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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal.

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Zur Kritik des deutschen Strafsystems.

und dann keine Behandlung und Strafe hart genug finden, um jene nieder¬
zudrücken oder, wie sie sagen, für die menschliche Gesellschaft unschädlich zu
mache". In dieser Stimmung und von diesem Standpunkte aus läßt sich aber
keine unbefangne Kritik eines Gesetzes erwarten; denn diejenigen, die sie üben,
werden von vornherein geneigt sein, in der Mangelhaftigkeit des Gesetzes die
Erklärung und die Schuld für jene Mängel und Unvollkommenheiten zu suchen,
welche nun einmal von menschlichen Dingen überhaupt, am wenigsten aber von
dem so schwierigen Amte der Strafjustiz (und es handelt sich ja nur um
menschliche und nicht um göttliche Gerechtigkeit!) niemals vollständig zu trennen
sein werden. Die Kritiker dieser Art geraten dann, da sie mit vorgefaßter Mei¬
nung an ihren Gegenstand herantreten, nur zu leicht in die Gefahr, ans ge¬
wissen gegebnen Prämissen Schlüsse zu ziehen, die nur eine scheinbare Nichtig¬
keit haben, sowie sie anderseits rasch dabei sind, einzelne Fälle zu verallgemeinern
und zur Bedeutung typischer Erscheinungen aufzubauschen.

Hierin scheinen uns auch die Hauptgebrcchen der Schmöldcrschen Beweis¬
führung zu liegen. Was namentlich das mit so viel Nachdruck geltend gemachte
Anwachsen der Zahl der Sträflinge im allgemeinen und der Rückfälligen im
besondern betrifft, so läßt sich aus dieser Thatsache allein noch durchaus kein
sicherer Beweis für die Reformbcdürftigkeit der heutigen Strafgesetzgebung und
für die Zwecklosigkeit aller Bessernngsbestrebnngcn ableiten. Um hier zu halb¬
wegs sichern Schlüssen zu gelangen, muß vor allem berücksichtigt werden, daß,
wie Schmölder selbst zugiebt, etwa vier Fünftel aller Gefangnen nnr wegen
eines unbedeutenden Fehltritts kurze Strafen zu verbüßen haben. Ferner müßte
sich der statistische Nachweis sowohl auf die einzelnen Vergehen, als auch auf
die Beweggründe der That und die Person (Stand. Beschäftigung) des Thäters
erstrecken. Da wurde gewiß ein mannichfach verändertes Ergebnis zum Vor¬
schein kommen. Es würde sich zeigen, daß das Anwachsen der Sträflingsziffer,
welches dann überhaupt in weit geringerm Maße in Betracht käme, zum größten
Teil ans sehr natürliche Weise zu erklären wäre, ohne daß man diese Er¬
scheinung auf Rechnung unsrer Strafgesetzgebung zu setzen brauchte. Mau
würde bei dieser Untersuchvng finden, daß das unaufhaltsame Vorwärtsschreiten
des Menschengeschlechtes, welches eine fieberhafte Bewegung auf allen Erwcrbs-
gebieten, eine stets zunehmende Vergrößerung der Bedürfnisse und Schwierigkeit
ihrer vollständigen Befriedigung, eine früher ungeahnte Verwicklung aller Lebens-
verhältnisse erzeugt, den Kampf uns Dasein immer härter gestaltet und in
diesem Kampfe den Menschen auch immer leichter und häufiger in Widerstreit
mit den Einrichtungen der menschlichen Gesellschaft bringen muß. Hier, und
nicht auf dem Gebiete der Strafjustiz, ist der Punkt, wo die Reformbestrebungen
>n erster Linie anzusetzen haben, und zum Glück für die Gesellschaft haben dies
auch schon erleuchtete und weitblickende Staatsmänner längst erkannt. Sind
aber einmal die sozialen Reformen in richtiger und umfassender Weise durch-


Zur Kritik des deutschen Strafsystems.

und dann keine Behandlung und Strafe hart genug finden, um jene nieder¬
zudrücken oder, wie sie sagen, für die menschliche Gesellschaft unschädlich zu
mache». In dieser Stimmung und von diesem Standpunkte aus läßt sich aber
keine unbefangne Kritik eines Gesetzes erwarten; denn diejenigen, die sie üben,
werden von vornherein geneigt sein, in der Mangelhaftigkeit des Gesetzes die
Erklärung und die Schuld für jene Mängel und Unvollkommenheiten zu suchen,
welche nun einmal von menschlichen Dingen überhaupt, am wenigsten aber von
dem so schwierigen Amte der Strafjustiz (und es handelt sich ja nur um
menschliche und nicht um göttliche Gerechtigkeit!) niemals vollständig zu trennen
sein werden. Die Kritiker dieser Art geraten dann, da sie mit vorgefaßter Mei¬
nung an ihren Gegenstand herantreten, nur zu leicht in die Gefahr, ans ge¬
wissen gegebnen Prämissen Schlüsse zu ziehen, die nur eine scheinbare Nichtig¬
keit haben, sowie sie anderseits rasch dabei sind, einzelne Fälle zu verallgemeinern
und zur Bedeutung typischer Erscheinungen aufzubauschen.

Hierin scheinen uns auch die Hauptgebrcchen der Schmöldcrschen Beweis¬
führung zu liegen. Was namentlich das mit so viel Nachdruck geltend gemachte
Anwachsen der Zahl der Sträflinge im allgemeinen und der Rückfälligen im
besondern betrifft, so läßt sich aus dieser Thatsache allein noch durchaus kein
sicherer Beweis für die Reformbcdürftigkeit der heutigen Strafgesetzgebung und
für die Zwecklosigkeit aller Bessernngsbestrebnngcn ableiten. Um hier zu halb¬
wegs sichern Schlüssen zu gelangen, muß vor allem berücksichtigt werden, daß,
wie Schmölder selbst zugiebt, etwa vier Fünftel aller Gefangnen nnr wegen
eines unbedeutenden Fehltritts kurze Strafen zu verbüßen haben. Ferner müßte
sich der statistische Nachweis sowohl auf die einzelnen Vergehen, als auch auf
die Beweggründe der That und die Person (Stand. Beschäftigung) des Thäters
erstrecken. Da wurde gewiß ein mannichfach verändertes Ergebnis zum Vor¬
schein kommen. Es würde sich zeigen, daß das Anwachsen der Sträflingsziffer,
welches dann überhaupt in weit geringerm Maße in Betracht käme, zum größten
Teil ans sehr natürliche Weise zu erklären wäre, ohne daß man diese Er¬
scheinung auf Rechnung unsrer Strafgesetzgebung zu setzen brauchte. Mau
würde bei dieser Untersuchvng finden, daß das unaufhaltsame Vorwärtsschreiten
des Menschengeschlechtes, welches eine fieberhafte Bewegung auf allen Erwcrbs-
gebieten, eine stets zunehmende Vergrößerung der Bedürfnisse und Schwierigkeit
ihrer vollständigen Befriedigung, eine früher ungeahnte Verwicklung aller Lebens-
verhältnisse erzeugt, den Kampf uns Dasein immer härter gestaltet und in
diesem Kampfe den Menschen auch immer leichter und häufiger in Widerstreit
mit den Einrichtungen der menschlichen Gesellschaft bringen muß. Hier, und
nicht auf dem Gebiete der Strafjustiz, ist der Punkt, wo die Reformbestrebungen
>n erster Linie anzusetzen haben, und zum Glück für die Gesellschaft haben dies
auch schon erleuchtete und weitblickende Staatsmänner längst erkannt. Sind
aber einmal die sozialen Reformen in richtiger und umfassender Weise durch-


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[0335] Zur Kritik des deutschen Strafsystems. und dann keine Behandlung und Strafe hart genug finden, um jene nieder¬ zudrücken oder, wie sie sagen, für die menschliche Gesellschaft unschädlich zu mache». In dieser Stimmung und von diesem Standpunkte aus läßt sich aber keine unbefangne Kritik eines Gesetzes erwarten; denn diejenigen, die sie üben, werden von vornherein geneigt sein, in der Mangelhaftigkeit des Gesetzes die Erklärung und die Schuld für jene Mängel und Unvollkommenheiten zu suchen, welche nun einmal von menschlichen Dingen überhaupt, am wenigsten aber von dem so schwierigen Amte der Strafjustiz (und es handelt sich ja nur um menschliche und nicht um göttliche Gerechtigkeit!) niemals vollständig zu trennen sein werden. Die Kritiker dieser Art geraten dann, da sie mit vorgefaßter Mei¬ nung an ihren Gegenstand herantreten, nur zu leicht in die Gefahr, ans ge¬ wissen gegebnen Prämissen Schlüsse zu ziehen, die nur eine scheinbare Nichtig¬ keit haben, sowie sie anderseits rasch dabei sind, einzelne Fälle zu verallgemeinern und zur Bedeutung typischer Erscheinungen aufzubauschen. Hierin scheinen uns auch die Hauptgebrcchen der Schmöldcrschen Beweis¬ führung zu liegen. Was namentlich das mit so viel Nachdruck geltend gemachte Anwachsen der Zahl der Sträflinge im allgemeinen und der Rückfälligen im besondern betrifft, so läßt sich aus dieser Thatsache allein noch durchaus kein sicherer Beweis für die Reformbcdürftigkeit der heutigen Strafgesetzgebung und für die Zwecklosigkeit aller Bessernngsbestrebnngcn ableiten. Um hier zu halb¬ wegs sichern Schlüssen zu gelangen, muß vor allem berücksichtigt werden, daß, wie Schmölder selbst zugiebt, etwa vier Fünftel aller Gefangnen nnr wegen eines unbedeutenden Fehltritts kurze Strafen zu verbüßen haben. Ferner müßte sich der statistische Nachweis sowohl auf die einzelnen Vergehen, als auch auf die Beweggründe der That und die Person (Stand. Beschäftigung) des Thäters erstrecken. Da wurde gewiß ein mannichfach verändertes Ergebnis zum Vor¬ schein kommen. Es würde sich zeigen, daß das Anwachsen der Sträflingsziffer, welches dann überhaupt in weit geringerm Maße in Betracht käme, zum größten Teil ans sehr natürliche Weise zu erklären wäre, ohne daß man diese Er¬ scheinung auf Rechnung unsrer Strafgesetzgebung zu setzen brauchte. Mau würde bei dieser Untersuchvng finden, daß das unaufhaltsame Vorwärtsschreiten des Menschengeschlechtes, welches eine fieberhafte Bewegung auf allen Erwcrbs- gebieten, eine stets zunehmende Vergrößerung der Bedürfnisse und Schwierigkeit ihrer vollständigen Befriedigung, eine früher ungeahnte Verwicklung aller Lebens- verhältnisse erzeugt, den Kampf uns Dasein immer härter gestaltet und in diesem Kampfe den Menschen auch immer leichter und häufiger in Widerstreit mit den Einrichtungen der menschlichen Gesellschaft bringen muß. Hier, und nicht auf dem Gebiete der Strafjustiz, ist der Punkt, wo die Reformbestrebungen >n erster Linie anzusetzen haben, und zum Glück für die Gesellschaft haben dies auch schon erleuchtete und weitblickende Staatsmänner längst erkannt. Sind aber einmal die sozialen Reformen in richtiger und umfassender Weise durch-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198065/335>, abgerufen am 28.08.2024.