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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal.

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lischen Phantasien Bleibtreus eingeschlossen, im Zusammenhang mit den un¬
glaublichen und in der That an Größenwahnsinn streifenden Prätensionen
der neuen Schule. Was man als jugendliche Unreife, als Irrungen einer
starken und in ihrer eigentümlichen Stärke naturgemäß einseitigen Begabung, als
unvermeidliche Unvollkommenheiten einer zu raschen Produktion billig beurteilen
und in der Voraussicht hinnehmen könnte, daß der Autor selbst auf einer höhern
Entwicklungsstufe diese Mängel abstreifen werde, das gewinnt ein völlig andres
Gesicht, wenn es mit der Forderung auftritt, als Vorläufer einer neuen Ära
der deutschen Literatur, als Präludium zur poetischen Symphonie des zwanzigsten
Jahrhunderts anerkannt und bewundert zu werden. Erscheinungen wie diejenige
Vleibtreus können um deswillen leine Gesundung unsrer Literatur bedeuten,
weil die hohle Selbstüberschätzung, die theatralische Großmannssucht den reali¬
stischen Kern, die Empfänglichkeit für die soviel betonte Wirklichkeit rettungslos
zu zerstören droht. Wenn der Satz, der Mensch verehre nicht die Größe, sondern
ihren Schein, nicht die That, sondern ihren Ruhm, nicht den Cäsar, sondern
sein Staatsgewaud, innerhalb der Weltgeschichte eine Art Wahrheit hat -- im
Bereiche der Kunst ist er die gefährlichste Maxime. Niemand scheint weniger
zu wissen als die Naturalisten, daß unsrer Literatur mit Neklamehelden, mit
Schriftstellern, die jeden Augenblick in theatralischer Pose stehen, nicht gedient
ist, und daß das Zeitalter der "Wirklichkeit" nicht mit Feuerwerken beginnen
wird, die man nach der Zahl der verbrauchten Raketen und Kanonenschläge ab¬
schätzen kann.




Zur Kritik des deutschen 5-trafsystems.
Karl Seefold. Von

as ist die Strafe? Was ist der Zweck der Strafe? Wie muß
die Strafe beschaffen sein, damit sie ihren Zweck erreiche? Es
ist schon lauge her, daß sich Theorie und Praxis der Strafrechts¬
pflege mit diesen Fragen zu beschäftigen angefangen haben, und
dennoch kann noch immer nicht behauptet werden, daß eine all¬
seitig befriedigende Lösung derselben gefunden worden sei. So schwer wird es
dem Menschen, eines Amtes zu walten, das eigentlich das Maß seiner Kräfte
zu übersteigen und eine höhere Organisation seines Wesens vorauszusetzen scheint.

Der Stadien, welche die Theorie des Strafrechts*) -- und die Theorie
hat in diesem Falle der Praxis in wunderbarer Weise vorgearbeitet und an¬
wendbare Resultate geliefert -- durchlaufen hat, sind mannichfache zu unter¬
scheiden; sie erscheinen alle in inniger Wechselbeziehung zu dem Geiste der Zeit,
in der sie entstanden sind. Das vorige Jahrhundert, welches in dein Staate



*) Nergl. Bemer, Lehrbuch des deutschen Stmfrcchts, 13. Auflage.
Grenzten 17. 1886, 41

lischen Phantasien Bleibtreus eingeschlossen, im Zusammenhang mit den un¬
glaublichen und in der That an Größenwahnsinn streifenden Prätensionen
der neuen Schule. Was man als jugendliche Unreife, als Irrungen einer
starken und in ihrer eigentümlichen Stärke naturgemäß einseitigen Begabung, als
unvermeidliche Unvollkommenheiten einer zu raschen Produktion billig beurteilen
und in der Voraussicht hinnehmen könnte, daß der Autor selbst auf einer höhern
Entwicklungsstufe diese Mängel abstreifen werde, das gewinnt ein völlig andres
Gesicht, wenn es mit der Forderung auftritt, als Vorläufer einer neuen Ära
der deutschen Literatur, als Präludium zur poetischen Symphonie des zwanzigsten
Jahrhunderts anerkannt und bewundert zu werden. Erscheinungen wie diejenige
Vleibtreus können um deswillen leine Gesundung unsrer Literatur bedeuten,
weil die hohle Selbstüberschätzung, die theatralische Großmannssucht den reali¬
stischen Kern, die Empfänglichkeit für die soviel betonte Wirklichkeit rettungslos
zu zerstören droht. Wenn der Satz, der Mensch verehre nicht die Größe, sondern
ihren Schein, nicht die That, sondern ihren Ruhm, nicht den Cäsar, sondern
sein Staatsgewaud, innerhalb der Weltgeschichte eine Art Wahrheit hat — im
Bereiche der Kunst ist er die gefährlichste Maxime. Niemand scheint weniger
zu wissen als die Naturalisten, daß unsrer Literatur mit Neklamehelden, mit
Schriftstellern, die jeden Augenblick in theatralischer Pose stehen, nicht gedient
ist, und daß das Zeitalter der „Wirklichkeit" nicht mit Feuerwerken beginnen
wird, die man nach der Zahl der verbrauchten Raketen und Kanonenschläge ab¬
schätzen kann.




Zur Kritik des deutschen 5-trafsystems.
Karl Seefold. Von

as ist die Strafe? Was ist der Zweck der Strafe? Wie muß
die Strafe beschaffen sein, damit sie ihren Zweck erreiche? Es
ist schon lauge her, daß sich Theorie und Praxis der Strafrechts¬
pflege mit diesen Fragen zu beschäftigen angefangen haben, und
dennoch kann noch immer nicht behauptet werden, daß eine all¬
seitig befriedigende Lösung derselben gefunden worden sei. So schwer wird es
dem Menschen, eines Amtes zu walten, das eigentlich das Maß seiner Kräfte
zu übersteigen und eine höhere Organisation seines Wesens vorauszusetzen scheint.

Der Stadien, welche die Theorie des Strafrechts*) — und die Theorie
hat in diesem Falle der Praxis in wunderbarer Weise vorgearbeitet und an¬
wendbare Resultate geliefert — durchlaufen hat, sind mannichfache zu unter¬
scheiden; sie erscheinen alle in inniger Wechselbeziehung zu dem Geiste der Zeit,
in der sie entstanden sind. Das vorige Jahrhundert, welches in dein Staate



*) Nergl. Bemer, Lehrbuch des deutschen Stmfrcchts, 13. Auflage.
Grenzten 17. 1886, 41
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[0329] lischen Phantasien Bleibtreus eingeschlossen, im Zusammenhang mit den un¬ glaublichen und in der That an Größenwahnsinn streifenden Prätensionen der neuen Schule. Was man als jugendliche Unreife, als Irrungen einer starken und in ihrer eigentümlichen Stärke naturgemäß einseitigen Begabung, als unvermeidliche Unvollkommenheiten einer zu raschen Produktion billig beurteilen und in der Voraussicht hinnehmen könnte, daß der Autor selbst auf einer höhern Entwicklungsstufe diese Mängel abstreifen werde, das gewinnt ein völlig andres Gesicht, wenn es mit der Forderung auftritt, als Vorläufer einer neuen Ära der deutschen Literatur, als Präludium zur poetischen Symphonie des zwanzigsten Jahrhunderts anerkannt und bewundert zu werden. Erscheinungen wie diejenige Vleibtreus können um deswillen leine Gesundung unsrer Literatur bedeuten, weil die hohle Selbstüberschätzung, die theatralische Großmannssucht den reali¬ stischen Kern, die Empfänglichkeit für die soviel betonte Wirklichkeit rettungslos zu zerstören droht. Wenn der Satz, der Mensch verehre nicht die Größe, sondern ihren Schein, nicht die That, sondern ihren Ruhm, nicht den Cäsar, sondern sein Staatsgewaud, innerhalb der Weltgeschichte eine Art Wahrheit hat — im Bereiche der Kunst ist er die gefährlichste Maxime. Niemand scheint weniger zu wissen als die Naturalisten, daß unsrer Literatur mit Neklamehelden, mit Schriftstellern, die jeden Augenblick in theatralischer Pose stehen, nicht gedient ist, und daß das Zeitalter der „Wirklichkeit" nicht mit Feuerwerken beginnen wird, die man nach der Zahl der verbrauchten Raketen und Kanonenschläge ab¬ schätzen kann. Zur Kritik des deutschen 5-trafsystems. Karl Seefold. Von as ist die Strafe? Was ist der Zweck der Strafe? Wie muß die Strafe beschaffen sein, damit sie ihren Zweck erreiche? Es ist schon lauge her, daß sich Theorie und Praxis der Strafrechts¬ pflege mit diesen Fragen zu beschäftigen angefangen haben, und dennoch kann noch immer nicht behauptet werden, daß eine all¬ seitig befriedigende Lösung derselben gefunden worden sei. So schwer wird es dem Menschen, eines Amtes zu walten, das eigentlich das Maß seiner Kräfte zu übersteigen und eine höhere Organisation seines Wesens vorauszusetzen scheint. Der Stadien, welche die Theorie des Strafrechts*) — und die Theorie hat in diesem Falle der Praxis in wunderbarer Weise vorgearbeitet und an¬ wendbare Resultate geliefert — durchlaufen hat, sind mannichfache zu unter¬ scheiden; sie erscheinen alle in inniger Wechselbeziehung zu dem Geiste der Zeit, in der sie entstanden sind. Das vorige Jahrhundert, welches in dein Staate *) Nergl. Bemer, Lehrbuch des deutschen Stmfrcchts, 13. Auflage. Grenzten 17. 1886, 41

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198065/329>, abgerufen am 29.08.2024.