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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal.

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Straßburger Verfassungsleben.

mußten die Xlllcr in Geld- und Personenangelegenheiten den Rat befragen,
durften aber nach wie vor Gesandte abschicken und die Mannschaften der Stadt
auf den Kriegspfad senden. Gebildet wurde die Kammer der XHIer aus dem
Ammeister, vier Adlichen und acht Handwerkern, von denen vier frühere Am-
meister sein mußten.

Daneben stand die Kammer der XVer, geschaffen im Jahre 1433 aus der
Erkenntnis heraus, daß es nötig sei, die Ausführung der Verordnungen zu
überwachen. Als eine Art Staats- und Verwaltungsgerichtshof, dem kein in
Amt befindlicher Staatsbeamter angehören durfte und der sich selbst ergänzte,
bestand sie aus fünf Adlichen und zehn Handwerkern, von denen keiner uuter
33 Jahre alt sein durfte; seit 1554 mußte jeder XVer vorher einmal Rat oder
Schöffe gewesen sein. Aus dieser die Gesetze überwachenden Kammer entwickelte
sich allmählich eine gesetzgebende Behörde, welche schließlich die ganze innere
Verwaltung unter sich hatte.

Die Summe aller Lebensklugheit und Staatsweisheit des alten Straßburg
saß aber in der Kammer der XXIer. Diese war nur zusammengesetzt aus ehr¬
würdigen Männern, welche lange Jahre hindurch sich im öffentlichen Dienste
bewährt hatten. Sie wurden auf fünf Jahre gewählt und bei der dann folgenden
zweiten Wahl lebenslänglich. Nach der 1474 niedcrgeschriebncn XXIer-Ordnung
mußten diese "alten Herren" bei allen Angelegenheiten -- außer in Sachen
von Erbe, Eigentum und Unfug -- um Rat gefragt werden. Die meisten
Natsbeschlüsse erfolgten daher vom "Rat und XXIern." Selbstverständlich war
diese Kammer sehr bald verquickt mit den Xlllern und XVern, sodaß "ledige"
XXIer -- das heißt solche, die nur bei den XXIern saßen -- stets wenig vor¬
handen waren.

Schließlich gab es noch feste, besoldete, gewissermaßen niedrige Ämter, die
der Schreiber, Rentmeister, Zinsmeister und andrer, deren Besetzung aus der
Mitte und auf Empfehlung der Zünfte erfolgte. Eine im heutigen Sinne
strenge Abscheidung dieser niedrigern Ämter nach Bildung und gesellschaftlicher
Stellung hat es aber im alten freien Straßburg nie gegeben. Überhaupt beruht
ja die Hauptkraft dieser Verfassung auf der innigen Vermischung aller Elemente.
Jeder konnte zu den Würden in Staat und Zunft gelangen, nach dem höhern
oder geringern Grade von eigner Tüchtigkeit und öffentlichem Vertrauen. Durch
den in dem fein durchdachten Wahlsystem begründeten Stoffwechsel wurde der
politische Sinn im Volke fortwährend rege gehalten, wurde den einzelnen
Körperschaften immer wieder frisches Blut zugeführt, erhielt das Staatswesen
immer neue Schwungkraft. Der Wert der Verfassung an sich wird dadurch
nicht gemindert, daß sich die Machtverhültnifse der einzelnen Gewalten allmählich
verschoben, daß der Ammeister zu einer Repräsentativnsgestalt verblaßte, der
Rat seine Bedeutung an die Schösfenverscnnmlung verlor, und das "beständige
Regiment" die wirkliche Herrschaft in die Hände bekam. Die Grundzüge der


Straßburger Verfassungsleben.

mußten die Xlllcr in Geld- und Personenangelegenheiten den Rat befragen,
durften aber nach wie vor Gesandte abschicken und die Mannschaften der Stadt
auf den Kriegspfad senden. Gebildet wurde die Kammer der XHIer aus dem
Ammeister, vier Adlichen und acht Handwerkern, von denen vier frühere Am-
meister sein mußten.

Daneben stand die Kammer der XVer, geschaffen im Jahre 1433 aus der
Erkenntnis heraus, daß es nötig sei, die Ausführung der Verordnungen zu
überwachen. Als eine Art Staats- und Verwaltungsgerichtshof, dem kein in
Amt befindlicher Staatsbeamter angehören durfte und der sich selbst ergänzte,
bestand sie aus fünf Adlichen und zehn Handwerkern, von denen keiner uuter
33 Jahre alt sein durfte; seit 1554 mußte jeder XVer vorher einmal Rat oder
Schöffe gewesen sein. Aus dieser die Gesetze überwachenden Kammer entwickelte
sich allmählich eine gesetzgebende Behörde, welche schließlich die ganze innere
Verwaltung unter sich hatte.

Die Summe aller Lebensklugheit und Staatsweisheit des alten Straßburg
saß aber in der Kammer der XXIer. Diese war nur zusammengesetzt aus ehr¬
würdigen Männern, welche lange Jahre hindurch sich im öffentlichen Dienste
bewährt hatten. Sie wurden auf fünf Jahre gewählt und bei der dann folgenden
zweiten Wahl lebenslänglich. Nach der 1474 niedcrgeschriebncn XXIer-Ordnung
mußten diese „alten Herren" bei allen Angelegenheiten — außer in Sachen
von Erbe, Eigentum und Unfug — um Rat gefragt werden. Die meisten
Natsbeschlüsse erfolgten daher vom „Rat und XXIern." Selbstverständlich war
diese Kammer sehr bald verquickt mit den Xlllern und XVern, sodaß „ledige"
XXIer — das heißt solche, die nur bei den XXIern saßen — stets wenig vor¬
handen waren.

Schließlich gab es noch feste, besoldete, gewissermaßen niedrige Ämter, die
der Schreiber, Rentmeister, Zinsmeister und andrer, deren Besetzung aus der
Mitte und auf Empfehlung der Zünfte erfolgte. Eine im heutigen Sinne
strenge Abscheidung dieser niedrigern Ämter nach Bildung und gesellschaftlicher
Stellung hat es aber im alten freien Straßburg nie gegeben. Überhaupt beruht
ja die Hauptkraft dieser Verfassung auf der innigen Vermischung aller Elemente.
Jeder konnte zu den Würden in Staat und Zunft gelangen, nach dem höhern
oder geringern Grade von eigner Tüchtigkeit und öffentlichem Vertrauen. Durch
den in dem fein durchdachten Wahlsystem begründeten Stoffwechsel wurde der
politische Sinn im Volke fortwährend rege gehalten, wurde den einzelnen
Körperschaften immer wieder frisches Blut zugeführt, erhielt das Staatswesen
immer neue Schwungkraft. Der Wert der Verfassung an sich wird dadurch
nicht gemindert, daß sich die Machtverhültnifse der einzelnen Gewalten allmählich
verschoben, daß der Ammeister zu einer Repräsentativnsgestalt verblaßte, der
Rat seine Bedeutung an die Schösfenverscnnmlung verlor, und das „beständige
Regiment" die wirkliche Herrschaft in die Hände bekam. Die Grundzüge der


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[0362] Straßburger Verfassungsleben. mußten die Xlllcr in Geld- und Personenangelegenheiten den Rat befragen, durften aber nach wie vor Gesandte abschicken und die Mannschaften der Stadt auf den Kriegspfad senden. Gebildet wurde die Kammer der XHIer aus dem Ammeister, vier Adlichen und acht Handwerkern, von denen vier frühere Am- meister sein mußten. Daneben stand die Kammer der XVer, geschaffen im Jahre 1433 aus der Erkenntnis heraus, daß es nötig sei, die Ausführung der Verordnungen zu überwachen. Als eine Art Staats- und Verwaltungsgerichtshof, dem kein in Amt befindlicher Staatsbeamter angehören durfte und der sich selbst ergänzte, bestand sie aus fünf Adlichen und zehn Handwerkern, von denen keiner uuter 33 Jahre alt sein durfte; seit 1554 mußte jeder XVer vorher einmal Rat oder Schöffe gewesen sein. Aus dieser die Gesetze überwachenden Kammer entwickelte sich allmählich eine gesetzgebende Behörde, welche schließlich die ganze innere Verwaltung unter sich hatte. Die Summe aller Lebensklugheit und Staatsweisheit des alten Straßburg saß aber in der Kammer der XXIer. Diese war nur zusammengesetzt aus ehr¬ würdigen Männern, welche lange Jahre hindurch sich im öffentlichen Dienste bewährt hatten. Sie wurden auf fünf Jahre gewählt und bei der dann folgenden zweiten Wahl lebenslänglich. Nach der 1474 niedcrgeschriebncn XXIer-Ordnung mußten diese „alten Herren" bei allen Angelegenheiten — außer in Sachen von Erbe, Eigentum und Unfug — um Rat gefragt werden. Die meisten Natsbeschlüsse erfolgten daher vom „Rat und XXIern." Selbstverständlich war diese Kammer sehr bald verquickt mit den Xlllern und XVern, sodaß „ledige" XXIer — das heißt solche, die nur bei den XXIern saßen — stets wenig vor¬ handen waren. Schließlich gab es noch feste, besoldete, gewissermaßen niedrige Ämter, die der Schreiber, Rentmeister, Zinsmeister und andrer, deren Besetzung aus der Mitte und auf Empfehlung der Zünfte erfolgte. Eine im heutigen Sinne strenge Abscheidung dieser niedrigern Ämter nach Bildung und gesellschaftlicher Stellung hat es aber im alten freien Straßburg nie gegeben. Überhaupt beruht ja die Hauptkraft dieser Verfassung auf der innigen Vermischung aller Elemente. Jeder konnte zu den Würden in Staat und Zunft gelangen, nach dem höhern oder geringern Grade von eigner Tüchtigkeit und öffentlichem Vertrauen. Durch den in dem fein durchdachten Wahlsystem begründeten Stoffwechsel wurde der politische Sinn im Volke fortwährend rege gehalten, wurde den einzelnen Körperschaften immer wieder frisches Blut zugeführt, erhielt das Staatswesen immer neue Schwungkraft. Der Wert der Verfassung an sich wird dadurch nicht gemindert, daß sich die Machtverhültnifse der einzelnen Gewalten allmählich verschoben, daß der Ammeister zu einer Repräsentativnsgestalt verblaßte, der Rat seine Bedeutung an die Schösfenverscnnmlung verlor, und das „beständige Regiment" die wirkliche Herrschaft in die Hände bekam. Die Grundzüge der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198065/362>, abgerufen am 27.09.2024.