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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal.

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Margarethe von Bülow.

Aber wichtig sind sie für die Entwicklung der Bülow, denn hier erscheinen jene
Charaktere von allzustrengen Pflichtgefühl, deren Typus im "Jonas Briecius"
mit einer ganz seltenen dichterischen Kraft und Tiefe dargestellt ist, nur daß die
junge Dichterin in den Novellen noch nicht die rechte Stellung zu dem Motiv
gefunden hat und deshalb sentimental geworden ist.

Am unbedeutendsten ist "Gebunden" trotz der hübschen Slizziruug des die
Hauptsache umrahmenden kleinstädtischen Lebens. Auch hier spielt übrigens die
Unklarheit des Gefühls mit. Hildegarde ist mit ihrem Vetter Max in geschwister¬
lichen Verhältnis zusammen aufgewachsen, bis sie in ein Alter kamen, wo sie
sich nicht mehr als Geschwister betrachten durften und sich trennen nnißten.
Max heiratete, indes Hildcgarde mit Verwandten mehrere Jahre Italien be¬
suchte, erkennt aber bald, daß er eigentlich die Cousine geliebt und einen
thörichten Schritt gethan habe. Ein erneutes Zusammenleben beider läßt
Hildegardc die unbezähmbare Leidenschaft des Vetters erkennen; zu stolz, eine
Ehe zu zerstören, selbst wo sie den Mann liebt, flüchtet sie von ihm und führt
ein unstetes Wanderleben als alleinstehendes junges Mädchen. Jeder Versuchung,
zu heiraten, widersteht sie, auch dann, als sie selbst den Freier liebt, auch dann,
als sie erfährt, daß Max sein Weib verlassen und im Kriege den gesuchten Tod
gefunden hat. Warum? Aus Pflichtgefühl, aus Treue für den Toten.

Ebenso heroisch entsagungsvoll ist die schöne Adelheid von Dewden in den
"Tagesgespenstern." Sie hat die unselige Gabe des sogenannten zweiten Gesichts,
jedem Menschen nämlich untrüglich von Gesicht abzusehen, ob er in diesem
Jahre sterben werde oder nicht. Sie ist so unglücklich darüber, daß sie die
menschliche Gesellschaft flieht und sich in die tiefste Einsamkeit verbirgt. Aber
auch dort trifft sie die Liebe, und sie entsagt dem Glück, ob ihr auch das Herz
darüber bricht. Warum? Um keinen andern unglücklich zu machen.

Und vollends Gabriel, dieses Ideal von einem Menschen und Schulmeister,
ist ein Pedant, ein Märtyrer des Pflichtgefühls. Der vornehme Arzt aus der
Stadt besucht ihn, den hoffnungslos Kranken, aber leider kommt er vor dem
beendeten Unterrichte: Gabriel läßt ihn warten bis die Schulstunde aus ist.
Gabriel hat als einziges Erbgut von seinen fmhgeschiednen Eltern das Bild
der Mutter erhalten, das der Vater gemalt hat, er hätte mit dem Verkaufe
des bedeutenden Kunstwerks seine eignen Studien fördern können, und that es
aus Pietät nicht; aber die Schulden eines Vetters zu bezahlen, hat er sich zum
Verkaufe des einzigen Besitzes entschlossen, und wie berichtet er davon! "Ich
schäme mich zu sagen, daß die Erfüllung dieser Pflicht mir nicht ganz leicht
wurde, daß ich im Gegenteil rasch handeln mußte, um es überhaupt zu voll¬
bringen. Es ist nicht weit her mit dem Guten in mir." Und weiter: "Vielleicht
bin ich darum soviel allein gewesen, weil ich besonders viel Arbeit in mir
vorfand; ach, so klein die Aufgabe uus bedünkt, die wir übernehmen, sie ist noch
immer viel zu groß!" So also faßt er die menschliche Pflicht auf: stets bereit


Margarethe von Bülow.

Aber wichtig sind sie für die Entwicklung der Bülow, denn hier erscheinen jene
Charaktere von allzustrengen Pflichtgefühl, deren Typus im „Jonas Briecius"
mit einer ganz seltenen dichterischen Kraft und Tiefe dargestellt ist, nur daß die
junge Dichterin in den Novellen noch nicht die rechte Stellung zu dem Motiv
gefunden hat und deshalb sentimental geworden ist.

Am unbedeutendsten ist „Gebunden" trotz der hübschen Slizziruug des die
Hauptsache umrahmenden kleinstädtischen Lebens. Auch hier spielt übrigens die
Unklarheit des Gefühls mit. Hildegarde ist mit ihrem Vetter Max in geschwister¬
lichen Verhältnis zusammen aufgewachsen, bis sie in ein Alter kamen, wo sie
sich nicht mehr als Geschwister betrachten durften und sich trennen nnißten.
Max heiratete, indes Hildcgarde mit Verwandten mehrere Jahre Italien be¬
suchte, erkennt aber bald, daß er eigentlich die Cousine geliebt und einen
thörichten Schritt gethan habe. Ein erneutes Zusammenleben beider läßt
Hildegardc die unbezähmbare Leidenschaft des Vetters erkennen; zu stolz, eine
Ehe zu zerstören, selbst wo sie den Mann liebt, flüchtet sie von ihm und führt
ein unstetes Wanderleben als alleinstehendes junges Mädchen. Jeder Versuchung,
zu heiraten, widersteht sie, auch dann, als sie selbst den Freier liebt, auch dann,
als sie erfährt, daß Max sein Weib verlassen und im Kriege den gesuchten Tod
gefunden hat. Warum? Aus Pflichtgefühl, aus Treue für den Toten.

Ebenso heroisch entsagungsvoll ist die schöne Adelheid von Dewden in den
„Tagesgespenstern." Sie hat die unselige Gabe des sogenannten zweiten Gesichts,
jedem Menschen nämlich untrüglich von Gesicht abzusehen, ob er in diesem
Jahre sterben werde oder nicht. Sie ist so unglücklich darüber, daß sie die
menschliche Gesellschaft flieht und sich in die tiefste Einsamkeit verbirgt. Aber
auch dort trifft sie die Liebe, und sie entsagt dem Glück, ob ihr auch das Herz
darüber bricht. Warum? Um keinen andern unglücklich zu machen.

Und vollends Gabriel, dieses Ideal von einem Menschen und Schulmeister,
ist ein Pedant, ein Märtyrer des Pflichtgefühls. Der vornehme Arzt aus der
Stadt besucht ihn, den hoffnungslos Kranken, aber leider kommt er vor dem
beendeten Unterrichte: Gabriel läßt ihn warten bis die Schulstunde aus ist.
Gabriel hat als einziges Erbgut von seinen fmhgeschiednen Eltern das Bild
der Mutter erhalten, das der Vater gemalt hat, er hätte mit dem Verkaufe
des bedeutenden Kunstwerks seine eignen Studien fördern können, und that es
aus Pietät nicht; aber die Schulden eines Vetters zu bezahlen, hat er sich zum
Verkaufe des einzigen Besitzes entschlossen, und wie berichtet er davon! „Ich
schäme mich zu sagen, daß die Erfüllung dieser Pflicht mir nicht ganz leicht
wurde, daß ich im Gegenteil rasch handeln mußte, um es überhaupt zu voll¬
bringen. Es ist nicht weit her mit dem Guten in mir." Und weiter: „Vielleicht
bin ich darum soviel allein gewesen, weil ich besonders viel Arbeit in mir
vorfand; ach, so klein die Aufgabe uus bedünkt, die wir übernehmen, sie ist noch
immer viel zu groß!" So also faßt er die menschliche Pflicht auf: stets bereit


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[0222] Margarethe von Bülow. Aber wichtig sind sie für die Entwicklung der Bülow, denn hier erscheinen jene Charaktere von allzustrengen Pflichtgefühl, deren Typus im „Jonas Briecius" mit einer ganz seltenen dichterischen Kraft und Tiefe dargestellt ist, nur daß die junge Dichterin in den Novellen noch nicht die rechte Stellung zu dem Motiv gefunden hat und deshalb sentimental geworden ist. Am unbedeutendsten ist „Gebunden" trotz der hübschen Slizziruug des die Hauptsache umrahmenden kleinstädtischen Lebens. Auch hier spielt übrigens die Unklarheit des Gefühls mit. Hildegarde ist mit ihrem Vetter Max in geschwister¬ lichen Verhältnis zusammen aufgewachsen, bis sie in ein Alter kamen, wo sie sich nicht mehr als Geschwister betrachten durften und sich trennen nnißten. Max heiratete, indes Hildcgarde mit Verwandten mehrere Jahre Italien be¬ suchte, erkennt aber bald, daß er eigentlich die Cousine geliebt und einen thörichten Schritt gethan habe. Ein erneutes Zusammenleben beider läßt Hildegardc die unbezähmbare Leidenschaft des Vetters erkennen; zu stolz, eine Ehe zu zerstören, selbst wo sie den Mann liebt, flüchtet sie von ihm und führt ein unstetes Wanderleben als alleinstehendes junges Mädchen. Jeder Versuchung, zu heiraten, widersteht sie, auch dann, als sie selbst den Freier liebt, auch dann, als sie erfährt, daß Max sein Weib verlassen und im Kriege den gesuchten Tod gefunden hat. Warum? Aus Pflichtgefühl, aus Treue für den Toten. Ebenso heroisch entsagungsvoll ist die schöne Adelheid von Dewden in den „Tagesgespenstern." Sie hat die unselige Gabe des sogenannten zweiten Gesichts, jedem Menschen nämlich untrüglich von Gesicht abzusehen, ob er in diesem Jahre sterben werde oder nicht. Sie ist so unglücklich darüber, daß sie die menschliche Gesellschaft flieht und sich in die tiefste Einsamkeit verbirgt. Aber auch dort trifft sie die Liebe, und sie entsagt dem Glück, ob ihr auch das Herz darüber bricht. Warum? Um keinen andern unglücklich zu machen. Und vollends Gabriel, dieses Ideal von einem Menschen und Schulmeister, ist ein Pedant, ein Märtyrer des Pflichtgefühls. Der vornehme Arzt aus der Stadt besucht ihn, den hoffnungslos Kranken, aber leider kommt er vor dem beendeten Unterrichte: Gabriel läßt ihn warten bis die Schulstunde aus ist. Gabriel hat als einziges Erbgut von seinen fmhgeschiednen Eltern das Bild der Mutter erhalten, das der Vater gemalt hat, er hätte mit dem Verkaufe des bedeutenden Kunstwerks seine eignen Studien fördern können, und that es aus Pietät nicht; aber die Schulden eines Vetters zu bezahlen, hat er sich zum Verkaufe des einzigen Besitzes entschlossen, und wie berichtet er davon! „Ich schäme mich zu sagen, daß die Erfüllung dieser Pflicht mir nicht ganz leicht wurde, daß ich im Gegenteil rasch handeln mußte, um es überhaupt zu voll¬ bringen. Es ist nicht weit her mit dem Guten in mir." Und weiter: „Vielleicht bin ich darum soviel allein gewesen, weil ich besonders viel Arbeit in mir vorfand; ach, so klein die Aufgabe uus bedünkt, die wir übernehmen, sie ist noch immer viel zu groß!" So also faßt er die menschliche Pflicht auf: stets bereit

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198065/222>, abgerufen am 26.08.2024.