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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal.

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Polentum und Deutschtum in der Provinz Posen.

Der deutsche Bauernstand stammt zum Teil noch aus der Einwanderung
vor der preußischen Besitzergreifung, zum Teil hat er sich aber erst zur soge¬
nannten Flottwellschen Zeit angesiedelt. Dieser bäuerliche Besitz hat sich durch
Auflauf vonseiten deutscher und polnischer Großgrundbesitzer -- ein Verfahre",
was von den letztern stellenweise systematisch geübt worden ist -- in den letzte"
Jahrzehnten unzweifelhaft vermindert; ein fernerer Bruchteil, und vielleicht ein
größerer, als allgemein angenommen wird, ist auch auf dem Wege polnisch-
katholischer Heiraten dem Deutschtum entfremdet worden. Wenn sich trotzdem
die deutschen Bauern in ihrem jetzigen Stande, vielfach inmitten der polnischen
Bevölkerung, in ihrer nationalen Eigentümlichkeit erhalten haben und an Reli¬
gion und Sprache festhalten, so ist dies einerseits ein rühmliches Zeichen deut¬
scher Zähigkeit, anderseits aber auch ein unzweifelhaftes Verdienst der alten
preußischen Kirchen- und Schulverwaltung, die zwar langsam, aber doch stetig bis
zum Beginne der siebziger Jahre das Deutschtum in evangelischen Kirchensystemen
und rein deutschen konfessionell-evangelischen Schulen sammelte und isolirte.

Hätte mau mit der Simultanisirung der ländlichen Volksschule und der
Einzwängung evangelischer Kiuder in polnisch-katholische Majoritäten schon in
den dreißiger, statt den siebziger Jahren begonnen, so würde man heute in den
national-gemischten Kreisen vergeblich nach einem deutschen Vauerudorfe suchen.
Eine für andre Verhältnisse, und namentlich für große und mittelstüdtische
Schulzustände, gewiß richtige Theorie hat durch ihre falsche Anwendung auf die
kleinen Städte und das platte Land zur empfindlichen Benachteiligung des
Deutschtums geführt, ein geradezu verhängnisvoller Fehler des Systems Falk.

Der Handwerkerstand war in den polnischen Landesteilen fast ausschlie߬
lich deutsch, und zwar schon vor der preußischen Besitzergreifung; nur Schuh¬
macher und Schmiede pflegten Polen zu sein. Für eine Anzahl handwerks¬
mäßiger Mnnipulationen hat deshalb auch die polnische Sprache gar keine
selbständigen Bezeichnungen, sondern einfach die deutschen Ausdrücke polonisirt.
Aber auch auf dieser bisherigen Domäne des Deutschtums zeigt sich leider ein
Rückschritt. Aus dem polnischen Bauernstande und dem polnischen Kleinbürgertum
hat sich durch den Schutz und die Begünstigung der gesamten polnischen Ge¬
sellschaft ein polnischer Handwerkerstand ausgebildet, dessen Spitzen bis in die
Kreise der Großindustrie reichen und der selbst in der Provinzialhauptstadt, wo
die Konsumtivnsfähigkcit des deutschen Publikums groß genug wäre, einen
leistungsfähigen deutschen Handwerkerstand zu erhalten, den letztern entschieden
überholt hat; die politischen Handwerker sammeln sich überdies fast in allen
polnischen Städten in rein polnischen Handwerkervereinen, Gesangvereinen :e.,
und halten geschäftlich fest zusammen.

Der Handelsstand war in den polnischen Landesteilen von jeher in den
Händen der jüdischen Bevölkerung, und die deutschen Kaufleute pflegten in den
meisten Städten in der Minderheit zu sein. Seit etwa fünfzehn Jahren haben


Polentum und Deutschtum in der Provinz Posen.

Der deutsche Bauernstand stammt zum Teil noch aus der Einwanderung
vor der preußischen Besitzergreifung, zum Teil hat er sich aber erst zur soge¬
nannten Flottwellschen Zeit angesiedelt. Dieser bäuerliche Besitz hat sich durch
Auflauf vonseiten deutscher und polnischer Großgrundbesitzer — ein Verfahre»,
was von den letztern stellenweise systematisch geübt worden ist — in den letzte»
Jahrzehnten unzweifelhaft vermindert; ein fernerer Bruchteil, und vielleicht ein
größerer, als allgemein angenommen wird, ist auch auf dem Wege polnisch-
katholischer Heiraten dem Deutschtum entfremdet worden. Wenn sich trotzdem
die deutschen Bauern in ihrem jetzigen Stande, vielfach inmitten der polnischen
Bevölkerung, in ihrer nationalen Eigentümlichkeit erhalten haben und an Reli¬
gion und Sprache festhalten, so ist dies einerseits ein rühmliches Zeichen deut¬
scher Zähigkeit, anderseits aber auch ein unzweifelhaftes Verdienst der alten
preußischen Kirchen- und Schulverwaltung, die zwar langsam, aber doch stetig bis
zum Beginne der siebziger Jahre das Deutschtum in evangelischen Kirchensystemen
und rein deutschen konfessionell-evangelischen Schulen sammelte und isolirte.

Hätte mau mit der Simultanisirung der ländlichen Volksschule und der
Einzwängung evangelischer Kiuder in polnisch-katholische Majoritäten schon in
den dreißiger, statt den siebziger Jahren begonnen, so würde man heute in den
national-gemischten Kreisen vergeblich nach einem deutschen Vauerudorfe suchen.
Eine für andre Verhältnisse, und namentlich für große und mittelstüdtische
Schulzustände, gewiß richtige Theorie hat durch ihre falsche Anwendung auf die
kleinen Städte und das platte Land zur empfindlichen Benachteiligung des
Deutschtums geführt, ein geradezu verhängnisvoller Fehler des Systems Falk.

Der Handwerkerstand war in den polnischen Landesteilen fast ausschlie߬
lich deutsch, und zwar schon vor der preußischen Besitzergreifung; nur Schuh¬
macher und Schmiede pflegten Polen zu sein. Für eine Anzahl handwerks¬
mäßiger Mnnipulationen hat deshalb auch die polnische Sprache gar keine
selbständigen Bezeichnungen, sondern einfach die deutschen Ausdrücke polonisirt.
Aber auch auf dieser bisherigen Domäne des Deutschtums zeigt sich leider ein
Rückschritt. Aus dem polnischen Bauernstande und dem polnischen Kleinbürgertum
hat sich durch den Schutz und die Begünstigung der gesamten polnischen Ge¬
sellschaft ein polnischer Handwerkerstand ausgebildet, dessen Spitzen bis in die
Kreise der Großindustrie reichen und der selbst in der Provinzialhauptstadt, wo
die Konsumtivnsfähigkcit des deutschen Publikums groß genug wäre, einen
leistungsfähigen deutschen Handwerkerstand zu erhalten, den letztern entschieden
überholt hat; die politischen Handwerker sammeln sich überdies fast in allen
polnischen Städten in rein polnischen Handwerkervereinen, Gesangvereinen :e.,
und halten geschäftlich fest zusammen.

Der Handelsstand war in den polnischen Landesteilen von jeher in den
Händen der jüdischen Bevölkerung, und die deutschen Kaufleute pflegten in den
meisten Städten in der Minderheit zu sein. Seit etwa fünfzehn Jahren haben


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[0411] Polentum und Deutschtum in der Provinz Posen. Der deutsche Bauernstand stammt zum Teil noch aus der Einwanderung vor der preußischen Besitzergreifung, zum Teil hat er sich aber erst zur soge¬ nannten Flottwellschen Zeit angesiedelt. Dieser bäuerliche Besitz hat sich durch Auflauf vonseiten deutscher und polnischer Großgrundbesitzer — ein Verfahre», was von den letztern stellenweise systematisch geübt worden ist — in den letzte» Jahrzehnten unzweifelhaft vermindert; ein fernerer Bruchteil, und vielleicht ein größerer, als allgemein angenommen wird, ist auch auf dem Wege polnisch- katholischer Heiraten dem Deutschtum entfremdet worden. Wenn sich trotzdem die deutschen Bauern in ihrem jetzigen Stande, vielfach inmitten der polnischen Bevölkerung, in ihrer nationalen Eigentümlichkeit erhalten haben und an Reli¬ gion und Sprache festhalten, so ist dies einerseits ein rühmliches Zeichen deut¬ scher Zähigkeit, anderseits aber auch ein unzweifelhaftes Verdienst der alten preußischen Kirchen- und Schulverwaltung, die zwar langsam, aber doch stetig bis zum Beginne der siebziger Jahre das Deutschtum in evangelischen Kirchensystemen und rein deutschen konfessionell-evangelischen Schulen sammelte und isolirte. Hätte mau mit der Simultanisirung der ländlichen Volksschule und der Einzwängung evangelischer Kiuder in polnisch-katholische Majoritäten schon in den dreißiger, statt den siebziger Jahren begonnen, so würde man heute in den national-gemischten Kreisen vergeblich nach einem deutschen Vauerudorfe suchen. Eine für andre Verhältnisse, und namentlich für große und mittelstüdtische Schulzustände, gewiß richtige Theorie hat durch ihre falsche Anwendung auf die kleinen Städte und das platte Land zur empfindlichen Benachteiligung des Deutschtums geführt, ein geradezu verhängnisvoller Fehler des Systems Falk. Der Handwerkerstand war in den polnischen Landesteilen fast ausschlie߬ lich deutsch, und zwar schon vor der preußischen Besitzergreifung; nur Schuh¬ macher und Schmiede pflegten Polen zu sein. Für eine Anzahl handwerks¬ mäßiger Mnnipulationen hat deshalb auch die polnische Sprache gar keine selbständigen Bezeichnungen, sondern einfach die deutschen Ausdrücke polonisirt. Aber auch auf dieser bisherigen Domäne des Deutschtums zeigt sich leider ein Rückschritt. Aus dem polnischen Bauernstande und dem polnischen Kleinbürgertum hat sich durch den Schutz und die Begünstigung der gesamten polnischen Ge¬ sellschaft ein polnischer Handwerkerstand ausgebildet, dessen Spitzen bis in die Kreise der Großindustrie reichen und der selbst in der Provinzialhauptstadt, wo die Konsumtivnsfähigkcit des deutschen Publikums groß genug wäre, einen leistungsfähigen deutschen Handwerkerstand zu erhalten, den letztern entschieden überholt hat; die politischen Handwerker sammeln sich überdies fast in allen polnischen Städten in rein polnischen Handwerkervereinen, Gesangvereinen :e., und halten geschäftlich fest zusammen. Der Handelsstand war in den polnischen Landesteilen von jeher in den Händen der jüdischen Bevölkerung, und die deutschen Kaufleute pflegten in den meisten Städten in der Minderheit zu sein. Seit etwa fünfzehn Jahren haben

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198065/411>, abgerufen am 25.07.2024.