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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal.

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Der Kampf um die Schule in Belgien.

zuvor einer Partei zugefallen war. An die Stelle Frere-Ordens trat Malon
und später Bernaert. Sofort wurde die Aufhebung des Schulgesetzes von 1879
in Angriff genommen, und schon am 20. September 1884 war die Kon-
fessionalisirnng der Volksschule, der Seminare u. s. w. durch ein neues Schulgesetz
vollzogen. Dem Kampfrufe der Liberalen: "Hinaus mit den Priestern aus der
Schule!" wurde der diesmal wirksamere entgegengesetzt: "Hinaus mit dem Staate
aus der Schule!" Die Volksschule wurde thatsächlich der Geistlichkeit in die
Hände geliefert. Nicht nur wurde die Religion wieder an die Spitze des
Lehrplans gestellt, sondern auch den Gemeinderäten die Berufung der Lehrer,
die Auswahl der Lehr- und Lesebücher anheimgegeben. Hinter den Gemeinde-
rciten steht aber in den meisten Fällen der bestimmende und bei ihrer Erwählung
allmächtige Einfluß der Geistlichkeit. Selbst die scheinbar im Interesse der
Gewissensfreiheit in das neue Gesetz eingefügten Bestimmungen schlagen in der
Praxis zum Nachteil derselben aus. So sollen z. B. zwanzig Familienväter
allerdings das Recht haben, den Fortbestand der bisherigen Gemeindeschulen
zu verlangen, wenn der Gemeinderat an ihre Stelle -- um die "gottlosen"
Lehrer los zu werden -- eine freie Schule, d. h. eine Klosterschule adoptirt,
d, h. zur Gemeindeschule erhoben hat. Aber wo werden sich in den Land¬
gemeinden zwanzig Männer finden, die den Mut haben, sich die Feindschaft der
Geistlichkeit und ihrer Anhänger zuzuziehen, und damit nicht selten ernste ge¬
schäftliche Nachteile, ja Brotlosigkeit? Eine andre Bestimmung, nach welcher
gleichfalls zwanzig Familienväter (d. h. diesmal streng katholische), welche aus
Angst für das Seelenheil ihrer Kinder nicht die Gemeindeschulen beschicken
wollen, das Recht haben, eine eigne Schule, d. h, eine der Klosterschulen auf
Stadt- oder Staatskosten angewiesen zu erhalten, ist geradezu darauf berechnet,
zur Erschütterung der noch in den Großstädten vorhandenen, in Bezug auf
Religion neutralen Gemeindeschulen zu dienen und den Religionsstreit in die
Gemeinderäte derselben zu werfen. So hat sich unter andern der Gemeinderat
von Antwerpen geweigert, "den Priester in die Schule zuzulassen," d. h. der
Forderung von zwanzig Familienvätern sich zu beugen. Dieselben wenden sich
nun an den König, um zu ihrem "Rechte" zu gelangen. Der König wird nun
auf Staatskosten den Kindern jener Zwanzig eine eigne, d. h. thatsächlich kon¬
fessionelle Schule zur Verfügung stellen müssen. Ähnliche Reibungen stehen in
Brüssel, in Gent, in Lttttich bevor. Schon jetzt beginnt die Vorarbeit für die
Juniwahlen dieses Jahres. Die Durchführung des neuen Schulgesetzes hat das
Material dazu geliefert. Einer der Hauptzwecke desselben, die Verdrängung
der bisherigen Stantsschullchrer und ihre Ersetzung durch Werkzeuge der Geist¬
lichkeit, ist im großen Maße erreicht.

Schon im Oktober v. I. hatte die Zahl der ihrer Stellen verlustig ge-
wordnen und auf Wartegeld gesetzten Lehrer die Ziffer 1200 überschritten. Der
König wurde durch Abordnungen der großen Städte dringend ersucht, dem


Der Kampf um die Schule in Belgien.

zuvor einer Partei zugefallen war. An die Stelle Frere-Ordens trat Malon
und später Bernaert. Sofort wurde die Aufhebung des Schulgesetzes von 1879
in Angriff genommen, und schon am 20. September 1884 war die Kon-
fessionalisirnng der Volksschule, der Seminare u. s. w. durch ein neues Schulgesetz
vollzogen. Dem Kampfrufe der Liberalen: „Hinaus mit den Priestern aus der
Schule!" wurde der diesmal wirksamere entgegengesetzt: „Hinaus mit dem Staate
aus der Schule!" Die Volksschule wurde thatsächlich der Geistlichkeit in die
Hände geliefert. Nicht nur wurde die Religion wieder an die Spitze des
Lehrplans gestellt, sondern auch den Gemeinderäten die Berufung der Lehrer,
die Auswahl der Lehr- und Lesebücher anheimgegeben. Hinter den Gemeinde-
rciten steht aber in den meisten Fällen der bestimmende und bei ihrer Erwählung
allmächtige Einfluß der Geistlichkeit. Selbst die scheinbar im Interesse der
Gewissensfreiheit in das neue Gesetz eingefügten Bestimmungen schlagen in der
Praxis zum Nachteil derselben aus. So sollen z. B. zwanzig Familienväter
allerdings das Recht haben, den Fortbestand der bisherigen Gemeindeschulen
zu verlangen, wenn der Gemeinderat an ihre Stelle — um die „gottlosen"
Lehrer los zu werden — eine freie Schule, d. h. eine Klosterschule adoptirt,
d, h. zur Gemeindeschule erhoben hat. Aber wo werden sich in den Land¬
gemeinden zwanzig Männer finden, die den Mut haben, sich die Feindschaft der
Geistlichkeit und ihrer Anhänger zuzuziehen, und damit nicht selten ernste ge¬
schäftliche Nachteile, ja Brotlosigkeit? Eine andre Bestimmung, nach welcher
gleichfalls zwanzig Familienväter (d. h. diesmal streng katholische), welche aus
Angst für das Seelenheil ihrer Kinder nicht die Gemeindeschulen beschicken
wollen, das Recht haben, eine eigne Schule, d. h, eine der Klosterschulen auf
Stadt- oder Staatskosten angewiesen zu erhalten, ist geradezu darauf berechnet,
zur Erschütterung der noch in den Großstädten vorhandenen, in Bezug auf
Religion neutralen Gemeindeschulen zu dienen und den Religionsstreit in die
Gemeinderäte derselben zu werfen. So hat sich unter andern der Gemeinderat
von Antwerpen geweigert, „den Priester in die Schule zuzulassen," d. h. der
Forderung von zwanzig Familienvätern sich zu beugen. Dieselben wenden sich
nun an den König, um zu ihrem „Rechte" zu gelangen. Der König wird nun
auf Staatskosten den Kindern jener Zwanzig eine eigne, d. h. thatsächlich kon¬
fessionelle Schule zur Verfügung stellen müssen. Ähnliche Reibungen stehen in
Brüssel, in Gent, in Lttttich bevor. Schon jetzt beginnt die Vorarbeit für die
Juniwahlen dieses Jahres. Die Durchführung des neuen Schulgesetzes hat das
Material dazu geliefert. Einer der Hauptzwecke desselben, die Verdrängung
der bisherigen Stantsschullchrer und ihre Ersetzung durch Werkzeuge der Geist¬
lichkeit, ist im großen Maße erreicht.

Schon im Oktober v. I. hatte die Zahl der ihrer Stellen verlustig ge-
wordnen und auf Wartegeld gesetzten Lehrer die Ziffer 1200 überschritten. Der
König wurde durch Abordnungen der großen Städte dringend ersucht, dem


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[0211] Der Kampf um die Schule in Belgien. zuvor einer Partei zugefallen war. An die Stelle Frere-Ordens trat Malon und später Bernaert. Sofort wurde die Aufhebung des Schulgesetzes von 1879 in Angriff genommen, und schon am 20. September 1884 war die Kon- fessionalisirnng der Volksschule, der Seminare u. s. w. durch ein neues Schulgesetz vollzogen. Dem Kampfrufe der Liberalen: „Hinaus mit den Priestern aus der Schule!" wurde der diesmal wirksamere entgegengesetzt: „Hinaus mit dem Staate aus der Schule!" Die Volksschule wurde thatsächlich der Geistlichkeit in die Hände geliefert. Nicht nur wurde die Religion wieder an die Spitze des Lehrplans gestellt, sondern auch den Gemeinderäten die Berufung der Lehrer, die Auswahl der Lehr- und Lesebücher anheimgegeben. Hinter den Gemeinde- rciten steht aber in den meisten Fällen der bestimmende und bei ihrer Erwählung allmächtige Einfluß der Geistlichkeit. Selbst die scheinbar im Interesse der Gewissensfreiheit in das neue Gesetz eingefügten Bestimmungen schlagen in der Praxis zum Nachteil derselben aus. So sollen z. B. zwanzig Familienväter allerdings das Recht haben, den Fortbestand der bisherigen Gemeindeschulen zu verlangen, wenn der Gemeinderat an ihre Stelle — um die „gottlosen" Lehrer los zu werden — eine freie Schule, d. h. eine Klosterschule adoptirt, d, h. zur Gemeindeschule erhoben hat. Aber wo werden sich in den Land¬ gemeinden zwanzig Männer finden, die den Mut haben, sich die Feindschaft der Geistlichkeit und ihrer Anhänger zuzuziehen, und damit nicht selten ernste ge¬ schäftliche Nachteile, ja Brotlosigkeit? Eine andre Bestimmung, nach welcher gleichfalls zwanzig Familienväter (d. h. diesmal streng katholische), welche aus Angst für das Seelenheil ihrer Kinder nicht die Gemeindeschulen beschicken wollen, das Recht haben, eine eigne Schule, d. h, eine der Klosterschulen auf Stadt- oder Staatskosten angewiesen zu erhalten, ist geradezu darauf berechnet, zur Erschütterung der noch in den Großstädten vorhandenen, in Bezug auf Religion neutralen Gemeindeschulen zu dienen und den Religionsstreit in die Gemeinderäte derselben zu werfen. So hat sich unter andern der Gemeinderat von Antwerpen geweigert, „den Priester in die Schule zuzulassen," d. h. der Forderung von zwanzig Familienvätern sich zu beugen. Dieselben wenden sich nun an den König, um zu ihrem „Rechte" zu gelangen. Der König wird nun auf Staatskosten den Kindern jener Zwanzig eine eigne, d. h. thatsächlich kon¬ fessionelle Schule zur Verfügung stellen müssen. Ähnliche Reibungen stehen in Brüssel, in Gent, in Lttttich bevor. Schon jetzt beginnt die Vorarbeit für die Juniwahlen dieses Jahres. Die Durchführung des neuen Schulgesetzes hat das Material dazu geliefert. Einer der Hauptzwecke desselben, die Verdrängung der bisherigen Stantsschullchrer und ihre Ersetzung durch Werkzeuge der Geist¬ lichkeit, ist im großen Maße erreicht. Schon im Oktober v. I. hatte die Zahl der ihrer Stellen verlustig ge- wordnen und auf Wartegeld gesetzten Lehrer die Ziffer 1200 überschritten. Der König wurde durch Abordnungen der großen Städte dringend ersucht, dem

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198065/211>, abgerufen am 25.07.2024.