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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal.

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dieses Elements in hohem Maße geeignet ist, die obwaltenden Gegensätze zu
versöhnen. Aber auch die große Masse der geringern Stände lebt, bei uns in
Deutschland wenigstens, in Verhältnissen, die man nicht als tiefstes Elend be¬
zeichnen kann. Wer das behauptet, weiß garnicht, was tiefes Elend ist. Un¬
zweifelhaft hat sich die Gütererzeugung und der Güteraustausch seit fünfzig
Jahren enorm vermehrt. Dadurch ist uns zunächst die große Wohlthat zu Teil
geworden, daß wir vor der Gefahr einer Hungersnot, die in frühern Jahr¬
hunderten bald hier bald da auftrat und die auch noch vor einigen Jahren in
Indien Hunderttausende wegraffte, völlig gesichert sind. Auch haben wir ge¬
lernt -- um dies gleich hier anzuschließen -- das Umsichgreifen schwerer Krank¬
heiten in hohem Maße zu verhüten. Die Cholera, die im Laufe dieses Jahr¬
hunderts mehrfach unser Land heimsuchte, war garnicht zu vergleichen mit den
furchtbaren Krankheiten, die in frühern Jahrhunderten unsern Weltteil durch¬
wüteten. Die beiden schlimmsten Geißeln des menschlichen Geschlechts, Hunger
und Seuche, haben wir also fast gänzlich überwinden gelernt, und damit sind
zwei Hauptquellen wirklichen tiefen Volkseleudes verschlossen. Es ist aber auch
durch die vermehrte Gütererzeugung ein Wohlstand erwachsen, wie er zu keiner
frühern Zeit bestanden hat, ein Wohlstand, der allen Klassen unsers Volkes mehr
oder minder zu Gute kommt. Oder meint man wirklich, nur die Reichen profi-
tirten davon? Wir wollen mir auf folgende Produktionen hinweisen. In
Deutschland wird jährlich mindestens für neunhundert Millionen Mark Vier, für
dreihundert Millionen Mark Branntwein vertrunken und für dreihundert Mil¬
lionen Mark Tabak verraucht, eine Berechnung, die wahrscheinlich noch weit
hinter der Wirklichkeit zurückbleibt. Sind es nun die Reichen allein, welche
diese Genußmittel an sich wenden? Sie müßten in der That einen guten Magen
haben, um sie zu bewältigen. Nein, an dem Verbrauche dieser Genußmittel
nimmt unser Volk bis in die tiefsten Schichten hinab Teil. Nun fragen wir
weiter: Sind dieselben denn wirklich eine Lebensnotwendigkeit? Sind sie es,
mindestens gesagt, in dem Muße, in welchem sie verbraucht werden? Die Pyra¬
miden in Ägypten und das Kolossenm in Rom sind auch schwere Bauten ge-
wesen; und doch haben die Arbeiter dabei, so viel bekannt, weder Spirituosen
getrunken noch Zigarren geraucht. Und wenn man vielleicht sagt, das sei doch
schon so lange her und könne heute nicht mehr gelten, so verweisen wir darauf,
daß auch heute die größere Hälfte unsers Volkes, unsre Frauen, zum größten
Teile wenigstens sich dieser Genußmittel glücklicherweise uoch enthält. Sind
sie deshalb unglücklich zu nennen? Es wäre traurig, wenn dem so wäre. Sie
haben sich nicht daran gewöhnt und entbehren sie deshalb ohne Schmerzen.
Ist denn das Rauchen, dem sich das deutsche Volk mehr als irgendeine andre
Nation hingegeben hat, wirklich eine menschliche Notwendigkeit? Es ist in der
That nur ein angequältes Bedürfnis. Wer zum erstenmale raucht, hat nicht
leicht einen Genuß, wohl aber öfters recht üble Folgen davon. Aber jeder


Grenzboten II. 1886. "0

dieses Elements in hohem Maße geeignet ist, die obwaltenden Gegensätze zu
versöhnen. Aber auch die große Masse der geringern Stände lebt, bei uns in
Deutschland wenigstens, in Verhältnissen, die man nicht als tiefstes Elend be¬
zeichnen kann. Wer das behauptet, weiß garnicht, was tiefes Elend ist. Un¬
zweifelhaft hat sich die Gütererzeugung und der Güteraustausch seit fünfzig
Jahren enorm vermehrt. Dadurch ist uns zunächst die große Wohlthat zu Teil
geworden, daß wir vor der Gefahr einer Hungersnot, die in frühern Jahr¬
hunderten bald hier bald da auftrat und die auch noch vor einigen Jahren in
Indien Hunderttausende wegraffte, völlig gesichert sind. Auch haben wir ge¬
lernt — um dies gleich hier anzuschließen — das Umsichgreifen schwerer Krank¬
heiten in hohem Maße zu verhüten. Die Cholera, die im Laufe dieses Jahr¬
hunderts mehrfach unser Land heimsuchte, war garnicht zu vergleichen mit den
furchtbaren Krankheiten, die in frühern Jahrhunderten unsern Weltteil durch¬
wüteten. Die beiden schlimmsten Geißeln des menschlichen Geschlechts, Hunger
und Seuche, haben wir also fast gänzlich überwinden gelernt, und damit sind
zwei Hauptquellen wirklichen tiefen Volkseleudes verschlossen. Es ist aber auch
durch die vermehrte Gütererzeugung ein Wohlstand erwachsen, wie er zu keiner
frühern Zeit bestanden hat, ein Wohlstand, der allen Klassen unsers Volkes mehr
oder minder zu Gute kommt. Oder meint man wirklich, nur die Reichen profi-
tirten davon? Wir wollen mir auf folgende Produktionen hinweisen. In
Deutschland wird jährlich mindestens für neunhundert Millionen Mark Vier, für
dreihundert Millionen Mark Branntwein vertrunken und für dreihundert Mil¬
lionen Mark Tabak verraucht, eine Berechnung, die wahrscheinlich noch weit
hinter der Wirklichkeit zurückbleibt. Sind es nun die Reichen allein, welche
diese Genußmittel an sich wenden? Sie müßten in der That einen guten Magen
haben, um sie zu bewältigen. Nein, an dem Verbrauche dieser Genußmittel
nimmt unser Volk bis in die tiefsten Schichten hinab Teil. Nun fragen wir
weiter: Sind dieselben denn wirklich eine Lebensnotwendigkeit? Sind sie es,
mindestens gesagt, in dem Muße, in welchem sie verbraucht werden? Die Pyra¬
miden in Ägypten und das Kolossenm in Rom sind auch schwere Bauten ge-
wesen; und doch haben die Arbeiter dabei, so viel bekannt, weder Spirituosen
getrunken noch Zigarren geraucht. Und wenn man vielleicht sagt, das sei doch
schon so lange her und könne heute nicht mehr gelten, so verweisen wir darauf,
daß auch heute die größere Hälfte unsers Volkes, unsre Frauen, zum größten
Teile wenigstens sich dieser Genußmittel glücklicherweise uoch enthält. Sind
sie deshalb unglücklich zu nennen? Es wäre traurig, wenn dem so wäre. Sie
haben sich nicht daran gewöhnt und entbehren sie deshalb ohne Schmerzen.
Ist denn das Rauchen, dem sich das deutsche Volk mehr als irgendeine andre
Nation hingegeben hat, wirklich eine menschliche Notwendigkeit? Es ist in der
That nur ein angequältes Bedürfnis. Wer zum erstenmale raucht, hat nicht
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198065/241>, abgerufen am 01.10.2024.