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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal.

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das Wahlrecht. Aber eine Ausdehnung desselben, eine Annäherung an das
allgemeine Stimmrecht wiirde, so behaupten Kenner der Verhältnisse, die Macht
der Klerikalen nur vermehren. Die Ergebnisse des allgemeinen Stimmrechts
in Deutschland sind in der That den Ultramontanen nicht weniger günstig ge¬
wesen als die des preußischen Dreiklassenwahlsystems, Karl Hillebrand giebt in
einem 1880 geschriebenen Aufsätze die Möglichkeit bereits zu, daß ein zweites
Paraguay aus Belgien werden könne. Daß er eine solche Befürchtung trotz
des eben erst erfochtenen Schnlgesrtzsiegcs der Liberalen von 1879 äußerte, be¬
weist, daß die Ursachen der Macht der Geistlichkeit tiefer liegen müssen und
daß sie durch keine bloße Gesetzgebung für oder Wider dauernd zu erschüttern sind.

Die Hauptstärke der katholischen Partei liegt in den alten flandrischen Pro¬
vinzen, denselben Provinzen, welche zur Zeit der Renaissance päpstliche Bullen
verbrannten, päpstliche Interdikte benutzten, um ihre Zehntabgaben an die Geist¬
lichkeit einzustellen, und für die Reformation Gut lind Leben einsetzten. Nachdem
die Führer unter Aldas Blutherrschaft entweder hingerichtet oder zur Flucht
und Auswanderung gezwungen waren, kam die Ruhe des Kirchhofs über Flan¬
dern. Und was noch schlimmer war, die ihrer besten Männer und kühnsten
Köpfe beraubte Bevölkerung konnte aus sich heraus keinen ihrer würdigen Nach¬
wuchs erzeuge". Unter der fortdauernden spanischen Herrschaft verkümmerte
alles. Die geistige Verbindung mit dem stanuuverwandten und Protestantischen
Holland war und blieb unterbrochen. Die Nachkommen der Helden des nieder¬
ländischen und protestantischen Befreiungskrieges wurden im Laufe des siebzehnten
und achtzehnten Jahrhunderts in dumpfe Pfaffenknechte verwandelt, und die am
Ende des letzten gemachten Versuche Josephs des Zweiten, das damals unter
österreichische Herrschaft geratene Land der Aufklärung zu öffnen, beantworteten
die Flamänder mit dem Brabanter Aufstände. Die Einverleibung in die fran¬
zösische Republik stieß sie mir noch tiefer in den Katholizismus zurück. Als
man unter dem Direktorium die belgischen Priester zur Deportation, der soge¬
nannten trocknen Guillotine, abführte, die Kirchen, Klöster und Sakristeien ausplün¬
derte, erstand auch in Belgien jene Erneuerung des katholischen Glaubens, welche
durch ihre bis auf den heutigen Tag dauernden Nachwirkungen die Klugen und die
Freidenker in immer neues Erstaunen versetzt über die Auferstehung einer be¬
reits totgeglaubteu Macht. Seit jener Zeit sind die katholischen Volksmassen,
welche bis dahin nur als Staffage den Hintergrund gefüllt hatten, als Mit¬
redende und Mithaudelude auf die Weltbühne getreten und haben dadurch kirch¬
lich wie politisch die ganze Lage und die Zukunft der Dinge verändert. Nur
das nationale Moment Hütte dagegen ein wirksames Gegengewicht abgeben
können., Aber das Nationalgefühl war in Flandern seit Jahrhunderten ver¬
kümmert und eingeschlafen. Die große Vergangenheit ihres Stammes zur Zeit
der Renaissance war aus dem Volksbewußtsein entschwunden. Erst seit fünf-
unddreißig Jahre" siud Gesellschaften für vlämische Literatur mit der Wieder-


das Wahlrecht. Aber eine Ausdehnung desselben, eine Annäherung an das
allgemeine Stimmrecht wiirde, so behaupten Kenner der Verhältnisse, die Macht
der Klerikalen nur vermehren. Die Ergebnisse des allgemeinen Stimmrechts
in Deutschland sind in der That den Ultramontanen nicht weniger günstig ge¬
wesen als die des preußischen Dreiklassenwahlsystems, Karl Hillebrand giebt in
einem 1880 geschriebenen Aufsätze die Möglichkeit bereits zu, daß ein zweites
Paraguay aus Belgien werden könne. Daß er eine solche Befürchtung trotz
des eben erst erfochtenen Schnlgesrtzsiegcs der Liberalen von 1879 äußerte, be¬
weist, daß die Ursachen der Macht der Geistlichkeit tiefer liegen müssen und
daß sie durch keine bloße Gesetzgebung für oder Wider dauernd zu erschüttern sind.

Die Hauptstärke der katholischen Partei liegt in den alten flandrischen Pro¬
vinzen, denselben Provinzen, welche zur Zeit der Renaissance päpstliche Bullen
verbrannten, päpstliche Interdikte benutzten, um ihre Zehntabgaben an die Geist¬
lichkeit einzustellen, und für die Reformation Gut lind Leben einsetzten. Nachdem
die Führer unter Aldas Blutherrschaft entweder hingerichtet oder zur Flucht
und Auswanderung gezwungen waren, kam die Ruhe des Kirchhofs über Flan¬
dern. Und was noch schlimmer war, die ihrer besten Männer und kühnsten
Köpfe beraubte Bevölkerung konnte aus sich heraus keinen ihrer würdigen Nach¬
wuchs erzeuge». Unter der fortdauernden spanischen Herrschaft verkümmerte
alles. Die geistige Verbindung mit dem stanuuverwandten und Protestantischen
Holland war und blieb unterbrochen. Die Nachkommen der Helden des nieder¬
ländischen und protestantischen Befreiungskrieges wurden im Laufe des siebzehnten
und achtzehnten Jahrhunderts in dumpfe Pfaffenknechte verwandelt, und die am
Ende des letzten gemachten Versuche Josephs des Zweiten, das damals unter
österreichische Herrschaft geratene Land der Aufklärung zu öffnen, beantworteten
die Flamänder mit dem Brabanter Aufstände. Die Einverleibung in die fran¬
zösische Republik stieß sie mir noch tiefer in den Katholizismus zurück. Als
man unter dem Direktorium die belgischen Priester zur Deportation, der soge¬
nannten trocknen Guillotine, abführte, die Kirchen, Klöster und Sakristeien ausplün¬
derte, erstand auch in Belgien jene Erneuerung des katholischen Glaubens, welche
durch ihre bis auf den heutigen Tag dauernden Nachwirkungen die Klugen und die
Freidenker in immer neues Erstaunen versetzt über die Auferstehung einer be¬
reits totgeglaubteu Macht. Seit jener Zeit sind die katholischen Volksmassen,
welche bis dahin nur als Staffage den Hintergrund gefüllt hatten, als Mit¬
redende und Mithaudelude auf die Weltbühne getreten und haben dadurch kirch¬
lich wie politisch die ganze Lage und die Zukunft der Dinge verändert. Nur
das nationale Moment Hütte dagegen ein wirksames Gegengewicht abgeben
können., Aber das Nationalgefühl war in Flandern seit Jahrhunderten ver¬
kümmert und eingeschlafen. Die große Vergangenheit ihres Stammes zur Zeit
der Renaissance war aus dem Volksbewußtsein entschwunden. Erst seit fünf-
unddreißig Jahre» siud Gesellschaften für vlämische Literatur mit der Wieder-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198065/213>, abgerufen am 25.07.2024.