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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal.

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lasseue Fragment eines gährenden Genies, wie etwa die dramatischen Entwürfe
Georg Büchners, aus purer Sentimentalität seinen, Werte nach ins Shakespearische
anfgebauscht. Offenbar hielt sich der nichts weniger als sentimentale Julian
Schmidt diese Erfahrungen vor Augen, und um nicht in den gleichen Fehler zu
geraten, zog er es vor. lieber etwas zu wenig als zu viel des Lobes über die
Novellen der Bülow zu sagen; darum fällte er das reservirte Urteil: "Was
bei größerer Reife aus ihr sich hätte entwickeln können" u. s. w. Nun ist aber
ein neues Buch ans dem Nachlasse der Bülow erschienen, die Erzählung Jonas
BriceiuS (Leipzig, Grunvw, 1886), und wenn man auch dieses Werk kennen
gelernt hat, dann erinnert man sich unwillkürlich ein das Schicksal der Beur¬
teilung des gleichfalls jung verstorbenen Franz Schubert. Ihm setzte der ängstlich
gewissenhafte Grillparzer die Grabschrift: "Der Tod begrub hier einen reichen
Besitz, aber noch schönere Hoffnungen." Gegen dieses reservirte "aber" trat
R. Schumann in seiner klassischen Charakteristik des liederreichen Sängers auf
und verwies auf den hinlänglich reichen Besitz, den jener hinterlassen, um die
Trauer über die unerfüllten tzvffnnngen zurückzubannen. In ähnlichem Falle
fühlte man sich auch hier beinahe versucht, die Dichtungen Margarethe von
Bülows gegen die stolze Bescheidenheit des eignen Landsmauus zu schützen, wenn
es uns nicht um eine ganz sachliche Darstellung ihrer Eigenart und keineswegs
um eine Apologie zu thun wäre.

Wenn die volle Beherrschung der Kunstnnttel bis zur Virtuosität, wenn
Klarheit über das eigne Wollen, wenn vor allem die sichtbar errungene Un¬
abhängigkeit von einem sehr mächtig einwirkenden Vorbilde Kennzeichen der
Reife sind, dann muß man sagen, daß die kaum vierundzwnnzigjährige Marga¬
rethe von Bülow von einer verblüffenden Frühreife war.

Sie geht in ihren Novellen und zumal im "Briecins" direkt auf die höchsten
Ziele los: auf die Schilderung tiefer und originaler Charaktere. Erfindung,
Handlung, Darstellung, alles ist der Charakteristik gewidmet. Sie hat eine
große Begabung für landschaftliche Schilderung und ist immer stimmungsvoll
in den Nnturbildern; aber sie legt sich selbst Zwang an und streicht die
Malereien, wenn sie ihr zu selbständig werden. Sie ist von der größten
Sparsamkeit in den Mitteln der Darstellung,' sie spricht und läßt nur das
Notwendigste sprechen, in kurzen Sätzen, die zuweilen die Kraft von Naturlauten
gewinnen. Sie reflektirt nie über ihre Figuren und Situationen, sie schildert
nur selten unmittelbar, sie charcckterisirt nur durch Handlungen oder dnrch die
Wirkungen der Figuren auf einander. Sie ist von der größten Objektivität
ihren Gestalten gegenüber und frei von jeder abstrakten Tendenz. Auch den Neben¬
personen trachtet sie durch wenige Striche Persönlichkeit zu verleihen. Ihre
Phantasie bewegt sich am liebsten aus dem Lande, in einer romantischen Natur¬
umgebung, und da sie viel herumgekommen ist, vermag sie für jede Handlung
ein passendes Lokal zu wählen, dessen Kolorit sie mit realistischer Treue zeichnet.


Grmzbvwi II. 1836. 27

lasseue Fragment eines gährenden Genies, wie etwa die dramatischen Entwürfe
Georg Büchners, aus purer Sentimentalität seinen, Werte nach ins Shakespearische
anfgebauscht. Offenbar hielt sich der nichts weniger als sentimentale Julian
Schmidt diese Erfahrungen vor Augen, und um nicht in den gleichen Fehler zu
geraten, zog er es vor. lieber etwas zu wenig als zu viel des Lobes über die
Novellen der Bülow zu sagen; darum fällte er das reservirte Urteil: „Was
bei größerer Reife aus ihr sich hätte entwickeln können" u. s. w. Nun ist aber
ein neues Buch ans dem Nachlasse der Bülow erschienen, die Erzählung Jonas
BriceiuS (Leipzig, Grunvw, 1886), und wenn man auch dieses Werk kennen
gelernt hat, dann erinnert man sich unwillkürlich ein das Schicksal der Beur¬
teilung des gleichfalls jung verstorbenen Franz Schubert. Ihm setzte der ängstlich
gewissenhafte Grillparzer die Grabschrift: „Der Tod begrub hier einen reichen
Besitz, aber noch schönere Hoffnungen." Gegen dieses reservirte „aber" trat
R. Schumann in seiner klassischen Charakteristik des liederreichen Sängers auf
und verwies auf den hinlänglich reichen Besitz, den jener hinterlassen, um die
Trauer über die unerfüllten tzvffnnngen zurückzubannen. In ähnlichem Falle
fühlte man sich auch hier beinahe versucht, die Dichtungen Margarethe von
Bülows gegen die stolze Bescheidenheit des eignen Landsmauus zu schützen, wenn
es uns nicht um eine ganz sachliche Darstellung ihrer Eigenart und keineswegs
um eine Apologie zu thun wäre.

Wenn die volle Beherrschung der Kunstnnttel bis zur Virtuosität, wenn
Klarheit über das eigne Wollen, wenn vor allem die sichtbar errungene Un¬
abhängigkeit von einem sehr mächtig einwirkenden Vorbilde Kennzeichen der
Reife sind, dann muß man sagen, daß die kaum vierundzwnnzigjährige Marga¬
rethe von Bülow von einer verblüffenden Frühreife war.

Sie geht in ihren Novellen und zumal im „Briecins" direkt auf die höchsten
Ziele los: auf die Schilderung tiefer und originaler Charaktere. Erfindung,
Handlung, Darstellung, alles ist der Charakteristik gewidmet. Sie hat eine
große Begabung für landschaftliche Schilderung und ist immer stimmungsvoll
in den Nnturbildern; aber sie legt sich selbst Zwang an und streicht die
Malereien, wenn sie ihr zu selbständig werden. Sie ist von der größten
Sparsamkeit in den Mitteln der Darstellung,' sie spricht und läßt nur das
Notwendigste sprechen, in kurzen Sätzen, die zuweilen die Kraft von Naturlauten
gewinnen. Sie reflektirt nie über ihre Figuren und Situationen, sie schildert
nur selten unmittelbar, sie charcckterisirt nur durch Handlungen oder dnrch die
Wirkungen der Figuren auf einander. Sie ist von der größten Objektivität
ihren Gestalten gegenüber und frei von jeder abstrakten Tendenz. Auch den Neben¬
personen trachtet sie durch wenige Striche Persönlichkeit zu verleihen. Ihre
Phantasie bewegt sich am liebsten aus dem Lande, in einer romantischen Natur¬
umgebung, und da sie viel herumgekommen ist, vermag sie für jede Handlung
ein passendes Lokal zu wählen, dessen Kolorit sie mit realistischer Treue zeichnet.


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[0217] lasseue Fragment eines gährenden Genies, wie etwa die dramatischen Entwürfe Georg Büchners, aus purer Sentimentalität seinen, Werte nach ins Shakespearische anfgebauscht. Offenbar hielt sich der nichts weniger als sentimentale Julian Schmidt diese Erfahrungen vor Augen, und um nicht in den gleichen Fehler zu geraten, zog er es vor. lieber etwas zu wenig als zu viel des Lobes über die Novellen der Bülow zu sagen; darum fällte er das reservirte Urteil: „Was bei größerer Reife aus ihr sich hätte entwickeln können" u. s. w. Nun ist aber ein neues Buch ans dem Nachlasse der Bülow erschienen, die Erzählung Jonas BriceiuS (Leipzig, Grunvw, 1886), und wenn man auch dieses Werk kennen gelernt hat, dann erinnert man sich unwillkürlich ein das Schicksal der Beur¬ teilung des gleichfalls jung verstorbenen Franz Schubert. Ihm setzte der ängstlich gewissenhafte Grillparzer die Grabschrift: „Der Tod begrub hier einen reichen Besitz, aber noch schönere Hoffnungen." Gegen dieses reservirte „aber" trat R. Schumann in seiner klassischen Charakteristik des liederreichen Sängers auf und verwies auf den hinlänglich reichen Besitz, den jener hinterlassen, um die Trauer über die unerfüllten tzvffnnngen zurückzubannen. In ähnlichem Falle fühlte man sich auch hier beinahe versucht, die Dichtungen Margarethe von Bülows gegen die stolze Bescheidenheit des eignen Landsmauus zu schützen, wenn es uns nicht um eine ganz sachliche Darstellung ihrer Eigenart und keineswegs um eine Apologie zu thun wäre. Wenn die volle Beherrschung der Kunstnnttel bis zur Virtuosität, wenn Klarheit über das eigne Wollen, wenn vor allem die sichtbar errungene Un¬ abhängigkeit von einem sehr mächtig einwirkenden Vorbilde Kennzeichen der Reife sind, dann muß man sagen, daß die kaum vierundzwnnzigjährige Marga¬ rethe von Bülow von einer verblüffenden Frühreife war. Sie geht in ihren Novellen und zumal im „Briecins" direkt auf die höchsten Ziele los: auf die Schilderung tiefer und originaler Charaktere. Erfindung, Handlung, Darstellung, alles ist der Charakteristik gewidmet. Sie hat eine große Begabung für landschaftliche Schilderung und ist immer stimmungsvoll in den Nnturbildern; aber sie legt sich selbst Zwang an und streicht die Malereien, wenn sie ihr zu selbständig werden. Sie ist von der größten Sparsamkeit in den Mitteln der Darstellung,' sie spricht und läßt nur das Notwendigste sprechen, in kurzen Sätzen, die zuweilen die Kraft von Naturlauten gewinnen. Sie reflektirt nie über ihre Figuren und Situationen, sie schildert nur selten unmittelbar, sie charcckterisirt nur durch Handlungen oder dnrch die Wirkungen der Figuren auf einander. Sie ist von der größten Objektivität ihren Gestalten gegenüber und frei von jeder abstrakten Tendenz. Auch den Neben¬ personen trachtet sie durch wenige Striche Persönlichkeit zu verleihen. Ihre Phantasie bewegt sich am liebsten aus dem Lande, in einer romantischen Natur¬ umgebung, und da sie viel herumgekommen ist, vermag sie für jede Handlung ein passendes Lokal zu wählen, dessen Kolorit sie mit realistischer Treue zeichnet. Grmzbvwi II. 1836. 27

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198065/217>, abgerufen am 28.12.2024.