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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal.

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Polentum und Deutschtum i" der Provinz Posen.

geschichtlichen Wirklichkeit entfernt. Fortgesetzt unterstützt werden diese historischen
Phantasien in Wort und Bild durch die polnische Presse und die polnische
Kunst. Der Pole -- und selbst der im bürgerlichen Leben nüchternste, klarste,
scharfsinnigste -- führt deshalb eine Art politischen Traumlebens, welches ihn
verleitet, bei jedem Ereignis der, europäischen Politik ein polnisches Interesse
zu argwöhnen oder zu hoffen. In politischen Frage" denkt der Pole wie die
Frauen nur mit dem Herzen und ist nie zu überzeuge". Selbst die Leicheu-
fcierlichkeiteu des polnische" Adels tragen den Charakter einer nationalen Ver¬
sammlung, man feiert sie heute noch mit der weitläufigen, ernsten, vornehmen
Pracht, wie dies etwa vor zweihundert Jahren bei den deutschen Adelsgeschlechtern
Sitte war. Aus der ganzen Provinz, ja darüber hinaus, strömt der Adel zu¬
sammen in Begleitung eines zahlreichen Klerus; es ist absolute Pietätspflicht,
zu erscheinen. In der Parvchialtirche wird ein feierlicher, würdevoller Gottes¬
dienst abgehalten, dessen Mittelpunkt die Leichenrede irgendeines hervorragenden
u,et two berufnen KauzelrednerS bildet. Derselbe wird "in verabsäume", auf das
eingehendste das Thema z" behandeln: "Was hat der Verstorbne für das
polnische Baterland gethan? War er ein Patriot und würdig, seineu Nach¬
kommen und dem jüngern Geschlecht als Vorbild auf dem Felde der nationalen
Arbeit zu dienen?" Dasselbe Thema pflegt dann von irgendeinem angesehenen
Freunde des Verstorbueu noch ausführlicher am Grabe wiederholt zu werde".
Es werde" bei diesen Gelegenheiten Rede" gehalten ""d häufig auch durch
die Presse oder besondern Druck verbreitet, die nur zu lebhaft an die Rede
des Antonius bei der Leiche Cäsars emmeru und die jedes polnische Herz in
nationaler Erregung erzittern lassen.

Die ganze polnische Gesellschaft kennt sich untereinander, ist mit ihre" gegen¬
seitigen Angelegenheiten und persönlichen Verhältnissen genau vertraut, die
Mäuner sind vou der Schule her, die Frauen von den wenigen Klöstern, denen
der polnische Adel seine Tochter zur Erziehung mizuvertrauen pflegt, mit ein¬
ander befreundet. Trotz aller kleinen Eifersüchteleien und Feindschaften zwischen
den einzelnen Familien, und namentlich zwischen dem höhern alten Maguaten-
adel und der putltv N0v1v88o, bildet der polnische Adel doch eine in sich fest
geschlossene Korporativ", die ein stets bereites, williges Werkzeug in der Hand
ihrer Führer ist. In jedem Kreise Pflegen einige angesehene Edelleute, die ihre
Standesgenossen durch persönliche Thatkraft und Begabung überragen, die aus¬
gesprochene und allgemein anerkannte Führerrvlle zu spielen. Sie bernfei: die
öffentlichem Versammlungen, leiten dieselben, find die Hauptvertrauensmäuner
des Zentralwahlkomitees und treten in de" Kreisversammlungen als Redner
und Wortführer der polnischem Kreistagsmitglieder auf.

Das gesellschaftliche Verhältnis des polnischen Klerus innerhalb des pol¬
nischen Adels macht den Eindruck, als ob der niedere polnische Klerus, der fast
ausnahmslos aus dem Bauern- oder Kleiubürgerftandc hervorgeht, eine etwas


Polentum und Deutschtum i» der Provinz Posen.

geschichtlichen Wirklichkeit entfernt. Fortgesetzt unterstützt werden diese historischen
Phantasien in Wort und Bild durch die polnische Presse und die polnische
Kunst. Der Pole — und selbst der im bürgerlichen Leben nüchternste, klarste,
scharfsinnigste — führt deshalb eine Art politischen Traumlebens, welches ihn
verleitet, bei jedem Ereignis der, europäischen Politik ein polnisches Interesse
zu argwöhnen oder zu hoffen. In politischen Frage» denkt der Pole wie die
Frauen nur mit dem Herzen und ist nie zu überzeuge». Selbst die Leicheu-
fcierlichkeiteu des polnische» Adels tragen den Charakter einer nationalen Ver¬
sammlung, man feiert sie heute noch mit der weitläufigen, ernsten, vornehmen
Pracht, wie dies etwa vor zweihundert Jahren bei den deutschen Adelsgeschlechtern
Sitte war. Aus der ganzen Provinz, ja darüber hinaus, strömt der Adel zu¬
sammen in Begleitung eines zahlreichen Klerus; es ist absolute Pietätspflicht,
zu erscheinen. In der Parvchialtirche wird ein feierlicher, würdevoller Gottes¬
dienst abgehalten, dessen Mittelpunkt die Leichenrede irgendeines hervorragenden
u,et two berufnen KauzelrednerS bildet. Derselbe wird »in verabsäume», auf das
eingehendste das Thema z» behandeln: „Was hat der Verstorbne für das
polnische Baterland gethan? War er ein Patriot und würdig, seineu Nach¬
kommen und dem jüngern Geschlecht als Vorbild auf dem Felde der nationalen
Arbeit zu dienen?" Dasselbe Thema pflegt dann von irgendeinem angesehenen
Freunde des Verstorbueu noch ausführlicher am Grabe wiederholt zu werde».
Es werde» bei diesen Gelegenheiten Rede» gehalten »»d häufig auch durch
die Presse oder besondern Druck verbreitet, die nur zu lebhaft an die Rede
des Antonius bei der Leiche Cäsars emmeru und die jedes polnische Herz in
nationaler Erregung erzittern lassen.

Die ganze polnische Gesellschaft kennt sich untereinander, ist mit ihre» gegen¬
seitigen Angelegenheiten und persönlichen Verhältnissen genau vertraut, die
Mäuner sind vou der Schule her, die Frauen von den wenigen Klöstern, denen
der polnische Adel seine Tochter zur Erziehung mizuvertrauen pflegt, mit ein¬
ander befreundet. Trotz aller kleinen Eifersüchteleien und Feindschaften zwischen
den einzelnen Familien, und namentlich zwischen dem höhern alten Maguaten-
adel und der putltv N0v1v88o, bildet der polnische Adel doch eine in sich fest
geschlossene Korporativ», die ein stets bereites, williges Werkzeug in der Hand
ihrer Führer ist. In jedem Kreise Pflegen einige angesehene Edelleute, die ihre
Standesgenossen durch persönliche Thatkraft und Begabung überragen, die aus¬
gesprochene und allgemein anerkannte Führerrvlle zu spielen. Sie bernfei: die
öffentlichem Versammlungen, leiten dieselben, find die Hauptvertrauensmäuner
des Zentralwahlkomitees und treten in de» Kreisversammlungen als Redner
und Wortführer der polnischem Kreistagsmitglieder auf.

Das gesellschaftliche Verhältnis des polnischen Klerus innerhalb des pol¬
nischen Adels macht den Eindruck, als ob der niedere polnische Klerus, der fast
ausnahmslos aus dem Bauern- oder Kleiubürgerftandc hervorgeht, eine etwas


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[0405] Polentum und Deutschtum i» der Provinz Posen. geschichtlichen Wirklichkeit entfernt. Fortgesetzt unterstützt werden diese historischen Phantasien in Wort und Bild durch die polnische Presse und die polnische Kunst. Der Pole — und selbst der im bürgerlichen Leben nüchternste, klarste, scharfsinnigste — führt deshalb eine Art politischen Traumlebens, welches ihn verleitet, bei jedem Ereignis der, europäischen Politik ein polnisches Interesse zu argwöhnen oder zu hoffen. In politischen Frage» denkt der Pole wie die Frauen nur mit dem Herzen und ist nie zu überzeuge». Selbst die Leicheu- fcierlichkeiteu des polnische» Adels tragen den Charakter einer nationalen Ver¬ sammlung, man feiert sie heute noch mit der weitläufigen, ernsten, vornehmen Pracht, wie dies etwa vor zweihundert Jahren bei den deutschen Adelsgeschlechtern Sitte war. Aus der ganzen Provinz, ja darüber hinaus, strömt der Adel zu¬ sammen in Begleitung eines zahlreichen Klerus; es ist absolute Pietätspflicht, zu erscheinen. In der Parvchialtirche wird ein feierlicher, würdevoller Gottes¬ dienst abgehalten, dessen Mittelpunkt die Leichenrede irgendeines hervorragenden u,et two berufnen KauzelrednerS bildet. Derselbe wird »in verabsäume», auf das eingehendste das Thema z» behandeln: „Was hat der Verstorbne für das polnische Baterland gethan? War er ein Patriot und würdig, seineu Nach¬ kommen und dem jüngern Geschlecht als Vorbild auf dem Felde der nationalen Arbeit zu dienen?" Dasselbe Thema pflegt dann von irgendeinem angesehenen Freunde des Verstorbueu noch ausführlicher am Grabe wiederholt zu werde». Es werde» bei diesen Gelegenheiten Rede» gehalten »»d häufig auch durch die Presse oder besondern Druck verbreitet, die nur zu lebhaft an die Rede des Antonius bei der Leiche Cäsars emmeru und die jedes polnische Herz in nationaler Erregung erzittern lassen. Die ganze polnische Gesellschaft kennt sich untereinander, ist mit ihre» gegen¬ seitigen Angelegenheiten und persönlichen Verhältnissen genau vertraut, die Mäuner sind vou der Schule her, die Frauen von den wenigen Klöstern, denen der polnische Adel seine Tochter zur Erziehung mizuvertrauen pflegt, mit ein¬ ander befreundet. Trotz aller kleinen Eifersüchteleien und Feindschaften zwischen den einzelnen Familien, und namentlich zwischen dem höhern alten Maguaten- adel und der putltv N0v1v88o, bildet der polnische Adel doch eine in sich fest geschlossene Korporativ», die ein stets bereites, williges Werkzeug in der Hand ihrer Führer ist. In jedem Kreise Pflegen einige angesehene Edelleute, die ihre Standesgenossen durch persönliche Thatkraft und Begabung überragen, die aus¬ gesprochene und allgemein anerkannte Führerrvlle zu spielen. Sie bernfei: die öffentlichem Versammlungen, leiten dieselben, find die Hauptvertrauensmäuner des Zentralwahlkomitees und treten in de» Kreisversammlungen als Redner und Wortführer der polnischem Kreistagsmitglieder auf. Das gesellschaftliche Verhältnis des polnischen Klerus innerhalb des pol¬ nischen Adels macht den Eindruck, als ob der niedere polnische Klerus, der fast ausnahmslos aus dem Bauern- oder Kleiubürgerftandc hervorgeht, eine etwas

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198065/405>, abgerufen am 24.07.2024.