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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal.

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In elfter, vielleicht zwölfter Stunde.

vollständigen Herrschaft zu kommen vermag, die Gegenrevolution folgen würde.
Was uns hier retten wird, das ist das nämliche, was uns zu andern Zeiten
so viel zu schaffen macht: das Zentrifugale, Sonderbündlerische und Hartköpfige
im deutschen Wesen, und die gewaltige Kraft des monarchischen Gedankens wird
das noch Fehlende ersetzen. Die Erscheinung wie bei den französischen Föderalisten,
daß man es zwar zum äußersten kommen läßt, zuletzt aber doch vor dem
äußersten zurückschreckt, und daß die bloße Furcht vor der Hauptstadt auf eine
Menge sonst tapferer und entschlossener Leute geradezu lähmend einwirkt, diese
wird bei uns nicht vorkommen. In jeder preußischen Provinz wird es Dutzende
von Stellen geben, wo die Fahne des Königs erhoben wird; statt einer Vendee
werden wir deren, gering gerechnet, acht bis zehn haben; in mehreren der
Mittel-, ja selbst der Kleinstaaten werden ähnliche Erscheinungen zu Tage treten;
die Neuformirung ansehnlicher Truppenteile wird sehr bald stattfinden können,
und das Truppenmaterial wird massenhaft zuströmen; kurz, die Gegenrevolution
wird sehr schnell eine Regierung, zahlreiche Mittelpunkte und ein Heer haben.
Vieles halten wir für möglich. Daß aber eine sozialdemokrntisch-revolutionäre
Regierung in der überaus kurzen Zeit, die man ihr lassen wird, die Mittel sollte
finden können, sich gegen den Ansturm der Gegenrevolution zu behaupten nud
dieselbe dann auch noch niederzuschlagen -- das halte" wir wenigstens beim
ersten Ansturme nicht für möglich.

Schlimm genug freilich, wenn es schon so weit kommen kann, und niemand
vermag ja zu sagen, welche politischen Folgen eine solche krampfhafte Zuckung,
wie wir sie bisher nur bei andern Völkern zu beobachten hatten, bei und für
uns haben mag. Hinsichtlich der Frage aber, ob denn ein solcher gewaltsamer
Lvsbruch nicht verhütet werden kann, sind wir, wie eingangs dargelegt worden, sehr
pessimistisch gesinnt. Doch läßt sich auch hierüber einiges tröstliche sagen, womit
wir denn auch zuguderletzt nicht hinter dem Berge halten wollen. Die Frage zwar,
ob nicht die begonnene Svzialrefvrm viele Arbeiter der Sozialdemokratie oder
wenigstens einem gewaltsamen Erstreben sozialistischer Ziele abwendig gemacht
haben werde, bedauern wir verneinen zu müssen; dazu tritt diese Reform zu
zaghaft, wir möchten sagen zu akademisch, zu wenig handgreiflich, auch zu
stückweise und abgerissen auf. Es ist vollkommen richtig, daß dies zum Teil
aus den systematischer! Widerstand gewisser Parteien gegen die einzelnen Teile
des Reformprojekts und die hierdurch einem raschen und umfassenden Vorgehen
sich entgegenstellenden Schwierigkeiten zurückzuführen ist, aber an der Sache
wird hierdurch nichts geändert; daß hier ein Bestreben im Gange ist, dahin
gerichtet, seinen ganzen wirtschaftlichen und sozialen Zustand auf eine gesündere
Grundlage zu stellen, das ist dem Durchschnittsarbeiter unsrer Zeit noch lange,
lange nicht zum Bewußtsein gekommen, und kann es auch noch gar nicht sein.
Aber etwas andres vollzieht sich, und zwar mit einer elementaren Kraft, der
auch der böseste Wille des verbissensten Sozialdemokraten nicht zu widerstehen


In elfter, vielleicht zwölfter Stunde.

vollständigen Herrschaft zu kommen vermag, die Gegenrevolution folgen würde.
Was uns hier retten wird, das ist das nämliche, was uns zu andern Zeiten
so viel zu schaffen macht: das Zentrifugale, Sonderbündlerische und Hartköpfige
im deutschen Wesen, und die gewaltige Kraft des monarchischen Gedankens wird
das noch Fehlende ersetzen. Die Erscheinung wie bei den französischen Föderalisten,
daß man es zwar zum äußersten kommen läßt, zuletzt aber doch vor dem
äußersten zurückschreckt, und daß die bloße Furcht vor der Hauptstadt auf eine
Menge sonst tapferer und entschlossener Leute geradezu lähmend einwirkt, diese
wird bei uns nicht vorkommen. In jeder preußischen Provinz wird es Dutzende
von Stellen geben, wo die Fahne des Königs erhoben wird; statt einer Vendee
werden wir deren, gering gerechnet, acht bis zehn haben; in mehreren der
Mittel-, ja selbst der Kleinstaaten werden ähnliche Erscheinungen zu Tage treten;
die Neuformirung ansehnlicher Truppenteile wird sehr bald stattfinden können,
und das Truppenmaterial wird massenhaft zuströmen; kurz, die Gegenrevolution
wird sehr schnell eine Regierung, zahlreiche Mittelpunkte und ein Heer haben.
Vieles halten wir für möglich. Daß aber eine sozialdemokrntisch-revolutionäre
Regierung in der überaus kurzen Zeit, die man ihr lassen wird, die Mittel sollte
finden können, sich gegen den Ansturm der Gegenrevolution zu behaupten nud
dieselbe dann auch noch niederzuschlagen — das halte» wir wenigstens beim
ersten Ansturme nicht für möglich.

Schlimm genug freilich, wenn es schon so weit kommen kann, und niemand
vermag ja zu sagen, welche politischen Folgen eine solche krampfhafte Zuckung,
wie wir sie bisher nur bei andern Völkern zu beobachten hatten, bei und für
uns haben mag. Hinsichtlich der Frage aber, ob denn ein solcher gewaltsamer
Lvsbruch nicht verhütet werden kann, sind wir, wie eingangs dargelegt worden, sehr
pessimistisch gesinnt. Doch läßt sich auch hierüber einiges tröstliche sagen, womit
wir denn auch zuguderletzt nicht hinter dem Berge halten wollen. Die Frage zwar,
ob nicht die begonnene Svzialrefvrm viele Arbeiter der Sozialdemokratie oder
wenigstens einem gewaltsamen Erstreben sozialistischer Ziele abwendig gemacht
haben werde, bedauern wir verneinen zu müssen; dazu tritt diese Reform zu
zaghaft, wir möchten sagen zu akademisch, zu wenig handgreiflich, auch zu
stückweise und abgerissen auf. Es ist vollkommen richtig, daß dies zum Teil
aus den systematischer! Widerstand gewisser Parteien gegen die einzelnen Teile
des Reformprojekts und die hierdurch einem raschen und umfassenden Vorgehen
sich entgegenstellenden Schwierigkeiten zurückzuführen ist, aber an der Sache
wird hierdurch nichts geändert; daß hier ein Bestreben im Gange ist, dahin
gerichtet, seinen ganzen wirtschaftlichen und sozialen Zustand auf eine gesündere
Grundlage zu stellen, das ist dem Durchschnittsarbeiter unsrer Zeit noch lange,
lange nicht zum Bewußtsein gekommen, und kann es auch noch gar nicht sein.
Aber etwas andres vollzieht sich, und zwar mit einer elementaren Kraft, der
auch der böseste Wille des verbissensten Sozialdemokraten nicht zu widerstehen


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[0260] In elfter, vielleicht zwölfter Stunde. vollständigen Herrschaft zu kommen vermag, die Gegenrevolution folgen würde. Was uns hier retten wird, das ist das nämliche, was uns zu andern Zeiten so viel zu schaffen macht: das Zentrifugale, Sonderbündlerische und Hartköpfige im deutschen Wesen, und die gewaltige Kraft des monarchischen Gedankens wird das noch Fehlende ersetzen. Die Erscheinung wie bei den französischen Föderalisten, daß man es zwar zum äußersten kommen läßt, zuletzt aber doch vor dem äußersten zurückschreckt, und daß die bloße Furcht vor der Hauptstadt auf eine Menge sonst tapferer und entschlossener Leute geradezu lähmend einwirkt, diese wird bei uns nicht vorkommen. In jeder preußischen Provinz wird es Dutzende von Stellen geben, wo die Fahne des Königs erhoben wird; statt einer Vendee werden wir deren, gering gerechnet, acht bis zehn haben; in mehreren der Mittel-, ja selbst der Kleinstaaten werden ähnliche Erscheinungen zu Tage treten; die Neuformirung ansehnlicher Truppenteile wird sehr bald stattfinden können, und das Truppenmaterial wird massenhaft zuströmen; kurz, die Gegenrevolution wird sehr schnell eine Regierung, zahlreiche Mittelpunkte und ein Heer haben. Vieles halten wir für möglich. Daß aber eine sozialdemokrntisch-revolutionäre Regierung in der überaus kurzen Zeit, die man ihr lassen wird, die Mittel sollte finden können, sich gegen den Ansturm der Gegenrevolution zu behaupten nud dieselbe dann auch noch niederzuschlagen — das halte» wir wenigstens beim ersten Ansturme nicht für möglich. Schlimm genug freilich, wenn es schon so weit kommen kann, und niemand vermag ja zu sagen, welche politischen Folgen eine solche krampfhafte Zuckung, wie wir sie bisher nur bei andern Völkern zu beobachten hatten, bei und für uns haben mag. Hinsichtlich der Frage aber, ob denn ein solcher gewaltsamer Lvsbruch nicht verhütet werden kann, sind wir, wie eingangs dargelegt worden, sehr pessimistisch gesinnt. Doch läßt sich auch hierüber einiges tröstliche sagen, womit wir denn auch zuguderletzt nicht hinter dem Berge halten wollen. Die Frage zwar, ob nicht die begonnene Svzialrefvrm viele Arbeiter der Sozialdemokratie oder wenigstens einem gewaltsamen Erstreben sozialistischer Ziele abwendig gemacht haben werde, bedauern wir verneinen zu müssen; dazu tritt diese Reform zu zaghaft, wir möchten sagen zu akademisch, zu wenig handgreiflich, auch zu stückweise und abgerissen auf. Es ist vollkommen richtig, daß dies zum Teil aus den systematischer! Widerstand gewisser Parteien gegen die einzelnen Teile des Reformprojekts und die hierdurch einem raschen und umfassenden Vorgehen sich entgegenstellenden Schwierigkeiten zurückzuführen ist, aber an der Sache wird hierdurch nichts geändert; daß hier ein Bestreben im Gange ist, dahin gerichtet, seinen ganzen wirtschaftlichen und sozialen Zustand auf eine gesündere Grundlage zu stellen, das ist dem Durchschnittsarbeiter unsrer Zeit noch lange, lange nicht zum Bewußtsein gekommen, und kann es auch noch gar nicht sein. Aber etwas andres vollzieht sich, und zwar mit einer elementaren Kraft, der auch der böseste Wille des verbissensten Sozialdemokraten nicht zu widerstehen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198065/260>, abgerufen am 25.07.2024.