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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal.

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erklärt sich das? Wir glauben, in folgender Weise. Das damals lebende Ge¬
schlecht hatte wirklich schwere Zeiten durchlebt. Es hatte erlebt, wie bis in das
zweite Jahrzehnt dieses Jahrhunderts hinein wieder und wieder schwere Kriege
mit allen ihren Schrecknissen über Deutschlands Fluren hinzogen; wie der
Fremde bei uns herrschte; wie er den Wohlstand unsers Volkes aussog und
die Söhne unsers Landes ans die Schlachtfelder Spaniens und in die Eis¬
gefilde Rußlands schleppte, wo sie elend verkamen. Es hatte auch selbst noch
'geholfen, unser Vaterland wieder zu befreien; es wußte, welche unsägliche Opfer
an Gut und Blut das gekostet hatte. Es hatte dann auch erlebt, daß zwei
Jahre nach Wiederherstellung des Friedens Deutschland durch eine Mißernte
ganz nahe an eine wirkliche Hungersnot gebracht war. Wer alle diese Dinge
in der Erinnerung hatte, dem mußten die nächstfolgenden Jahre, so kläglich auch
vieles !>arin bestellt war, doch wie eine glückliche Zeit vorkommen; und deshalb
waren die Menschen leidlich zufrieden. Heute sind alle jene Erinnerungen ge¬
schwunden. Seit länger als zwei Menschenaltern ist kein großes nationales
Unglück über Deutschland hingezogen. Wir sind deshalb ein verwöhntes Ge¬
schlecht. Und weil es uns im ganzen so Wohl geht, ist jeder Einzelne unzu¬
frieden und meint, es müsse ihm noch besser gehen. Das teuflische Wort von
der "verdammten Bedürfnislosigkeit unsrer Arbeiter," das Lassalle in die Welt
geworfen hat, ist wie eine Giftsaat aufgegangen. Bedürfnislosigkeit hat noch
nie jemanden unglücklich gemacht. Unglücklich aber wird der Mensch durch die
Unzufriedenheit, in welche er sich hineinlebt durch die angeregte Begier nach
Dingen, die er seine Bedürfnisse nennt und die doch das Leben ihm nicht zu
gewähren vermag.

Wir kommen zum Schluß. Wir wollen uns redlich bemühen, Mittel zu
finden, um das Loos der geringern Klassen zu erleichtern und wirkliche Not¬
stände von ihnen abzuhalten, und wollen redlich diese Mittel ins Werk zu setzen
suchen. Aber laut widersprechen müssen wir, wenn man jenen Klassen vorredet,
daß das Leben für sie nicht mehr zu ertragen sei und daß es nnr an dem
bösen Willen der Bessergestellten liege, daß sie nicht herrlich und in Freuden
leben können. Wenn sozialdemokratische Agitatoren, von Hans aus ungebildete
Menschen, die sich in diesen Fanatismus hineingeredet haben, solche Reden führen,
so ist das schlimm genug, aber immer noch subjektiv entschuldbar. Unverant¬
wortlich aber ist es, wenn gebildete Männer, solche, die sich Vertreter der
Wissenschaft nennen, diese Lehren ins Volk tragen. Sie schüren damit den
glimmenden Brand, der unsre ganze Kultur einzuäschern droht.




erklärt sich das? Wir glauben, in folgender Weise. Das damals lebende Ge¬
schlecht hatte wirklich schwere Zeiten durchlebt. Es hatte erlebt, wie bis in das
zweite Jahrzehnt dieses Jahrhunderts hinein wieder und wieder schwere Kriege
mit allen ihren Schrecknissen über Deutschlands Fluren hinzogen; wie der
Fremde bei uns herrschte; wie er den Wohlstand unsers Volkes aussog und
die Söhne unsers Landes ans die Schlachtfelder Spaniens und in die Eis¬
gefilde Rußlands schleppte, wo sie elend verkamen. Es hatte auch selbst noch
'geholfen, unser Vaterland wieder zu befreien; es wußte, welche unsägliche Opfer
an Gut und Blut das gekostet hatte. Es hatte dann auch erlebt, daß zwei
Jahre nach Wiederherstellung des Friedens Deutschland durch eine Mißernte
ganz nahe an eine wirkliche Hungersnot gebracht war. Wer alle diese Dinge
in der Erinnerung hatte, dem mußten die nächstfolgenden Jahre, so kläglich auch
vieles !>arin bestellt war, doch wie eine glückliche Zeit vorkommen; und deshalb
waren die Menschen leidlich zufrieden. Heute sind alle jene Erinnerungen ge¬
schwunden. Seit länger als zwei Menschenaltern ist kein großes nationales
Unglück über Deutschland hingezogen. Wir sind deshalb ein verwöhntes Ge¬
schlecht. Und weil es uns im ganzen so Wohl geht, ist jeder Einzelne unzu¬
frieden und meint, es müsse ihm noch besser gehen. Das teuflische Wort von
der „verdammten Bedürfnislosigkeit unsrer Arbeiter," das Lassalle in die Welt
geworfen hat, ist wie eine Giftsaat aufgegangen. Bedürfnislosigkeit hat noch
nie jemanden unglücklich gemacht. Unglücklich aber wird der Mensch durch die
Unzufriedenheit, in welche er sich hineinlebt durch die angeregte Begier nach
Dingen, die er seine Bedürfnisse nennt und die doch das Leben ihm nicht zu
gewähren vermag.

Wir kommen zum Schluß. Wir wollen uns redlich bemühen, Mittel zu
finden, um das Loos der geringern Klassen zu erleichtern und wirkliche Not¬
stände von ihnen abzuhalten, und wollen redlich diese Mittel ins Werk zu setzen
suchen. Aber laut widersprechen müssen wir, wenn man jenen Klassen vorredet,
daß das Leben für sie nicht mehr zu ertragen sei und daß es nnr an dem
bösen Willen der Bessergestellten liege, daß sie nicht herrlich und in Freuden
leben können. Wenn sozialdemokratische Agitatoren, von Hans aus ungebildete
Menschen, die sich in diesen Fanatismus hineingeredet haben, solche Reden führen,
so ist das schlimm genug, aber immer noch subjektiv entschuldbar. Unverant¬
wortlich aber ist es, wenn gebildete Männer, solche, die sich Vertreter der
Wissenschaft nennen, diese Lehren ins Volk tragen. Sie schüren damit den
glimmenden Brand, der unsre ganze Kultur einzuäschern droht.




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[0244] erklärt sich das? Wir glauben, in folgender Weise. Das damals lebende Ge¬ schlecht hatte wirklich schwere Zeiten durchlebt. Es hatte erlebt, wie bis in das zweite Jahrzehnt dieses Jahrhunderts hinein wieder und wieder schwere Kriege mit allen ihren Schrecknissen über Deutschlands Fluren hinzogen; wie der Fremde bei uns herrschte; wie er den Wohlstand unsers Volkes aussog und die Söhne unsers Landes ans die Schlachtfelder Spaniens und in die Eis¬ gefilde Rußlands schleppte, wo sie elend verkamen. Es hatte auch selbst noch 'geholfen, unser Vaterland wieder zu befreien; es wußte, welche unsägliche Opfer an Gut und Blut das gekostet hatte. Es hatte dann auch erlebt, daß zwei Jahre nach Wiederherstellung des Friedens Deutschland durch eine Mißernte ganz nahe an eine wirkliche Hungersnot gebracht war. Wer alle diese Dinge in der Erinnerung hatte, dem mußten die nächstfolgenden Jahre, so kläglich auch vieles !>arin bestellt war, doch wie eine glückliche Zeit vorkommen; und deshalb waren die Menschen leidlich zufrieden. Heute sind alle jene Erinnerungen ge¬ schwunden. Seit länger als zwei Menschenaltern ist kein großes nationales Unglück über Deutschland hingezogen. Wir sind deshalb ein verwöhntes Ge¬ schlecht. Und weil es uns im ganzen so Wohl geht, ist jeder Einzelne unzu¬ frieden und meint, es müsse ihm noch besser gehen. Das teuflische Wort von der „verdammten Bedürfnislosigkeit unsrer Arbeiter," das Lassalle in die Welt geworfen hat, ist wie eine Giftsaat aufgegangen. Bedürfnislosigkeit hat noch nie jemanden unglücklich gemacht. Unglücklich aber wird der Mensch durch die Unzufriedenheit, in welche er sich hineinlebt durch die angeregte Begier nach Dingen, die er seine Bedürfnisse nennt und die doch das Leben ihm nicht zu gewähren vermag. Wir kommen zum Schluß. Wir wollen uns redlich bemühen, Mittel zu finden, um das Loos der geringern Klassen zu erleichtern und wirkliche Not¬ stände von ihnen abzuhalten, und wollen redlich diese Mittel ins Werk zu setzen suchen. Aber laut widersprechen müssen wir, wenn man jenen Klassen vorredet, daß das Leben für sie nicht mehr zu ertragen sei und daß es nnr an dem bösen Willen der Bessergestellten liege, daß sie nicht herrlich und in Freuden leben können. Wenn sozialdemokratische Agitatoren, von Hans aus ungebildete Menschen, die sich in diesen Fanatismus hineingeredet haben, solche Reden führen, so ist das schlimm genug, aber immer noch subjektiv entschuldbar. Unverant¬ wortlich aber ist es, wenn gebildete Männer, solche, die sich Vertreter der Wissenschaft nennen, diese Lehren ins Volk tragen. Sie schüren damit den glimmenden Brand, der unsre ganze Kultur einzuäschern droht.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198065/244>, abgerufen am 28.09.2024.