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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal.

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bekannt. Indem er sich die negative Tugend, keine Übertretungen zu begehen,
als ein Verdienst anrechnet, erlangt er ein bedauerliches und schädliches Selbst¬
vertrauen."

Noch schlimmer ist die Heuchelei. Egoismus hat den Gefangnen der Regel
nach in das Gefängnis geführt, Egoismus lehrt ihn auch dem Geistlichen gegen¬
über das "schnelle Vonsichwerfen des Unglaubens,"-^) macht ihn dem Geistlichen
und denn auch dem ganzen Beamtenpersonal gegenüber zum Heuchler. So hat
der Staatsanwalt von Üchtritz-Steinkirch in der Sitzung des preußischen Ab¬
geordnetenhauses vom 1. Februar 1881 folgendes berichtet: "Es ist zu meiner
Kenntnis ein Fall gekommen, in welchem ein Zuchthaussträfling wegen ganz
außerordentlich musterhafter Führung im Zuchthause zur vorläufigen Entlassung
empfohlen und auch vorläufig entlassen worden ist. Das Zeugnis rühmte be¬
sonders die religiöse Begabung und die besondre Frömmigkeit des Verurteilten.
Kurze Zeit darauf erschien er wieder auf der Anklagebank unter der Anklage
desselben Verbrechens, und als der Staatsanwalt zu ihm sagt: "Sie haben ja
so außerordentliche Zeugnisse gehabt," erwiederte er: "So dumm werde ich doch
nicht sein und mich im Zuchthause schlecht führen," und als der Staatsanwalt
ihm bemerkte, er sei ja auch seiner Religiosität und Frömmigkeit wegen belobt
worden, da lächelte er höhnisch und erwiederte: "Herr Staatsanwalt, zuchthaus¬
fromm." "

Wir haben uns bemüht, den Gedankengang des kritischen Teiles der vor¬
liegenden Abhandlung möglichst getreu wiederzugeben und auch die Quellen nam¬
haft zu machen, aus welchen er die Begrttndnng oder Bestätigung seiner Ansichten
größtenteils geschöpft hat. Damit allein ist aber anch schon, wie uns scheint,
die ausreichendste und treffendste Kritik der letztern gegeben. Kerkermeister, Ge-
fangenhausdirektoreu, Staatsanwälte, Untersuchungsrichter sind es nicht, die in
ausschlaggebender Weise über Wert oder Unwert eines Strafgesetzes und Straf-
shstems abzusprechen berufen erscheinen, so schätzenswert auch ihre Erfahrungen
bei Erwägung einzelner praktischen Fragen jedenfalls sind. Es ist sicherlich nur
zu begreiflich und in der menschlichen Natur tief begründet, daß sich recht¬
schaffener Männer, die ihr Amt zu stetem Verkehr mit den "Feinden der Ge¬
sellschaft" nötigt, die den Widerstand derselben zu brechen, den Rechtszustand
wiederherzustellen haben und die sich nun in ihrer schweren Aufgabe oftmals
selbst getäuscht, ihren Scharfsinn durch die Schlauheit jener in manchen Fällen
übertrumpft, ihre besten Absichten an der Hartnäckigkeit und Unverbesserlichkeit
einzelner haben scheitern sehen, nach und nach eine Stimmung bemächtigt, in
welcher sie in den Verbrechern ihre persönlichen Gegner erblicken und verfolgen




*) Blätter für Gefiingniskimde, Jahr". 1363 und 1369, S. 874.
Obermeicr, Die Verhandlungen über Gcsnngnisreform in Frankfurt a. M. im Sep¬
tember 1846, S, 87,

bekannt. Indem er sich die negative Tugend, keine Übertretungen zu begehen,
als ein Verdienst anrechnet, erlangt er ein bedauerliches und schädliches Selbst¬
vertrauen."

Noch schlimmer ist die Heuchelei. Egoismus hat den Gefangnen der Regel
nach in das Gefängnis geführt, Egoismus lehrt ihn auch dem Geistlichen gegen¬
über das „schnelle Vonsichwerfen des Unglaubens,"-^) macht ihn dem Geistlichen
und denn auch dem ganzen Beamtenpersonal gegenüber zum Heuchler. So hat
der Staatsanwalt von Üchtritz-Steinkirch in der Sitzung des preußischen Ab¬
geordnetenhauses vom 1. Februar 1881 folgendes berichtet: „Es ist zu meiner
Kenntnis ein Fall gekommen, in welchem ein Zuchthaussträfling wegen ganz
außerordentlich musterhafter Führung im Zuchthause zur vorläufigen Entlassung
empfohlen und auch vorläufig entlassen worden ist. Das Zeugnis rühmte be¬
sonders die religiöse Begabung und die besondre Frömmigkeit des Verurteilten.
Kurze Zeit darauf erschien er wieder auf der Anklagebank unter der Anklage
desselben Verbrechens, und als der Staatsanwalt zu ihm sagt: »Sie haben ja
so außerordentliche Zeugnisse gehabt,« erwiederte er: »So dumm werde ich doch
nicht sein und mich im Zuchthause schlecht führen,« und als der Staatsanwalt
ihm bemerkte, er sei ja auch seiner Religiosität und Frömmigkeit wegen belobt
worden, da lächelte er höhnisch und erwiederte: »Herr Staatsanwalt, zuchthaus¬
fromm.« "

Wir haben uns bemüht, den Gedankengang des kritischen Teiles der vor¬
liegenden Abhandlung möglichst getreu wiederzugeben und auch die Quellen nam¬
haft zu machen, aus welchen er die Begrttndnng oder Bestätigung seiner Ansichten
größtenteils geschöpft hat. Damit allein ist aber anch schon, wie uns scheint,
die ausreichendste und treffendste Kritik der letztern gegeben. Kerkermeister, Ge-
fangenhausdirektoreu, Staatsanwälte, Untersuchungsrichter sind es nicht, die in
ausschlaggebender Weise über Wert oder Unwert eines Strafgesetzes und Straf-
shstems abzusprechen berufen erscheinen, so schätzenswert auch ihre Erfahrungen
bei Erwägung einzelner praktischen Fragen jedenfalls sind. Es ist sicherlich nur
zu begreiflich und in der menschlichen Natur tief begründet, daß sich recht¬
schaffener Männer, die ihr Amt zu stetem Verkehr mit den „Feinden der Ge¬
sellschaft" nötigt, die den Widerstand derselben zu brechen, den Rechtszustand
wiederherzustellen haben und die sich nun in ihrer schweren Aufgabe oftmals
selbst getäuscht, ihren Scharfsinn durch die Schlauheit jener in manchen Fällen
übertrumpft, ihre besten Absichten an der Hartnäckigkeit und Unverbesserlichkeit
einzelner haben scheitern sehen, nach und nach eine Stimmung bemächtigt, in
welcher sie in den Verbrechern ihre persönlichen Gegner erblicken und verfolgen




*) Blätter für Gefiingniskimde, Jahr». 1363 und 1369, S. 874.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198065/334>, abgerufen am 28.08.2024.