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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal.

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erweckuug dieser glänzenden Erinnerungen und mit der ernstern Pflege des
vlämischeu Volks- und Sprachtums beschäftigt. Der weitere Hauptgrund für
die geistige Vereinsamung des vlämischeu Volkes ist aber die Scheidewand,
welche die französische Sprache und Bildung zwischen den höhern Klassen und
dem eigentlichen Volke seit Menschenaltern errichtet haben. Die Gebildeten leben
in einer ganz andern geistigen Atmosphäre als das Volk. Ihre ernsten Stu¬
dien sind in französischer Sprache, ihre Reden vor Gericht, in den Kammern
gleichfalls. An den Universitäten in Lüttich und Gent wird fast ausschließlich
in französischer Sprache vorgetragen. Das Leben der Gebildeten wird dadurch
ein zwiespältiges. Sie bedienen sich der vlcimischen Sprache etwa wie wir mit
unsern pommerschen oder mecklenburgischen Dienstmädchen des Plattdeutschen.
Sie stehen mit den nur des Vlämischeu mächtigen Massen in keiner innerlichen
und tiefern geistigen Beziehung. Und doch besteht das wirklich treibende Leben
eines Volkes gerade in dieser beständigen Wechselwirkung zwischen Volk und
Gebildeten, und ohne die Füße im Volksboden wurzeln zu lassen, kaun der
Kopf der Gebildeten keine großen und dauernden, die Gcsamteutwicklung för¬
dernden Ideen und Werke erzeugen. Das niedere Volk hat somit an den Ge¬
bildeten seines Stammes weder Führer noch Förderer. Es wird dadurch zu
einer Nichtentwicklung des nationalen Bewußtseins verurteilt, zu einer geistigen
Atome und Kraftlosigkeit, in welcher, wie bei embryonischen, noch ans den
ersten Stufen sich befindenden Nationalitäten, die Religion die erste, be¬
stimmende Stelle einnimmt. (So hassen z. B. die griechisch-katholischen Serben
in Ungarn die römisch-katholischen Kroaten, trotz der gemeinsamen slawischen Ab¬
stammung, als Abtrünnige.) Dazu kommt, daß die Geistlichen die einzigen Ge¬
bildeten sind, welche zum Volke über andre als gewöhnliche Dinge in vlämischer
Zunge reden, und dadurch ihre geistigen Leiter und Vertreter in allen Verhält¬
nissen des Lebens geworden sind. Die Pflege des Vlämischeu bei Gebildeten
und Ungebildeten, die dadurch zu bewirkende Vereinigung beider zu einem neu-
gekräftigten nationalen Bewußtsein ist deshalb die erste Hauptbedingung zur
Brechung des übermäßigen und ungesunden Einflusses des Klerus. Die rege
geistige Verbindung mit Holland und Deutschland (zunächst mittels des ver¬
wandten Plattdeutschen) muß systematisch organisirt werden. Nur so kann zu¬
gleich ein Gegengewicht gegen den französischen Formalismus erwachsen, welcher
die großen Städte und die wallonischen Provinzen in einer gewissen geistigen
und seelischen Unfruchtbarkeit hält und für jenes konstitutionelle ewige Schankel-
systcm mit verantwortlich ist, das in seinen Wirkungen an die Arbeit der Pene-
lope erinnert. Die eine ans Nuder kommende Partei trennt sofort das Gewebe
auf, welches die andre, abtretende in den Jahren vorher mühsam geschaffen hat.
Frankreichs Niedergang und Englands steigende Verlegenheiten sind der welt¬
geschichtliche drohende Bankerott dieses Systems. Es fehlt in Belgien wie in
Frankreich an einer mächtigen und ununterbrochenen Vertretung der dauernden


erweckuug dieser glänzenden Erinnerungen und mit der ernstern Pflege des
vlämischeu Volks- und Sprachtums beschäftigt. Der weitere Hauptgrund für
die geistige Vereinsamung des vlämischeu Volkes ist aber die Scheidewand,
welche die französische Sprache und Bildung zwischen den höhern Klassen und
dem eigentlichen Volke seit Menschenaltern errichtet haben. Die Gebildeten leben
in einer ganz andern geistigen Atmosphäre als das Volk. Ihre ernsten Stu¬
dien sind in französischer Sprache, ihre Reden vor Gericht, in den Kammern
gleichfalls. An den Universitäten in Lüttich und Gent wird fast ausschließlich
in französischer Sprache vorgetragen. Das Leben der Gebildeten wird dadurch
ein zwiespältiges. Sie bedienen sich der vlcimischen Sprache etwa wie wir mit
unsern pommerschen oder mecklenburgischen Dienstmädchen des Plattdeutschen.
Sie stehen mit den nur des Vlämischeu mächtigen Massen in keiner innerlichen
und tiefern geistigen Beziehung. Und doch besteht das wirklich treibende Leben
eines Volkes gerade in dieser beständigen Wechselwirkung zwischen Volk und
Gebildeten, und ohne die Füße im Volksboden wurzeln zu lassen, kaun der
Kopf der Gebildeten keine großen und dauernden, die Gcsamteutwicklung för¬
dernden Ideen und Werke erzeugen. Das niedere Volk hat somit an den Ge¬
bildeten seines Stammes weder Führer noch Förderer. Es wird dadurch zu
einer Nichtentwicklung des nationalen Bewußtseins verurteilt, zu einer geistigen
Atome und Kraftlosigkeit, in welcher, wie bei embryonischen, noch ans den
ersten Stufen sich befindenden Nationalitäten, die Religion die erste, be¬
stimmende Stelle einnimmt. (So hassen z. B. die griechisch-katholischen Serben
in Ungarn die römisch-katholischen Kroaten, trotz der gemeinsamen slawischen Ab¬
stammung, als Abtrünnige.) Dazu kommt, daß die Geistlichen die einzigen Ge¬
bildeten sind, welche zum Volke über andre als gewöhnliche Dinge in vlämischer
Zunge reden, und dadurch ihre geistigen Leiter und Vertreter in allen Verhält¬
nissen des Lebens geworden sind. Die Pflege des Vlämischeu bei Gebildeten
und Ungebildeten, die dadurch zu bewirkende Vereinigung beider zu einem neu-
gekräftigten nationalen Bewußtsein ist deshalb die erste Hauptbedingung zur
Brechung des übermäßigen und ungesunden Einflusses des Klerus. Die rege
geistige Verbindung mit Holland und Deutschland (zunächst mittels des ver¬
wandten Plattdeutschen) muß systematisch organisirt werden. Nur so kann zu¬
gleich ein Gegengewicht gegen den französischen Formalismus erwachsen, welcher
die großen Städte und die wallonischen Provinzen in einer gewissen geistigen
und seelischen Unfruchtbarkeit hält und für jenes konstitutionelle ewige Schankel-
systcm mit verantwortlich ist, das in seinen Wirkungen an die Arbeit der Pene-
lope erinnert. Die eine ans Nuder kommende Partei trennt sofort das Gewebe
auf, welches die andre, abtretende in den Jahren vorher mühsam geschaffen hat.
Frankreichs Niedergang und Englands steigende Verlegenheiten sind der welt¬
geschichtliche drohende Bankerott dieses Systems. Es fehlt in Belgien wie in
Frankreich an einer mächtigen und ununterbrochenen Vertretung der dauernden


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[0214] erweckuug dieser glänzenden Erinnerungen und mit der ernstern Pflege des vlämischeu Volks- und Sprachtums beschäftigt. Der weitere Hauptgrund für die geistige Vereinsamung des vlämischeu Volkes ist aber die Scheidewand, welche die französische Sprache und Bildung zwischen den höhern Klassen und dem eigentlichen Volke seit Menschenaltern errichtet haben. Die Gebildeten leben in einer ganz andern geistigen Atmosphäre als das Volk. Ihre ernsten Stu¬ dien sind in französischer Sprache, ihre Reden vor Gericht, in den Kammern gleichfalls. An den Universitäten in Lüttich und Gent wird fast ausschließlich in französischer Sprache vorgetragen. Das Leben der Gebildeten wird dadurch ein zwiespältiges. Sie bedienen sich der vlcimischen Sprache etwa wie wir mit unsern pommerschen oder mecklenburgischen Dienstmädchen des Plattdeutschen. Sie stehen mit den nur des Vlämischeu mächtigen Massen in keiner innerlichen und tiefern geistigen Beziehung. Und doch besteht das wirklich treibende Leben eines Volkes gerade in dieser beständigen Wechselwirkung zwischen Volk und Gebildeten, und ohne die Füße im Volksboden wurzeln zu lassen, kaun der Kopf der Gebildeten keine großen und dauernden, die Gcsamteutwicklung för¬ dernden Ideen und Werke erzeugen. Das niedere Volk hat somit an den Ge¬ bildeten seines Stammes weder Führer noch Förderer. Es wird dadurch zu einer Nichtentwicklung des nationalen Bewußtseins verurteilt, zu einer geistigen Atome und Kraftlosigkeit, in welcher, wie bei embryonischen, noch ans den ersten Stufen sich befindenden Nationalitäten, die Religion die erste, be¬ stimmende Stelle einnimmt. (So hassen z. B. die griechisch-katholischen Serben in Ungarn die römisch-katholischen Kroaten, trotz der gemeinsamen slawischen Ab¬ stammung, als Abtrünnige.) Dazu kommt, daß die Geistlichen die einzigen Ge¬ bildeten sind, welche zum Volke über andre als gewöhnliche Dinge in vlämischer Zunge reden, und dadurch ihre geistigen Leiter und Vertreter in allen Verhält¬ nissen des Lebens geworden sind. Die Pflege des Vlämischeu bei Gebildeten und Ungebildeten, die dadurch zu bewirkende Vereinigung beider zu einem neu- gekräftigten nationalen Bewußtsein ist deshalb die erste Hauptbedingung zur Brechung des übermäßigen und ungesunden Einflusses des Klerus. Die rege geistige Verbindung mit Holland und Deutschland (zunächst mittels des ver¬ wandten Plattdeutschen) muß systematisch organisirt werden. Nur so kann zu¬ gleich ein Gegengewicht gegen den französischen Formalismus erwachsen, welcher die großen Städte und die wallonischen Provinzen in einer gewissen geistigen und seelischen Unfruchtbarkeit hält und für jenes konstitutionelle ewige Schankel- systcm mit verantwortlich ist, das in seinen Wirkungen an die Arbeit der Pene- lope erinnert. Die eine ans Nuder kommende Partei trennt sofort das Gewebe auf, welches die andre, abtretende in den Jahren vorher mühsam geschaffen hat. Frankreichs Niedergang und Englands steigende Verlegenheiten sind der welt¬ geschichtliche drohende Bankerott dieses Systems. Es fehlt in Belgien wie in Frankreich an einer mächtigen und ununterbrochenen Vertretung der dauernden

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198065/214>, abgerufen am 25.07.2024.