mitempfindung zielt bekanntlich die vervehmte, als<lb/> Lüge oder Heuchelei bezeichnete ästhetische Darstellung auch ab) zu erwecken<lb/> vermag, nachschaffend zu beleben versuchen. Aber immer wird er sich gefallen<lb/> lassen müssen, darnach gefragt zu werden, ob er den Erscheinungen ihren be¬<lb/> rechtigten Platz im Zusammenhange der Dinge und Handlungen angewiesen, ob<lb/> er bis in den innersten Kern der Erscheinungen hinab- und hineingeblickt, ob<lb/> er den ursprünglich reinen Antrieb der Darstellung rein erhalten oder ihn mit<lb/> fremden, unreinen Antrieben gemischt hat. Und mit diesen in der Theorie der<lb/> Naturalisten nicht bestrittenen Forderungen vergleiche man nun die Leistungen<lb/> der Schule. Im vollen Widerstreite mit der menschlich und poetisch wahren<lb/> Wiedergabe und Schätzung der Lebenserscheinungen und Stimmungen steht die<lb/> grelle und freche Manier, zufällig cmfgegriffuc Scheußlichkeiten und Armselig¬<lb/> keiten als das Normale, das allein Wiederkehrende, das Typische der menschlichen<lb/> Gesellschaft darzustellen. Von ernsthafter Beobachtung und tieferem Natur-<lb/> studium ist dabei nirgends die Rede, der flachste Conlisscnreißer pointirt nicht<lb/> frecher, um Logik und Wahrheit unbekümmerter, als diese Vertreter der „Wirk¬<lb/> lichkeit," denen es lediglich um die Effekte der Verblüffung, um das Lob<lb/> der „Originalität" zu thun ist. Weil sie der Prüderie wie dem berechtigtsten<lb/> Schamgefühl, der Philisterei wie der echten Humanität, der oberflächlichste»<lb/> Uuterhaltungslust wie der wahrhafte» Bildung zugleich ins Gesicht schlagen,<lb/> kommen sie sich unsäglich tapfer und über jedes „Vorurteil" erhaben vor. Der<lb/> Forderung, in den Kern der Erscheinungen hineinzublicken, entziehen sie sich mit<lb/> der a priori gegebnen Versicherung, daß der Kern eben Fäulnis und Verwesung<lb/> sei. Und der reine Antrieb der Darstellung erscheint bei den meisten so seltsam<lb/> mit theatralischer Eitelkeit, mit politischer Tendenz, mit einer knabenhaften Nc-<lb/> nommirluft verknüpft, daß es in der That schwer ist, zu erkennen, ob ur¬<lb/> sprünglich ein solcher Antrieb vorhanden war oder nicht.</p><lb/> <p xml:id="ID_1247" next="#ID_1248"> Am erträglichsten stellt sich der Naturalismus in einer kleinen Gruppe<lb/> von Schriftstellern dar, welche keine Programme desselben erlasse», ohne be¬<lb/> sondre Ankündigungen und selbstgefällige Betonung ihrer Bedeutung ein Stück<lb/> Leben i» ihrem Sinne auffassen und wiedergeben, da es zur Totalität, zu dein<lb/> großen Allwerk Zolas noch »icht an der Zeit sei. Sie erwerben damit wenigstens<lb/> den Anspruch, daß ihre Erfindungen und Gestalten ruhig als Gegcnwartsprodukte<lb/> beurteilt werden, sie fordern den Vergleich mit den Meisterschöpfungen der<lb/> Vergangenheit nicht heraus und zwingen zu keiner Verwahrung wider eine<lb/> Zukunft, in der die Ideale dieser Darsteller die einzigen Ideale sei» sollten.<lb/> Hermann Heiberg, Max Kretzer und einige andre Schriftsteller, deren<lb/> Versuche und Werke zum Teil schon in diesen Blättern besprochen worden sind,</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0427]
Die naturalistische Schule in Deutschland.
zur Tugend machen," sie beweisen nicht, aber behaupten, daß es nur
„Heuchelei" sei, einen Zoll über die Gemeinheit hinauszuragen. Der Dichter,
wir wiederholen es, kann alles darstellen, alles, wofür er eine menschliche
Mitempfindung (und auf Mitempfindung zielt bekanntlich die vervehmte, als
Lüge oder Heuchelei bezeichnete ästhetische Darstellung auch ab) zu erwecken
vermag, nachschaffend zu beleben versuchen. Aber immer wird er sich gefallen
lassen müssen, darnach gefragt zu werden, ob er den Erscheinungen ihren be¬
rechtigten Platz im Zusammenhange der Dinge und Handlungen angewiesen, ob
er bis in den innersten Kern der Erscheinungen hinab- und hineingeblickt, ob
er den ursprünglich reinen Antrieb der Darstellung rein erhalten oder ihn mit
fremden, unreinen Antrieben gemischt hat. Und mit diesen in der Theorie der
Naturalisten nicht bestrittenen Forderungen vergleiche man nun die Leistungen
der Schule. Im vollen Widerstreite mit der menschlich und poetisch wahren
Wiedergabe und Schätzung der Lebenserscheinungen und Stimmungen steht die
grelle und freche Manier, zufällig cmfgegriffuc Scheußlichkeiten und Armselig¬
keiten als das Normale, das allein Wiederkehrende, das Typische der menschlichen
Gesellschaft darzustellen. Von ernsthafter Beobachtung und tieferem Natur-
studium ist dabei nirgends die Rede, der flachste Conlisscnreißer pointirt nicht
frecher, um Logik und Wahrheit unbekümmerter, als diese Vertreter der „Wirk¬
lichkeit," denen es lediglich um die Effekte der Verblüffung, um das Lob
der „Originalität" zu thun ist. Weil sie der Prüderie wie dem berechtigtsten
Schamgefühl, der Philisterei wie der echten Humanität, der oberflächlichste»
Uuterhaltungslust wie der wahrhafte» Bildung zugleich ins Gesicht schlagen,
kommen sie sich unsäglich tapfer und über jedes „Vorurteil" erhaben vor. Der
Forderung, in den Kern der Erscheinungen hineinzublicken, entziehen sie sich mit
der a priori gegebnen Versicherung, daß der Kern eben Fäulnis und Verwesung
sei. Und der reine Antrieb der Darstellung erscheint bei den meisten so seltsam
mit theatralischer Eitelkeit, mit politischer Tendenz, mit einer knabenhaften Nc-
nommirluft verknüpft, daß es in der That schwer ist, zu erkennen, ob ur¬
sprünglich ein solcher Antrieb vorhanden war oder nicht.
Am erträglichsten stellt sich der Naturalismus in einer kleinen Gruppe
von Schriftstellern dar, welche keine Programme desselben erlasse», ohne be¬
sondre Ankündigungen und selbstgefällige Betonung ihrer Bedeutung ein Stück
Leben i» ihrem Sinne auffassen und wiedergeben, da es zur Totalität, zu dein
großen Allwerk Zolas noch »icht an der Zeit sei. Sie erwerben damit wenigstens
den Anspruch, daß ihre Erfindungen und Gestalten ruhig als Gegcnwartsprodukte
beurteilt werden, sie fordern den Vergleich mit den Meisterschöpfungen der
Vergangenheit nicht heraus und zwingen zu keiner Verwahrung wider eine
Zukunft, in der die Ideale dieser Darsteller die einzigen Ideale sei» sollten.
Hermann Heiberg, Max Kretzer und einige andre Schriftsteller, deren
Versuche und Werke zum Teil schon in diesen Blättern besprochen worden sind,
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |