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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal.

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Straßburger Verfassungsleben.

die natürlich allmählich zum Mißbrauch und schließlich zur festen Besoldung
führen mußte.

Der ungemein verwickelte Bau der städtischen Verfassung selbst wird von
den elsässischen Geschichtsfreunden nicht mit Unrecht als ein "Labyrinth" be¬
zeichnet; die vielverschlungnen Gänge der alten Verwaltung sind ja jetzt umso
schwerer zu erkennen, je gründlicher die Zerstörung gewesen ist. Ich hoffe aber,
nach dem hier bereits ausgeführten deutlich sein zu können. Den Ariadnefaden
in diesem Labyrinth giebt die Verfassung der Zünfte. Aus der Mitte der
letztern wurde die gebietende Mehrheit der Ratsherren gebildet, und an den Rat
gliederten sich die Kammern des "beständigen Regiments"; an die Zünfte oder
vielmehr an ihre unmittelbaren Vertreter, die dreihundert Schöffen, zurück ging
die Entscheidung in allen wichtigen Fragen, und der oberste aller Zunftgenossen,
der Ammeister, war das Oberhaupt des ganzen Staatswesens. Neben diesem
regierenden Oberhaupte gab es aber noch vier besondre Regierer, die vier adlichen
Seele- oder Städtmeister, von denen jeder auf zwei Jahre gewählt wurde, ein
Vierteljahr lang die Geschäfte leitete und das Siegel führte; die Natsverordnungen
gingen von dem Stettmcister aus und huben demnach an: "Wir, der Meister
und der Rat erkennen n. s. w." Wenn man einen Vergleich mit der heutigen
französischen Republik ziehen will, so kann man den Ammeister als den Präsidenten
der Republik, die Stettmcister als verantwortliche Minister und den jeweils
regierenden Stettmeister als den Ministerpräsidenten bezeichnen. Dabei beugte
der unmittelbaren Beunruhigung des Staatswesens durch Parteikämpfe jener
fortwährende Wechsel im Amte vor, der jeden einmal an die Reihe brachte und
in dem fein organisirten Wahlsystem sein Korrektiv fand. Um aber eine gewisse
Beständigkeit im Regiment, eine Geschäftsüberlieferung zu haben, wurden all¬
jährlich nnr zwei von den vier Stettmeistern neu gewählt. Eine gleiche Rücksicht
galt bei der Ratswahl; früher wurde der ganze Rat alle Jahre neu gewählt,
aber schon vom fünfzehnten Jahrhundert ab jährlich nnr die Hälfte. Der große
Rat zählte dreißig Mitglieder, von denen zwanzig durch die zwanzig Zünfte,
zehn durch die adlichen Stuben bestellt wurden; den Vorsitz im Rate führte
der Ammeister. Als eine Art Unterausschuß ist der aus sechzehn Zttnftischen
und sechs Adlichen bestehende kleine Rat anzusehen, welcher in Sachen der
Rechtspflege und Polizei gebot.

Die eigentliche ausführende Regierungsgewalt lag bei den drei Kammern des
"beständigen Regiments," den Dreizehnern, Fnnfzehnern und Einnndzwanzigern.
Die bedeutendste von diesen drei war die Kammer der Xlller, welche ursprünglich
aus neun, seit 1448 aus zwölf und schließlich aus dreizehn Mitgliedern bestand.
Die XHIer hatten die größte Gewalt, denn in ihrer Hand lag der Verkehr nach
anßen, das Kriegswesen und die Diplomatie. Durch ihre Hände ging der
Verkehr mit Kaiser und Reich, sie bestimmten über Krieg und Frieden. Im
Jahre 1448 wurde die Gewalt dieser Kammer enger umgrenzt; von da ab


Grenzboten II. 1886. 45
Straßburger Verfassungsleben.

die natürlich allmählich zum Mißbrauch und schließlich zur festen Besoldung
führen mußte.

Der ungemein verwickelte Bau der städtischen Verfassung selbst wird von
den elsässischen Geschichtsfreunden nicht mit Unrecht als ein „Labyrinth" be¬
zeichnet; die vielverschlungnen Gänge der alten Verwaltung sind ja jetzt umso
schwerer zu erkennen, je gründlicher die Zerstörung gewesen ist. Ich hoffe aber,
nach dem hier bereits ausgeführten deutlich sein zu können. Den Ariadnefaden
in diesem Labyrinth giebt die Verfassung der Zünfte. Aus der Mitte der
letztern wurde die gebietende Mehrheit der Ratsherren gebildet, und an den Rat
gliederten sich die Kammern des „beständigen Regiments"; an die Zünfte oder
vielmehr an ihre unmittelbaren Vertreter, die dreihundert Schöffen, zurück ging
die Entscheidung in allen wichtigen Fragen, und der oberste aller Zunftgenossen,
der Ammeister, war das Oberhaupt des ganzen Staatswesens. Neben diesem
regierenden Oberhaupte gab es aber noch vier besondre Regierer, die vier adlichen
Seele- oder Städtmeister, von denen jeder auf zwei Jahre gewählt wurde, ein
Vierteljahr lang die Geschäfte leitete und das Siegel führte; die Natsverordnungen
gingen von dem Stettmcister aus und huben demnach an: „Wir, der Meister
und der Rat erkennen n. s. w." Wenn man einen Vergleich mit der heutigen
französischen Republik ziehen will, so kann man den Ammeister als den Präsidenten
der Republik, die Stettmcister als verantwortliche Minister und den jeweils
regierenden Stettmeister als den Ministerpräsidenten bezeichnen. Dabei beugte
der unmittelbaren Beunruhigung des Staatswesens durch Parteikämpfe jener
fortwährende Wechsel im Amte vor, der jeden einmal an die Reihe brachte und
in dem fein organisirten Wahlsystem sein Korrektiv fand. Um aber eine gewisse
Beständigkeit im Regiment, eine Geschäftsüberlieferung zu haben, wurden all¬
jährlich nnr zwei von den vier Stettmeistern neu gewählt. Eine gleiche Rücksicht
galt bei der Ratswahl; früher wurde der ganze Rat alle Jahre neu gewählt,
aber schon vom fünfzehnten Jahrhundert ab jährlich nnr die Hälfte. Der große
Rat zählte dreißig Mitglieder, von denen zwanzig durch die zwanzig Zünfte,
zehn durch die adlichen Stuben bestellt wurden; den Vorsitz im Rate führte
der Ammeister. Als eine Art Unterausschuß ist der aus sechzehn Zttnftischen
und sechs Adlichen bestehende kleine Rat anzusehen, welcher in Sachen der
Rechtspflege und Polizei gebot.

Die eigentliche ausführende Regierungsgewalt lag bei den drei Kammern des
„beständigen Regiments," den Dreizehnern, Fnnfzehnern und Einnndzwanzigern.
Die bedeutendste von diesen drei war die Kammer der Xlller, welche ursprünglich
aus neun, seit 1448 aus zwölf und schließlich aus dreizehn Mitgliedern bestand.
Die XHIer hatten die größte Gewalt, denn in ihrer Hand lag der Verkehr nach
anßen, das Kriegswesen und die Diplomatie. Durch ihre Hände ging der
Verkehr mit Kaiser und Reich, sie bestimmten über Krieg und Frieden. Im
Jahre 1448 wurde die Gewalt dieser Kammer enger umgrenzt; von da ab


Grenzboten II. 1886. 45
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[0361] Straßburger Verfassungsleben. die natürlich allmählich zum Mißbrauch und schließlich zur festen Besoldung führen mußte. Der ungemein verwickelte Bau der städtischen Verfassung selbst wird von den elsässischen Geschichtsfreunden nicht mit Unrecht als ein „Labyrinth" be¬ zeichnet; die vielverschlungnen Gänge der alten Verwaltung sind ja jetzt umso schwerer zu erkennen, je gründlicher die Zerstörung gewesen ist. Ich hoffe aber, nach dem hier bereits ausgeführten deutlich sein zu können. Den Ariadnefaden in diesem Labyrinth giebt die Verfassung der Zünfte. Aus der Mitte der letztern wurde die gebietende Mehrheit der Ratsherren gebildet, und an den Rat gliederten sich die Kammern des „beständigen Regiments"; an die Zünfte oder vielmehr an ihre unmittelbaren Vertreter, die dreihundert Schöffen, zurück ging die Entscheidung in allen wichtigen Fragen, und der oberste aller Zunftgenossen, der Ammeister, war das Oberhaupt des ganzen Staatswesens. Neben diesem regierenden Oberhaupte gab es aber noch vier besondre Regierer, die vier adlichen Seele- oder Städtmeister, von denen jeder auf zwei Jahre gewählt wurde, ein Vierteljahr lang die Geschäfte leitete und das Siegel führte; die Natsverordnungen gingen von dem Stettmcister aus und huben demnach an: „Wir, der Meister und der Rat erkennen n. s. w." Wenn man einen Vergleich mit der heutigen französischen Republik ziehen will, so kann man den Ammeister als den Präsidenten der Republik, die Stettmcister als verantwortliche Minister und den jeweils regierenden Stettmeister als den Ministerpräsidenten bezeichnen. Dabei beugte der unmittelbaren Beunruhigung des Staatswesens durch Parteikämpfe jener fortwährende Wechsel im Amte vor, der jeden einmal an die Reihe brachte und in dem fein organisirten Wahlsystem sein Korrektiv fand. Um aber eine gewisse Beständigkeit im Regiment, eine Geschäftsüberlieferung zu haben, wurden all¬ jährlich nnr zwei von den vier Stettmeistern neu gewählt. Eine gleiche Rücksicht galt bei der Ratswahl; früher wurde der ganze Rat alle Jahre neu gewählt, aber schon vom fünfzehnten Jahrhundert ab jährlich nnr die Hälfte. Der große Rat zählte dreißig Mitglieder, von denen zwanzig durch die zwanzig Zünfte, zehn durch die adlichen Stuben bestellt wurden; den Vorsitz im Rate führte der Ammeister. Als eine Art Unterausschuß ist der aus sechzehn Zttnftischen und sechs Adlichen bestehende kleine Rat anzusehen, welcher in Sachen der Rechtspflege und Polizei gebot. Die eigentliche ausführende Regierungsgewalt lag bei den drei Kammern des „beständigen Regiments," den Dreizehnern, Fnnfzehnern und Einnndzwanzigern. Die bedeutendste von diesen drei war die Kammer der Xlller, welche ursprünglich aus neun, seit 1448 aus zwölf und schließlich aus dreizehn Mitgliedern bestand. Die XHIer hatten die größte Gewalt, denn in ihrer Hand lag der Verkehr nach anßen, das Kriegswesen und die Diplomatie. Durch ihre Hände ging der Verkehr mit Kaiser und Reich, sie bestimmten über Krieg und Frieden. Im Jahre 1448 wurde die Gewalt dieser Kammer enger umgrenzt; von da ab Grenzboten II. 1886. 45

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198065/361>, abgerufen am 27.09.2024.