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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal.

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Zur Antik des deutschen Strafsystems.

mir eine vertragsmäßige Vereinigung seiner Mitglieder erblickte, suchte demzu¬
folge die Notwendigkeit der Strafe aus ihrer Nützlichkeit, aus einem außerhalb
der Strafe selbst liegenden Zwecke herzuleiten. So entstanden die sogenannten
relativen Strafrechtstheorien, welche mit den Schlagwörtern: Warnung, Drohung,
Abschreckung, Besserung, Sicherung und Prcivention, Verteidigung, Ersatz ge¬
kennzeichnet werden können. Nach und nach aber änderte sich die Auffassung
vom Staate; man erkannte in ihm einen Organismus, der die Voraussetzungen,
die Begründung seines Daseins in sich selbst trägt, also eine Notwendigkeit,
einen Selbstzweck darstellt; Hand in Hand damit ging nun auch die geänderte
Auffassung vom Wesen der Strafe, wie sie in den sogenannten absoluten Theorien
von Kant, Zacharici, Henke, Hegel und andern zum Ausdruck kommt. Hiernach
wird die Begründung der Strafe nicht an einen außerhalb derselben gelegnen
Punkt, sondern einzig und allein an das Verbrechen selbst angeknüpft und als
Voraussetzung ihrer Anwendung die innere Gerechtigkeit der Strafe hingestellt.
Unsre Zeit endlich, welche die Allmacht des Staates zum Grundsatz erhoben
hat, andrerseits aber das Banner der Menschlichkeit so hoch hält wie keine
ihrer Vorgängerinnen, mußte notwendig in dem Zwecke der Strafe ein Zusammen¬
gesetztes erblicken und demgemäß auch bei der praktischen Durchführung der
Straffrage sich von dem Bestreben der möglichsten Vereinigung lind Verschmelzung
der mannichfaltigen dabei in Betracht kommenden Gesichtspunkte leiten lassen.
So beruhen deun auch die neueren Strnfgesetzbiichcr, insbesondre das deutsche,
durchaus nicht, wie die früheren, ans einer einzelnen Theorie, sondern sie haben
den oben berührten Weg der Vereinigung der verschiednen Strafzwecke einge¬
schlagen, wobei allerdings, dem Geiste unsers Zeitalters entsprechend, die Rück¬
sicht auf den Bessernngszweck immer eine sehr hervorragende Rolle gespielt hat.

Gegen das Vorherrschen dieser Rücksicht, wie sie in dem heutigen System
und der heutigen Vollziehung der Strafen unverkennbar zum Ausdruck gelangt,
beginnen nun nach und nach Stimmen laut zu werden, die auf immer ein¬
dringlichere Weise zur Umkehr mahnen und die Forderung erheben, daß die
Strafen -- um mit Mittelstädt zu reden -- wieder werden sollen, "was sie
von Gottes- und Rechtswegen niemals aufhören durften zu sein, ein Strafübel
und nur ein Strafübel." Diesen Stimmen gebührt umso ernstere Beachtung,
als sie vorwiegend aus den Kreisen praktischer Fachleute herrühren, welche auf
Grundlage langjähriger Beobachtungen und Erfahrungen ans dein Gebiete der
Strafrechtspflege und des Gefängniswesens zu ihren Anschauungen und Vor¬
schlägen gelangt sind. Eine der beachtenswertesten, weil auf umfassendster Sach¬
kenntnis gegründete, zugleich aber auch sehr weitgehende und infolge der ge¬
zogenen Konsequenzen schwere Bedenken wachrufende Äußerung dieser Art liegt
in der von dem Amtsrichter Schmölder über "die Strafen des deutschen Straf¬
gesetzbuches und deren Vollzug" (besser und richtiger Vollziehung) kürzlich ver¬
öffentlichten "kritischen Studie" vor (Berlin, Frnnz Wahlen, 1385).


Zur Antik des deutschen Strafsystems.

mir eine vertragsmäßige Vereinigung seiner Mitglieder erblickte, suchte demzu¬
folge die Notwendigkeit der Strafe aus ihrer Nützlichkeit, aus einem außerhalb
der Strafe selbst liegenden Zwecke herzuleiten. So entstanden die sogenannten
relativen Strafrechtstheorien, welche mit den Schlagwörtern: Warnung, Drohung,
Abschreckung, Besserung, Sicherung und Prcivention, Verteidigung, Ersatz ge¬
kennzeichnet werden können. Nach und nach aber änderte sich die Auffassung
vom Staate; man erkannte in ihm einen Organismus, der die Voraussetzungen,
die Begründung seines Daseins in sich selbst trägt, also eine Notwendigkeit,
einen Selbstzweck darstellt; Hand in Hand damit ging nun auch die geänderte
Auffassung vom Wesen der Strafe, wie sie in den sogenannten absoluten Theorien
von Kant, Zacharici, Henke, Hegel und andern zum Ausdruck kommt. Hiernach
wird die Begründung der Strafe nicht an einen außerhalb derselben gelegnen
Punkt, sondern einzig und allein an das Verbrechen selbst angeknüpft und als
Voraussetzung ihrer Anwendung die innere Gerechtigkeit der Strafe hingestellt.
Unsre Zeit endlich, welche die Allmacht des Staates zum Grundsatz erhoben
hat, andrerseits aber das Banner der Menschlichkeit so hoch hält wie keine
ihrer Vorgängerinnen, mußte notwendig in dem Zwecke der Strafe ein Zusammen¬
gesetztes erblicken und demgemäß auch bei der praktischen Durchführung der
Straffrage sich von dem Bestreben der möglichsten Vereinigung lind Verschmelzung
der mannichfaltigen dabei in Betracht kommenden Gesichtspunkte leiten lassen.
So beruhen deun auch die neueren Strnfgesetzbiichcr, insbesondre das deutsche,
durchaus nicht, wie die früheren, ans einer einzelnen Theorie, sondern sie haben
den oben berührten Weg der Vereinigung der verschiednen Strafzwecke einge¬
schlagen, wobei allerdings, dem Geiste unsers Zeitalters entsprechend, die Rück¬
sicht auf den Bessernngszweck immer eine sehr hervorragende Rolle gespielt hat.

Gegen das Vorherrschen dieser Rücksicht, wie sie in dem heutigen System
und der heutigen Vollziehung der Strafen unverkennbar zum Ausdruck gelangt,
beginnen nun nach und nach Stimmen laut zu werden, die auf immer ein¬
dringlichere Weise zur Umkehr mahnen und die Forderung erheben, daß die
Strafen — um mit Mittelstädt zu reden — wieder werden sollen, „was sie
von Gottes- und Rechtswegen niemals aufhören durften zu sein, ein Strafübel
und nur ein Strafübel." Diesen Stimmen gebührt umso ernstere Beachtung,
als sie vorwiegend aus den Kreisen praktischer Fachleute herrühren, welche auf
Grundlage langjähriger Beobachtungen und Erfahrungen ans dein Gebiete der
Strafrechtspflege und des Gefängniswesens zu ihren Anschauungen und Vor¬
schlägen gelangt sind. Eine der beachtenswertesten, weil auf umfassendster Sach¬
kenntnis gegründete, zugleich aber auch sehr weitgehende und infolge der ge¬
zogenen Konsequenzen schwere Bedenken wachrufende Äußerung dieser Art liegt
in der von dem Amtsrichter Schmölder über „die Strafen des deutschen Straf¬
gesetzbuches und deren Vollzug" (besser und richtiger Vollziehung) kürzlich ver¬
öffentlichten „kritischen Studie" vor (Berlin, Frnnz Wahlen, 1385).


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[0330] Zur Antik des deutschen Strafsystems. mir eine vertragsmäßige Vereinigung seiner Mitglieder erblickte, suchte demzu¬ folge die Notwendigkeit der Strafe aus ihrer Nützlichkeit, aus einem außerhalb der Strafe selbst liegenden Zwecke herzuleiten. So entstanden die sogenannten relativen Strafrechtstheorien, welche mit den Schlagwörtern: Warnung, Drohung, Abschreckung, Besserung, Sicherung und Prcivention, Verteidigung, Ersatz ge¬ kennzeichnet werden können. Nach und nach aber änderte sich die Auffassung vom Staate; man erkannte in ihm einen Organismus, der die Voraussetzungen, die Begründung seines Daseins in sich selbst trägt, also eine Notwendigkeit, einen Selbstzweck darstellt; Hand in Hand damit ging nun auch die geänderte Auffassung vom Wesen der Strafe, wie sie in den sogenannten absoluten Theorien von Kant, Zacharici, Henke, Hegel und andern zum Ausdruck kommt. Hiernach wird die Begründung der Strafe nicht an einen außerhalb derselben gelegnen Punkt, sondern einzig und allein an das Verbrechen selbst angeknüpft und als Voraussetzung ihrer Anwendung die innere Gerechtigkeit der Strafe hingestellt. Unsre Zeit endlich, welche die Allmacht des Staates zum Grundsatz erhoben hat, andrerseits aber das Banner der Menschlichkeit so hoch hält wie keine ihrer Vorgängerinnen, mußte notwendig in dem Zwecke der Strafe ein Zusammen¬ gesetztes erblicken und demgemäß auch bei der praktischen Durchführung der Straffrage sich von dem Bestreben der möglichsten Vereinigung lind Verschmelzung der mannichfaltigen dabei in Betracht kommenden Gesichtspunkte leiten lassen. So beruhen deun auch die neueren Strnfgesetzbiichcr, insbesondre das deutsche, durchaus nicht, wie die früheren, ans einer einzelnen Theorie, sondern sie haben den oben berührten Weg der Vereinigung der verschiednen Strafzwecke einge¬ schlagen, wobei allerdings, dem Geiste unsers Zeitalters entsprechend, die Rück¬ sicht auf den Bessernngszweck immer eine sehr hervorragende Rolle gespielt hat. Gegen das Vorherrschen dieser Rücksicht, wie sie in dem heutigen System und der heutigen Vollziehung der Strafen unverkennbar zum Ausdruck gelangt, beginnen nun nach und nach Stimmen laut zu werden, die auf immer ein¬ dringlichere Weise zur Umkehr mahnen und die Forderung erheben, daß die Strafen — um mit Mittelstädt zu reden — wieder werden sollen, „was sie von Gottes- und Rechtswegen niemals aufhören durften zu sein, ein Strafübel und nur ein Strafübel." Diesen Stimmen gebührt umso ernstere Beachtung, als sie vorwiegend aus den Kreisen praktischer Fachleute herrühren, welche auf Grundlage langjähriger Beobachtungen und Erfahrungen ans dein Gebiete der Strafrechtspflege und des Gefängniswesens zu ihren Anschauungen und Vor¬ schlägen gelangt sind. Eine der beachtenswertesten, weil auf umfassendster Sach¬ kenntnis gegründete, zugleich aber auch sehr weitgehende und infolge der ge¬ zogenen Konsequenzen schwere Bedenken wachrufende Äußerung dieser Art liegt in der von dem Amtsrichter Schmölder über „die Strafen des deutschen Straf¬ gesetzbuches und deren Vollzug" (besser und richtiger Vollziehung) kürzlich ver¬ öffentlichten „kritischen Studie" vor (Berlin, Frnnz Wahlen, 1385).

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198065/330>, abgerufen am 29.08.2024.