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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal.

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Bisher mußte unsre Betrachtung so trostlos wie möglich ausfallen. Nun
giebt es aber allerdings auch einige Punkte, teils allgemeine, die im Wesen der
Sache liegen, teils solche, die aus unsern besondern Verhältnissen und aus der
geschichtlichen Entwicklung unsrer Sozialdemokratie fließen, welche die Lage
minder düster erscheinen lassen und doch einige Hoffnung gewähren; zunächst
nach der Seite hin, daß sie ein Gelingen sozial-revolutionärer Stürme unwahr¬
scheinlich, ja so gut wie unmöglich erscheinen lassen, weiterhin aber auch im
Sinne einer Neuschaffung und Befestigung haltbarerer sozialer Zustände.

Da ist zuerst die große, große Schwäche, an welcher die Schlagkraft der
Svzialdemokmtie infolge des nun seit fast einem Menschenalter fortgesetzten
Predigens von der unmittelbar bevorstehenden sozialen Revolution leidet.
Ein Arbeiter, der als eben vom Militär entlassener feuriger junger Mann die
Leipziger oder Frankfurter Rede Lassalles gehört hatte und sich damals der Be¬
wegung einschloß, hat seitdem vieles durchgemacht. Nor seinen Augen hat Preußen
die Armeereorgauisatiou vollzogen, sind die siegreichen Kriege mit Dänemark,
Österreich und Frankreich geführt, ist das deutsche Reich begründet und sind
innerhalb desselben große und folgenreiche Entwicklungskämpfe durchgefochten
worden; und währenddem hat man ihm fortwährend versichert, der "Bourgeois¬
staat" sei faul und morsch bis ins Innerste hinein, schaffen und leisten könne
er überhaupt nichts brauchbares mehr, unsre Minister und Generäle seien im
Grunde lauter Dummköpfe, und allernächstens werde die Revolution kommen
und mit der ganzen Herrlichkeit aufräumen. Das läßt man sich ein paar Jahre
gefallen; ja es giebt auch Menschen, die einer solchen einmal wachgerufenen
Illusion ihr ganzes Leben zum Opfer bringen; aber die Masse kann und thut
dies nicht, und es ist tausend gegen eins zu wetten, daß unser Arbeiter aus
dem Anfange der sechziger Jahre inzwischen, wenn auch vielleicht nicht in seinem
Glauben an die sozialdemokratischen Lehren, so doch in seinem felsenfesten Ver¬
trauen auf deren baldiges, von ihm noch zu erlebendes Durchdringen wankend
geworden ist, und diese Zweifel auch auf sein Verhalten und schließlich selbst
auf seine Denkweise wirken läßt. Mindestens hat er gemerkt, daß der Staat,
die "verfaulte, schnöde Galeere," sich nicht in raschem Ansturme, sondern nur in
langem, mühsamem und opfervollcm Kampfe nehmen läßt, und die Geschichte der
zahllosen, teilweise so erbitterten Reibungen, die innerhalb der sozialdemokratischen
Führerschaft stattgefunden haben, hat mindestens auch den Erfolg gehabt, jene
schwung- und begeisterungsvolle Freudigkeit, welche Lassalle damals einer Schaar
intimer Anhänger einzuflößen vermochte, verfliegen zu lassen. Die Begeisterung läßt
sich nicht einpökeln; sie hält eine Zeit lang, sie hätt vielleicht ein paar Jahre
vor, aber dreiundzwanzig Jahre -- das ist unter allen Umständen zu viel. Eine
furchtbare .Klippe aller demokratischen Bestrebungen ist, solange es eine Geschichte
giebt, das Mißtrauen in die Führer gewesen; es braucht wohl kaum bemerkt zu
werden, vou wie verhängnisvollen Einflüsse dieser Faktor auch hier sein wird


Bisher mußte unsre Betrachtung so trostlos wie möglich ausfallen. Nun
giebt es aber allerdings auch einige Punkte, teils allgemeine, die im Wesen der
Sache liegen, teils solche, die aus unsern besondern Verhältnissen und aus der
geschichtlichen Entwicklung unsrer Sozialdemokratie fließen, welche die Lage
minder düster erscheinen lassen und doch einige Hoffnung gewähren; zunächst
nach der Seite hin, daß sie ein Gelingen sozial-revolutionärer Stürme unwahr¬
scheinlich, ja so gut wie unmöglich erscheinen lassen, weiterhin aber auch im
Sinne einer Neuschaffung und Befestigung haltbarerer sozialer Zustände.

Da ist zuerst die große, große Schwäche, an welcher die Schlagkraft der
Svzialdemokmtie infolge des nun seit fast einem Menschenalter fortgesetzten
Predigens von der unmittelbar bevorstehenden sozialen Revolution leidet.
Ein Arbeiter, der als eben vom Militär entlassener feuriger junger Mann die
Leipziger oder Frankfurter Rede Lassalles gehört hatte und sich damals der Be¬
wegung einschloß, hat seitdem vieles durchgemacht. Nor seinen Augen hat Preußen
die Armeereorgauisatiou vollzogen, sind die siegreichen Kriege mit Dänemark,
Österreich und Frankreich geführt, ist das deutsche Reich begründet und sind
innerhalb desselben große und folgenreiche Entwicklungskämpfe durchgefochten
worden; und währenddem hat man ihm fortwährend versichert, der „Bourgeois¬
staat" sei faul und morsch bis ins Innerste hinein, schaffen und leisten könne
er überhaupt nichts brauchbares mehr, unsre Minister und Generäle seien im
Grunde lauter Dummköpfe, und allernächstens werde die Revolution kommen
und mit der ganzen Herrlichkeit aufräumen. Das läßt man sich ein paar Jahre
gefallen; ja es giebt auch Menschen, die einer solchen einmal wachgerufenen
Illusion ihr ganzes Leben zum Opfer bringen; aber die Masse kann und thut
dies nicht, und es ist tausend gegen eins zu wetten, daß unser Arbeiter aus
dem Anfange der sechziger Jahre inzwischen, wenn auch vielleicht nicht in seinem
Glauben an die sozialdemokratischen Lehren, so doch in seinem felsenfesten Ver¬
trauen auf deren baldiges, von ihm noch zu erlebendes Durchdringen wankend
geworden ist, und diese Zweifel auch auf sein Verhalten und schließlich selbst
auf seine Denkweise wirken läßt. Mindestens hat er gemerkt, daß der Staat,
die „verfaulte, schnöde Galeere," sich nicht in raschem Ansturme, sondern nur in
langem, mühsamem und opfervollcm Kampfe nehmen läßt, und die Geschichte der
zahllosen, teilweise so erbitterten Reibungen, die innerhalb der sozialdemokratischen
Führerschaft stattgefunden haben, hat mindestens auch den Erfolg gehabt, jene
schwung- und begeisterungsvolle Freudigkeit, welche Lassalle damals einer Schaar
intimer Anhänger einzuflößen vermochte, verfliegen zu lassen. Die Begeisterung läßt
sich nicht einpökeln; sie hält eine Zeit lang, sie hätt vielleicht ein paar Jahre
vor, aber dreiundzwanzig Jahre — das ist unter allen Umständen zu viel. Eine
furchtbare .Klippe aller demokratischen Bestrebungen ist, solange es eine Geschichte
giebt, das Mißtrauen in die Führer gewesen; es braucht wohl kaum bemerkt zu
werden, vou wie verhängnisvollen Einflüsse dieser Faktor auch hier sein wird


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[0258] Bisher mußte unsre Betrachtung so trostlos wie möglich ausfallen. Nun giebt es aber allerdings auch einige Punkte, teils allgemeine, die im Wesen der Sache liegen, teils solche, die aus unsern besondern Verhältnissen und aus der geschichtlichen Entwicklung unsrer Sozialdemokratie fließen, welche die Lage minder düster erscheinen lassen und doch einige Hoffnung gewähren; zunächst nach der Seite hin, daß sie ein Gelingen sozial-revolutionärer Stürme unwahr¬ scheinlich, ja so gut wie unmöglich erscheinen lassen, weiterhin aber auch im Sinne einer Neuschaffung und Befestigung haltbarerer sozialer Zustände. Da ist zuerst die große, große Schwäche, an welcher die Schlagkraft der Svzialdemokmtie infolge des nun seit fast einem Menschenalter fortgesetzten Predigens von der unmittelbar bevorstehenden sozialen Revolution leidet. Ein Arbeiter, der als eben vom Militär entlassener feuriger junger Mann die Leipziger oder Frankfurter Rede Lassalles gehört hatte und sich damals der Be¬ wegung einschloß, hat seitdem vieles durchgemacht. Nor seinen Augen hat Preußen die Armeereorgauisatiou vollzogen, sind die siegreichen Kriege mit Dänemark, Österreich und Frankreich geführt, ist das deutsche Reich begründet und sind innerhalb desselben große und folgenreiche Entwicklungskämpfe durchgefochten worden; und währenddem hat man ihm fortwährend versichert, der „Bourgeois¬ staat" sei faul und morsch bis ins Innerste hinein, schaffen und leisten könne er überhaupt nichts brauchbares mehr, unsre Minister und Generäle seien im Grunde lauter Dummköpfe, und allernächstens werde die Revolution kommen und mit der ganzen Herrlichkeit aufräumen. Das läßt man sich ein paar Jahre gefallen; ja es giebt auch Menschen, die einer solchen einmal wachgerufenen Illusion ihr ganzes Leben zum Opfer bringen; aber die Masse kann und thut dies nicht, und es ist tausend gegen eins zu wetten, daß unser Arbeiter aus dem Anfange der sechziger Jahre inzwischen, wenn auch vielleicht nicht in seinem Glauben an die sozialdemokratischen Lehren, so doch in seinem felsenfesten Ver¬ trauen auf deren baldiges, von ihm noch zu erlebendes Durchdringen wankend geworden ist, und diese Zweifel auch auf sein Verhalten und schließlich selbst auf seine Denkweise wirken läßt. Mindestens hat er gemerkt, daß der Staat, die „verfaulte, schnöde Galeere," sich nicht in raschem Ansturme, sondern nur in langem, mühsamem und opfervollcm Kampfe nehmen läßt, und die Geschichte der zahllosen, teilweise so erbitterten Reibungen, die innerhalb der sozialdemokratischen Führerschaft stattgefunden haben, hat mindestens auch den Erfolg gehabt, jene schwung- und begeisterungsvolle Freudigkeit, welche Lassalle damals einer Schaar intimer Anhänger einzuflößen vermochte, verfliegen zu lassen. Die Begeisterung läßt sich nicht einpökeln; sie hält eine Zeit lang, sie hätt vielleicht ein paar Jahre vor, aber dreiundzwanzig Jahre — das ist unter allen Umständen zu viel. Eine furchtbare .Klippe aller demokratischen Bestrebungen ist, solange es eine Geschichte giebt, das Mißtrauen in die Führer gewesen; es braucht wohl kaum bemerkt zu werden, vou wie verhängnisvollen Einflüsse dieser Faktor auch hier sein wird

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198065/258>, abgerufen am 25.07.2024.