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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal.

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Straßburger versassungslebon,

jeden ersten Donnerstag nach Neujahr vorgenommen werden und zwar von den
zwanzig zünftlerischen Ratsherren in der Frühe; nur völlig unbescholtene und
unabhängige Leute konnten zu dieser Stelle gewählt werden.

Höchst feierlich war nach der Ainmcisterwahl die Vereidigung der gesamten
Bürgerschaft auf den Schwörbrief. Das geschah früher in des Bischofs Garten,
dem heutigen Schlosse, sehr bald aber auf freiem Platze dicht vor dem Münster-
Portal. Dort wurde ein Holzgerüst aufgeschlagen, mit Teppichen und in der
Mitte mit rot und weißem Damast behängt und darüber ein Baldachin auf¬
gerichtet. Nachdem der Anflug auf dem Münsterturm mit Wachen besetzt und
Berittene auf die vier Hauptstraßen hinaus entsendet waren, ging die Feierlich¬
keit vor sich. Früh um 7 Uhr versammelten sich die Zünfte auf den Stuben,
wo ihnen der Schwörbrief und einige alte Ordnungen vorgelesen wurden. Um
i/z9 Uhr fing die Ratsglocke des Münsters^) an zu läuten, und die Zünfte
zogen dem Münster zu. Auf dem Holzgerüste stellte" sich die Rats- und Ober¬
herren auf, die übrigen unten im Kreise. Dann riefen die Stadtknechte dreimal:
"Ihr Herren trett hernach und hört in Gottes Namen!" Einer der Herren
Fünfzehner verlas den Schwörbrief, und nun wurden die Meister und Räte
vereidigt, die Zünfte und alles Volk; wer nicht dawar, mußte später auf seiner
Zunftstube nachschwöreu. Am Schlüsse rief der Stettmeister dem Volke zu:
"Glück, Heil, Segen, langes Leben woll Gott euch und uns allen geben!" Und
"alsbald gehen unter Paneten- und Trommeten-Schalle die Herren wieder von
dem Gerüste und läuft alles auseinander." Zwei Tage darauf war die Nats-
predigt im Münster, bei welcher die ganze offizielle Welt erschien, und am
Sonntag nach dem Schwörtag hielt der neue Ammeister eine Umfahrt auf den
Zunftstnben, wo er in feierlicher Weise eine festgesetzte Ansprache hielt und die
Zunftgenossen zur Gesetzmäßigkeit und Verträglichkeit aufforderte, eine feierliche
Handlung, welche vier bis fünf Stunden in Anspruch nahm.

Dies alles wurde dem prachtliebenden Sinne der Alemannen gemäß mit
großem Prunk vollzogen, und ein wirkungsvolleres Bild kann man sich wohl
kaum denken als beispielsweise den Schwörtag vor dem Münsterportal. Da
standen die freien Bürger, die Handwerker und Edelleute, alle gleich vor der
geweihten Verfassungsurkunde, und schworen einander von neuem Treue. Und
über alle ragte das ehrwürdige Münster empor, welches Geschlechter kommen
und schwinden sah, bis -- eines Tages die feierliche Versammlung da unten
ausblieb; ein schwerer Sturm war über die Vogesen hereingebrochen und hatte
den ganzen stolzen Verfassungsbau wie Spreu hinweggefegt.

An Erwins Dome erhob sich diese Verfassung, selbst ein herrlicher, hoch¬
strebender Bau, in dessen weiten Hallen die alten Straßburger friedfertig ihre



*) Da um 9 Uhr geschworen werden sollte, durfte es nicht eher 9 Uhr schlagen, als
bis alles versammelt war, selbst wenn die Mi'msteruhr inzwischen angehalten werden musste.
Straßburger versassungslebon,

jeden ersten Donnerstag nach Neujahr vorgenommen werden und zwar von den
zwanzig zünftlerischen Ratsherren in der Frühe; nur völlig unbescholtene und
unabhängige Leute konnten zu dieser Stelle gewählt werden.

Höchst feierlich war nach der Ainmcisterwahl die Vereidigung der gesamten
Bürgerschaft auf den Schwörbrief. Das geschah früher in des Bischofs Garten,
dem heutigen Schlosse, sehr bald aber auf freiem Platze dicht vor dem Münster-
Portal. Dort wurde ein Holzgerüst aufgeschlagen, mit Teppichen und in der
Mitte mit rot und weißem Damast behängt und darüber ein Baldachin auf¬
gerichtet. Nachdem der Anflug auf dem Münsterturm mit Wachen besetzt und
Berittene auf die vier Hauptstraßen hinaus entsendet waren, ging die Feierlich¬
keit vor sich. Früh um 7 Uhr versammelten sich die Zünfte auf den Stuben,
wo ihnen der Schwörbrief und einige alte Ordnungen vorgelesen wurden. Um
i/z9 Uhr fing die Ratsglocke des Münsters^) an zu läuten, und die Zünfte
zogen dem Münster zu. Auf dem Holzgerüste stellte» sich die Rats- und Ober¬
herren auf, die übrigen unten im Kreise. Dann riefen die Stadtknechte dreimal:
„Ihr Herren trett hernach und hört in Gottes Namen!" Einer der Herren
Fünfzehner verlas den Schwörbrief, und nun wurden die Meister und Räte
vereidigt, die Zünfte und alles Volk; wer nicht dawar, mußte später auf seiner
Zunftstube nachschwöreu. Am Schlüsse rief der Stettmeister dem Volke zu:
„Glück, Heil, Segen, langes Leben woll Gott euch und uns allen geben!" Und
„alsbald gehen unter Paneten- und Trommeten-Schalle die Herren wieder von
dem Gerüste und läuft alles auseinander." Zwei Tage darauf war die Nats-
predigt im Münster, bei welcher die ganze offizielle Welt erschien, und am
Sonntag nach dem Schwörtag hielt der neue Ammeister eine Umfahrt auf den
Zunftstnben, wo er in feierlicher Weise eine festgesetzte Ansprache hielt und die
Zunftgenossen zur Gesetzmäßigkeit und Verträglichkeit aufforderte, eine feierliche
Handlung, welche vier bis fünf Stunden in Anspruch nahm.

Dies alles wurde dem prachtliebenden Sinne der Alemannen gemäß mit
großem Prunk vollzogen, und ein wirkungsvolleres Bild kann man sich wohl
kaum denken als beispielsweise den Schwörtag vor dem Münsterportal. Da
standen die freien Bürger, die Handwerker und Edelleute, alle gleich vor der
geweihten Verfassungsurkunde, und schworen einander von neuem Treue. Und
über alle ragte das ehrwürdige Münster empor, welches Geschlechter kommen
und schwinden sah, bis — eines Tages die feierliche Versammlung da unten
ausblieb; ein schwerer Sturm war über die Vogesen hereingebrochen und hatte
den ganzen stolzen Verfassungsbau wie Spreu hinweggefegt.

An Erwins Dome erhob sich diese Verfassung, selbst ein herrlicher, hoch¬
strebender Bau, in dessen weiten Hallen die alten Straßburger friedfertig ihre



*) Da um 9 Uhr geschworen werden sollte, durfte es nicht eher 9 Uhr schlagen, als
bis alles versammelt war, selbst wenn die Mi'msteruhr inzwischen angehalten werden musste.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198065/364>, abgerufen am 27.09.2024.