Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal.Spiel und wette. Von Natur und Kunst aus; in der Natur ist alles das, was es zu sein scheint; Nun ist es aber nicht immer notwendig, daß, um die Annahme einer die Spiel und wette. Von Natur und Kunst aus; in der Natur ist alles das, was es zu sein scheint; Nun ist es aber nicht immer notwendig, daß, um die Annahme einer die <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0031" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/198097"/> <fw type="header" place="top"> Spiel und wette.</fw><lb/> <p xml:id="ID_80" prev="#ID_79"> Von Natur und Kunst aus; in der Natur ist alles das, was es zu sein scheint;<lb/> in der Kunst — das Wort Kunst im objektiven Sinne als die Zusammen¬<lb/> fassung alles durch künstlerische Thätigkeit geschaffenen genommen — giebt sich<lb/> alles absichtlich durch die Erscheinung als etwas andres, als was es thatsächlich<lb/> ist. Wo dieses Bewußtsein, daß das Kunstgeschaffcne in seiner Erscheinung und<lb/> in seinem wirklichen Sein auseinandergeht, bei der Betrachtung ausholt, tritt<lb/> die Täuschung ein, und die Kunst hört auf, als solche zu wirken. Der Stein,<lb/> wie ihn die Natur schafft, ist Stein und will nichts andres sein; die Marmor¬<lb/> statue ist, ihrer Naturbeschaffenheit nach, Stein und erscheint durch die Kunst<lb/> als eine Gestaltung, die mit der Wirklichkeit des Steines nichts zu thun hat;<lb/> sie erhebt nicht deu Anspruch, zu sein, was sie scheint. Die lebensgroße Wachs¬<lb/> figur ist objektiv zur Kunst zu rechnen, solange wir uns bewußt sind, daß die<lb/> Gestaltung keine Wirklichkeit ist, daß das Material, in welchem die Gestaltung<lb/> erscheint, nicht dasjenige ist, aus welchem die Natur diese Wirklichkeit geschaffen<lb/> hätte. Erkennen wir diesen Wesensuuterschied von Erscheinung und Wirk¬<lb/> lichkeit nicht, erscheint uus die Gestaltung als aus dem ihr von Natur zu¬<lb/> kommenden Stoffe geschaffen, so tritt die Täuschung ein, und das Werk hört<lb/> auf, uns als Kunstschöpfung bewußt zu werden. Damit hört es auf, in das<lb/> Gebiet der Ästhetik zu fallen.</p><lb/> <p xml:id="ID_81" next="#ID_82"> Nun ist es aber nicht immer notwendig, daß, um die Annahme einer die<lb/> natürliche Gestaltung eines Stoffes verlassenden und diesem nicht von Natur<lb/> zukommenden Gestaltung zu bewirke», also um Kunstschöpfung zu werde», der<lb/> fragliche Stoff diese materielle Umgestaltung auch thatsächlich erleide; diese<lb/> Umgestaltung kaun vielmehr auch in der Einbildungskraft allein vorgenommen<lb/> werden. Der Gegenstand, der Stoff, bleibt alsdann unverändert, die künstlerische<lb/> Gestaltung vollzieht sich zwar nur in der Einbildungskraft, ist aber doch wirksam<lb/> genug, um zu ermöglichen, daß der. Gegenstand so behandelt wird, als ob die<lb/> materielle Umgestaltung hinzugetreten wäre. Da die Umgestaltung nur in der<lb/> Einbildungskraft stattfindet, also rein subjektiv bleibt und keinerlei objektives<lb/> Merkmal trägt, so ist sie nur für deu giltig, dessen Einbildungskraft diese Um¬<lb/> gestaltung vornimmt, sei es, daß er selbst deren Urheber ist, oder daß er infolge<lb/> von Mitteilung andrer seine Einbildungskraft denselben Prozeß vornehmen läßt.<lb/> Eine solche Bethätigung der Einbildungskraft ergiebt das ästhetische Spiel.<lb/> Spielen heißt also durch seine Einbildungskraft einen Gegenstand umgestalten,<lb/> und dieser Unigestaltung gemäß behandeln, ohne daß ihr eine an dem Gegen¬<lb/> stände sich vollziehende materielle Umgestaltung parallel ginge. Das Kind nimmt<lb/> einen Stock, gestaltet ihn sich durch seine Einbildungskraft zum Säbel, Gewehr,<lb/> Pferd um, und ohne daß dieser Umgestaltung ein gleichmäßiger Vorgang am Stoffe<lb/> entspräche, behandelt das Kind den Stock seiner Annahme gemäß. Die Puppe<lb/> hat eine materielle Umgestaltung erfahren: sie sieht aus wie ein Kind — in¬<lb/> sofern ist sie Kunstschöpfung. Das Spiel mit ihr beginnt aber erst, wenn das</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0031]
Spiel und wette.
Von Natur und Kunst aus; in der Natur ist alles das, was es zu sein scheint;
in der Kunst — das Wort Kunst im objektiven Sinne als die Zusammen¬
fassung alles durch künstlerische Thätigkeit geschaffenen genommen — giebt sich
alles absichtlich durch die Erscheinung als etwas andres, als was es thatsächlich
ist. Wo dieses Bewußtsein, daß das Kunstgeschaffcne in seiner Erscheinung und
in seinem wirklichen Sein auseinandergeht, bei der Betrachtung ausholt, tritt
die Täuschung ein, und die Kunst hört auf, als solche zu wirken. Der Stein,
wie ihn die Natur schafft, ist Stein und will nichts andres sein; die Marmor¬
statue ist, ihrer Naturbeschaffenheit nach, Stein und erscheint durch die Kunst
als eine Gestaltung, die mit der Wirklichkeit des Steines nichts zu thun hat;
sie erhebt nicht deu Anspruch, zu sein, was sie scheint. Die lebensgroße Wachs¬
figur ist objektiv zur Kunst zu rechnen, solange wir uns bewußt sind, daß die
Gestaltung keine Wirklichkeit ist, daß das Material, in welchem die Gestaltung
erscheint, nicht dasjenige ist, aus welchem die Natur diese Wirklichkeit geschaffen
hätte. Erkennen wir diesen Wesensuuterschied von Erscheinung und Wirk¬
lichkeit nicht, erscheint uus die Gestaltung als aus dem ihr von Natur zu¬
kommenden Stoffe geschaffen, so tritt die Täuschung ein, und das Werk hört
auf, uns als Kunstschöpfung bewußt zu werden. Damit hört es auf, in das
Gebiet der Ästhetik zu fallen.
Nun ist es aber nicht immer notwendig, daß, um die Annahme einer die
natürliche Gestaltung eines Stoffes verlassenden und diesem nicht von Natur
zukommenden Gestaltung zu bewirke», also um Kunstschöpfung zu werde», der
fragliche Stoff diese materielle Umgestaltung auch thatsächlich erleide; diese
Umgestaltung kaun vielmehr auch in der Einbildungskraft allein vorgenommen
werden. Der Gegenstand, der Stoff, bleibt alsdann unverändert, die künstlerische
Gestaltung vollzieht sich zwar nur in der Einbildungskraft, ist aber doch wirksam
genug, um zu ermöglichen, daß der. Gegenstand so behandelt wird, als ob die
materielle Umgestaltung hinzugetreten wäre. Da die Umgestaltung nur in der
Einbildungskraft stattfindet, also rein subjektiv bleibt und keinerlei objektives
Merkmal trägt, so ist sie nur für deu giltig, dessen Einbildungskraft diese Um¬
gestaltung vornimmt, sei es, daß er selbst deren Urheber ist, oder daß er infolge
von Mitteilung andrer seine Einbildungskraft denselben Prozeß vornehmen läßt.
Eine solche Bethätigung der Einbildungskraft ergiebt das ästhetische Spiel.
Spielen heißt also durch seine Einbildungskraft einen Gegenstand umgestalten,
und dieser Unigestaltung gemäß behandeln, ohne daß ihr eine an dem Gegen¬
stände sich vollziehende materielle Umgestaltung parallel ginge. Das Kind nimmt
einen Stock, gestaltet ihn sich durch seine Einbildungskraft zum Säbel, Gewehr,
Pferd um, und ohne daß dieser Umgestaltung ein gleichmäßiger Vorgang am Stoffe
entspräche, behandelt das Kind den Stock seiner Annahme gemäß. Die Puppe
hat eine materielle Umgestaltung erfahren: sie sieht aus wie ein Kind — in¬
sofern ist sie Kunstschöpfung. Das Spiel mit ihr beginnt aber erst, wenn das
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