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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal.

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In elfter, vielleicht zwölfter Stunde.

Vermag: das ist die Geltung der modernen Staatsidee und die Gewöhnung
an diejenige Form derselben, die bei uns zur Zeit in Wirksamkeit ist. Denn man
bedenke wohl, daß es sich hier nicht um ein äußerliches, formelles Eingewöhnen,
sondern um die letzte Phase eines großartigen Volksentwicklungs-Prozesses
handelt, dessen Einfluß aus die Tiefen der Menschennatur, wo die Gedanken
werden und wachsen, auch für den Widerwilligsten völlig unwiderstehlich ist.
Nicht umsonst hat sich das deutsche Volk Jahrhunderte hindurch in tausend Formen
und tausend von den Zeitverhältnissen geforderten Verkleidungen nach politischer
Existenz gesehnt, und nicht umsonst ist diese Existenz so machtvoll, wie ein ge¬
waltiger Trompetenstoß, in die Erscheinung getreten. Wenn nicht in dem ab¬
sterbenden, so doch umso gewisser in dem heranwachsenden Geschlechte lebt der
Reichs- und Vvlksgedanke; viele Einzelne mögen sich vorübergehend mit Haß
gegen denselben erfüllen lassen, für die Masse ist dies unmöglich, denn in die
Tiefen des Volksgemüth, welche sich hier mit neuen Vorstellungen und Idealen
zu erfüllen im Begriffe sind, dringen die Gehässigkeiten des Tages garnicht.
Die sozialdemokratischen Redner mögen sich heiser schreien und sich berauschen
in wütenden Redensarten -- sie werden dennoch nichts daran ändern, daß das
Volk auf einmal dem Staate mit ganz andern Begriffen und Empfindungen
gegenübersteht, und die entsprechenden Gedanken werden dann von selbst kommen.
Dann werden die Sozialdemokraten gerade so verzweiflungsvoll die Hände ringen,
wie heute die alten Fvrtschrittler über das angebliche mors in "si-vitinm, welches
sie rings um sich her zu bemerken glauben, weil sie, gerade wie diese, "ihre Zeit
nicht mehr verstehen." Wer denkt hier nicht an das Schriftwort, daß Er "die
Herzen der Menschen lenket wie Wasserbäche"? Wer aber die Herzen hat, der
hat nach kurzer Frist auch die Gedanken. Und hier bewegen wir uns allerdings
auf einem Gebiete, auf dem auch die einfache Größe unsers greisen Kaisers, die
Pflichttreue und der Weitblick des großen Kanzlers, das Volksmäßige in so
vielen Gestalten unsers politischen Lebens ihre Rolle spielen werden. Nein,
die Zukunft ist nicht hoffnungslos, denn das Herz des deutschen Volkes, aus
dem die Reformation und die Wiedergeburt von Kaiser und Reich stammen,
wird anch eine seinem Volkstum und einem gesicherten Staatswesen entsprechende
soziale Zukunft zu gewinnen trachten.

Dem können aber selbst die sozialdemokratischen Agitatoren sich umso
weniger entziehen, als das Sozialistengesetz ihnen die Möglichkeit geraubt hat,
die Parteidoktrin wie eine undurchbrechliche chinesische Mauer um sich her zu
bauen. Es war hier in der That etwas Seltsames und Großartiges und für
die freie Entwicklung menschlicher Kultur unsäglich Gefahrvolles im Werke:
die Aufstellung eines nach allen Seiten hin ausgediftelteu Gebäudes von Partei-
grundsätzcn, an denen bei Strafe der Ausstoßung (fast hätten wir gesagt des
Bannes) nicht gerüttelt werden durfte. Alle sozialdemokratischen Blätter glichen
den von einem Punkte aus geleiteten Uhren einer Stadt; was sie dachten, was


In elfter, vielleicht zwölfter Stunde.

Vermag: das ist die Geltung der modernen Staatsidee und die Gewöhnung
an diejenige Form derselben, die bei uns zur Zeit in Wirksamkeit ist. Denn man
bedenke wohl, daß es sich hier nicht um ein äußerliches, formelles Eingewöhnen,
sondern um die letzte Phase eines großartigen Volksentwicklungs-Prozesses
handelt, dessen Einfluß aus die Tiefen der Menschennatur, wo die Gedanken
werden und wachsen, auch für den Widerwilligsten völlig unwiderstehlich ist.
Nicht umsonst hat sich das deutsche Volk Jahrhunderte hindurch in tausend Formen
und tausend von den Zeitverhältnissen geforderten Verkleidungen nach politischer
Existenz gesehnt, und nicht umsonst ist diese Existenz so machtvoll, wie ein ge¬
waltiger Trompetenstoß, in die Erscheinung getreten. Wenn nicht in dem ab¬
sterbenden, so doch umso gewisser in dem heranwachsenden Geschlechte lebt der
Reichs- und Vvlksgedanke; viele Einzelne mögen sich vorübergehend mit Haß
gegen denselben erfüllen lassen, für die Masse ist dies unmöglich, denn in die
Tiefen des Volksgemüth, welche sich hier mit neuen Vorstellungen und Idealen
zu erfüllen im Begriffe sind, dringen die Gehässigkeiten des Tages garnicht.
Die sozialdemokratischen Redner mögen sich heiser schreien und sich berauschen
in wütenden Redensarten — sie werden dennoch nichts daran ändern, daß das
Volk auf einmal dem Staate mit ganz andern Begriffen und Empfindungen
gegenübersteht, und die entsprechenden Gedanken werden dann von selbst kommen.
Dann werden die Sozialdemokraten gerade so verzweiflungsvoll die Hände ringen,
wie heute die alten Fvrtschrittler über das angebliche mors in «si-vitinm, welches
sie rings um sich her zu bemerken glauben, weil sie, gerade wie diese, „ihre Zeit
nicht mehr verstehen." Wer denkt hier nicht an das Schriftwort, daß Er „die
Herzen der Menschen lenket wie Wasserbäche"? Wer aber die Herzen hat, der
hat nach kurzer Frist auch die Gedanken. Und hier bewegen wir uns allerdings
auf einem Gebiete, auf dem auch die einfache Größe unsers greisen Kaisers, die
Pflichttreue und der Weitblick des großen Kanzlers, das Volksmäßige in so
vielen Gestalten unsers politischen Lebens ihre Rolle spielen werden. Nein,
die Zukunft ist nicht hoffnungslos, denn das Herz des deutschen Volkes, aus
dem die Reformation und die Wiedergeburt von Kaiser und Reich stammen,
wird anch eine seinem Volkstum und einem gesicherten Staatswesen entsprechende
soziale Zukunft zu gewinnen trachten.

Dem können aber selbst die sozialdemokratischen Agitatoren sich umso
weniger entziehen, als das Sozialistengesetz ihnen die Möglichkeit geraubt hat,
die Parteidoktrin wie eine undurchbrechliche chinesische Mauer um sich her zu
bauen. Es war hier in der That etwas Seltsames und Großartiges und für
die freie Entwicklung menschlicher Kultur unsäglich Gefahrvolles im Werke:
die Aufstellung eines nach allen Seiten hin ausgediftelteu Gebäudes von Partei-
grundsätzcn, an denen bei Strafe der Ausstoßung (fast hätten wir gesagt des
Bannes) nicht gerüttelt werden durfte. Alle sozialdemokratischen Blätter glichen
den von einem Punkte aus geleiteten Uhren einer Stadt; was sie dachten, was


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[0261] In elfter, vielleicht zwölfter Stunde. Vermag: das ist die Geltung der modernen Staatsidee und die Gewöhnung an diejenige Form derselben, die bei uns zur Zeit in Wirksamkeit ist. Denn man bedenke wohl, daß es sich hier nicht um ein äußerliches, formelles Eingewöhnen, sondern um die letzte Phase eines großartigen Volksentwicklungs-Prozesses handelt, dessen Einfluß aus die Tiefen der Menschennatur, wo die Gedanken werden und wachsen, auch für den Widerwilligsten völlig unwiderstehlich ist. Nicht umsonst hat sich das deutsche Volk Jahrhunderte hindurch in tausend Formen und tausend von den Zeitverhältnissen geforderten Verkleidungen nach politischer Existenz gesehnt, und nicht umsonst ist diese Existenz so machtvoll, wie ein ge¬ waltiger Trompetenstoß, in die Erscheinung getreten. Wenn nicht in dem ab¬ sterbenden, so doch umso gewisser in dem heranwachsenden Geschlechte lebt der Reichs- und Vvlksgedanke; viele Einzelne mögen sich vorübergehend mit Haß gegen denselben erfüllen lassen, für die Masse ist dies unmöglich, denn in die Tiefen des Volksgemüth, welche sich hier mit neuen Vorstellungen und Idealen zu erfüllen im Begriffe sind, dringen die Gehässigkeiten des Tages garnicht. Die sozialdemokratischen Redner mögen sich heiser schreien und sich berauschen in wütenden Redensarten — sie werden dennoch nichts daran ändern, daß das Volk auf einmal dem Staate mit ganz andern Begriffen und Empfindungen gegenübersteht, und die entsprechenden Gedanken werden dann von selbst kommen. Dann werden die Sozialdemokraten gerade so verzweiflungsvoll die Hände ringen, wie heute die alten Fvrtschrittler über das angebliche mors in «si-vitinm, welches sie rings um sich her zu bemerken glauben, weil sie, gerade wie diese, „ihre Zeit nicht mehr verstehen." Wer denkt hier nicht an das Schriftwort, daß Er „die Herzen der Menschen lenket wie Wasserbäche"? Wer aber die Herzen hat, der hat nach kurzer Frist auch die Gedanken. Und hier bewegen wir uns allerdings auf einem Gebiete, auf dem auch die einfache Größe unsers greisen Kaisers, die Pflichttreue und der Weitblick des großen Kanzlers, das Volksmäßige in so vielen Gestalten unsers politischen Lebens ihre Rolle spielen werden. Nein, die Zukunft ist nicht hoffnungslos, denn das Herz des deutschen Volkes, aus dem die Reformation und die Wiedergeburt von Kaiser und Reich stammen, wird anch eine seinem Volkstum und einem gesicherten Staatswesen entsprechende soziale Zukunft zu gewinnen trachten. Dem können aber selbst die sozialdemokratischen Agitatoren sich umso weniger entziehen, als das Sozialistengesetz ihnen die Möglichkeit geraubt hat, die Parteidoktrin wie eine undurchbrechliche chinesische Mauer um sich her zu bauen. Es war hier in der That etwas Seltsames und Großartiges und für die freie Entwicklung menschlicher Kultur unsäglich Gefahrvolles im Werke: die Aufstellung eines nach allen Seiten hin ausgediftelteu Gebäudes von Partei- grundsätzcn, an denen bei Strafe der Ausstoßung (fast hätten wir gesagt des Bannes) nicht gerüttelt werden durfte. Alle sozialdemokratischen Blätter glichen den von einem Punkte aus geleiteten Uhren einer Stadt; was sie dachten, was

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198065/261>, abgerufen am 25.07.2024.