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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal.

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Der Kampf um die schule in Belgien.

l
e abstrakten Lösungen der großen Streitfragen kommen auf allen
Gebieten immer mehr in Mißkredit, Der liberale Doktrinarismus,
welcher mit Verfassungsbestimmungen, mit genauer Abgrenzung
der Machtkreise der verschiednen konstitutionellen Gewalten den
Frieden zwischen denselben für immer gesichert zu haben
Mabille, erscheint jetzt als ein Versuch, das Lebendige, Werdende und Ver¬
änderliche in das Bett des Proknstes zu zwängen und dadurch in seinem Dasein
selbst zu gefährden. Welche Hoffnungen hat nicht der alte Liberalismus auf
die Wirkung der Zauberformel gesetzt: Trennung von Staat und Kirche! Und
wie wenig haben sie sich in der Praxis bewährt! Italien, welches bereits vor
Jahren jene Trennung durchführte, kommt dennoch dabei so wenig zur Ruhe,
daß die Anrede "Sire" in dem Briefe des Reichskanzlers an den Papst zu einer
Ministerintcrpellation im italienischen Parlament Anlaß zu gebe" droht. In
Frankreich billigt das Ministerium Freycinet das große Heilmittel zwar im
Prinzip, hütet sich aber, es anzuwenden. In Belgien sind Staat und Kirche
seit sechsundfünfzig Jahre" gründlicher getrennt als irgendwo anders. Aber
der Kampf zwischen beiden ist dadurch keineswegs beseitigt oder auch nur gemildert,
sondern zuletzt in einer so heftigen Weise gesteigert worden, daß die liberalen
Staatsmänner der alten Schule, die Frere-Orban, Laveleye, Aviella u. s. w.,
demselben nahezu ratlos und verzweifelt gegenüberstehen. Das " Nmbos oder
.Hammer sein" gilt auch von dein Verhältnisse zwischen Staat und Kirche,
welche übrigens auch nur zwei abstrakte Formeln sind, deren Jnhaltsfülluug
entscheidet. I" Belgien sind mit Ausnahme weniger Protestanten und Juden
dieselben Personen zugleich der Inhalt und Körper des Staates wie der katho¬
lischen Kirche. Je nachdem in der Mehrheit der Belgier das nationale Gefühl
das religiöse an Lebhaftigkeit übertrifft oder das letztere stärker ist als das
erstere, wird der Staat über die Kirche oder die Kirche über den Staat herrschen,
ungeachtet aller die eine von dem andern abzäunenden und abgrenzenden Ver-
fassnngsparagraphen.

Thatsächlich habe" seit dem Sommer des Jahres 1884 die katholischen
Bischöfe Belgiens sich den Staat unterthänig gemacht. Der Staat ist in
Gefahr, noch weiter erobert zu werden und sich jenem Ideale der Gläubigen
anzunähern, der Theokmtie. Was im Mittelalter der Kirchenbann und das
Interdikt bewirkte, die Unterjochung der widerspenstigen weltlichen Macht, das
bringt jetzt das moderne Mittel des Stimmrechts zuwege. Die katholischen Ab-


Der Kampf um die schule in Belgien.

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e abstrakten Lösungen der großen Streitfragen kommen auf allen
Gebieten immer mehr in Mißkredit, Der liberale Doktrinarismus,
welcher mit Verfassungsbestimmungen, mit genauer Abgrenzung
der Machtkreise der verschiednen konstitutionellen Gewalten den
Frieden zwischen denselben für immer gesichert zu haben
Mabille, erscheint jetzt als ein Versuch, das Lebendige, Werdende und Ver¬
änderliche in das Bett des Proknstes zu zwängen und dadurch in seinem Dasein
selbst zu gefährden. Welche Hoffnungen hat nicht der alte Liberalismus auf
die Wirkung der Zauberformel gesetzt: Trennung von Staat und Kirche! Und
wie wenig haben sie sich in der Praxis bewährt! Italien, welches bereits vor
Jahren jene Trennung durchführte, kommt dennoch dabei so wenig zur Ruhe,
daß die Anrede „Sire" in dem Briefe des Reichskanzlers an den Papst zu einer
Ministerintcrpellation im italienischen Parlament Anlaß zu gebe» droht. In
Frankreich billigt das Ministerium Freycinet das große Heilmittel zwar im
Prinzip, hütet sich aber, es anzuwenden. In Belgien sind Staat und Kirche
seit sechsundfünfzig Jahre» gründlicher getrennt als irgendwo anders. Aber
der Kampf zwischen beiden ist dadurch keineswegs beseitigt oder auch nur gemildert,
sondern zuletzt in einer so heftigen Weise gesteigert worden, daß die liberalen
Staatsmänner der alten Schule, die Frere-Orban, Laveleye, Aviella u. s. w.,
demselben nahezu ratlos und verzweifelt gegenüberstehen. Das „ Nmbos oder
.Hammer sein" gilt auch von dein Verhältnisse zwischen Staat und Kirche,
welche übrigens auch nur zwei abstrakte Formeln sind, deren Jnhaltsfülluug
entscheidet. I» Belgien sind mit Ausnahme weniger Protestanten und Juden
dieselben Personen zugleich der Inhalt und Körper des Staates wie der katho¬
lischen Kirche. Je nachdem in der Mehrheit der Belgier das nationale Gefühl
das religiöse an Lebhaftigkeit übertrifft oder das letztere stärker ist als das
erstere, wird der Staat über die Kirche oder die Kirche über den Staat herrschen,
ungeachtet aller die eine von dem andern abzäunenden und abgrenzenden Ver-
fassnngsparagraphen.

Thatsächlich habe» seit dem Sommer des Jahres 1884 die katholischen
Bischöfe Belgiens sich den Staat unterthänig gemacht. Der Staat ist in
Gefahr, noch weiter erobert zu werden und sich jenem Ideale der Gläubigen
anzunähern, der Theokmtie. Was im Mittelalter der Kirchenbann und das
Interdikt bewirkte, die Unterjochung der widerspenstigen weltlichen Macht, das
bringt jetzt das moderne Mittel des Stimmrechts zuwege. Die katholischen Ab-


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[0207] Der Kampf um die schule in Belgien. l e abstrakten Lösungen der großen Streitfragen kommen auf allen Gebieten immer mehr in Mißkredit, Der liberale Doktrinarismus, welcher mit Verfassungsbestimmungen, mit genauer Abgrenzung der Machtkreise der verschiednen konstitutionellen Gewalten den Frieden zwischen denselben für immer gesichert zu haben Mabille, erscheint jetzt als ein Versuch, das Lebendige, Werdende und Ver¬ änderliche in das Bett des Proknstes zu zwängen und dadurch in seinem Dasein selbst zu gefährden. Welche Hoffnungen hat nicht der alte Liberalismus auf die Wirkung der Zauberformel gesetzt: Trennung von Staat und Kirche! Und wie wenig haben sie sich in der Praxis bewährt! Italien, welches bereits vor Jahren jene Trennung durchführte, kommt dennoch dabei so wenig zur Ruhe, daß die Anrede „Sire" in dem Briefe des Reichskanzlers an den Papst zu einer Ministerintcrpellation im italienischen Parlament Anlaß zu gebe» droht. In Frankreich billigt das Ministerium Freycinet das große Heilmittel zwar im Prinzip, hütet sich aber, es anzuwenden. In Belgien sind Staat und Kirche seit sechsundfünfzig Jahre» gründlicher getrennt als irgendwo anders. Aber der Kampf zwischen beiden ist dadurch keineswegs beseitigt oder auch nur gemildert, sondern zuletzt in einer so heftigen Weise gesteigert worden, daß die liberalen Staatsmänner der alten Schule, die Frere-Orban, Laveleye, Aviella u. s. w., demselben nahezu ratlos und verzweifelt gegenüberstehen. Das „ Nmbos oder .Hammer sein" gilt auch von dein Verhältnisse zwischen Staat und Kirche, welche übrigens auch nur zwei abstrakte Formeln sind, deren Jnhaltsfülluug entscheidet. I» Belgien sind mit Ausnahme weniger Protestanten und Juden dieselben Personen zugleich der Inhalt und Körper des Staates wie der katho¬ lischen Kirche. Je nachdem in der Mehrheit der Belgier das nationale Gefühl das religiöse an Lebhaftigkeit übertrifft oder das letztere stärker ist als das erstere, wird der Staat über die Kirche oder die Kirche über den Staat herrschen, ungeachtet aller die eine von dem andern abzäunenden und abgrenzenden Ver- fassnngsparagraphen. Thatsächlich habe» seit dem Sommer des Jahres 1884 die katholischen Bischöfe Belgiens sich den Staat unterthänig gemacht. Der Staat ist in Gefahr, noch weiter erobert zu werden und sich jenem Ideale der Gläubigen anzunähern, der Theokmtie. Was im Mittelalter der Kirchenbann und das Interdikt bewirkte, die Unterjochung der widerspenstigen weltlichen Macht, das bringt jetzt das moderne Mittel des Stimmrechts zuwege. Die katholischen Ab-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198065/207>, abgerufen am 24.07.2024.