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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal.

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Kritische Beiträge zur sozialen Frage.

der nebenbei gesagt noch stärker werden dürfte, als heute die Mehrzahl der Ka¬
pitalisten glaubt, den Rückgang der Bodenrenke, der Arbeitslöhne, die mannich-
fachen Streikbewegungen und alle jene andern Dinge offenbart, nicht um vor¬
übergehende, mehr oder minder harmlose Erscheinungen handelt, sondern daß
diese Dinge den Anfang eines gewaltigen Wirtschaftspolitischeu Kampfes be¬
deuten, der zwischen Arbeitskraft- und Arbeitsstoffbesitzern, zwischen Arbeitern
im weitesten Sinne und Kapitalisten ausgekämpft werden und umso größere
Ausdehnung annehmen wird, je weniger und je später dem Ausbruch des¬
selben durch vorbeugende Maßregeln entgegengetreten worden ist. Das Ende
dieses Kampfes aber kann nur eines sein, eine Beschränkung des heutigen indi¬
vidualistischen Kapitalismus durch eine gesunde soziale Reform des gesamten
Wirtschaftslebens.

Weil aber nach einem Naturgesetz ein Extrem zunächst immer ein andres
erzeugt, so liegt die Gefahr nur zu nahe, daß nach Beendigung dieses kritischen
Kampfes, der mehr oder weniger die ganze heutige Kulturwelt ergreifen muß, in
denjenigen Staaten, in welchen dem manchesterlich-individualistischen System und
seinen für die Güterverteilung so verderblichen Folgen nicht bei Zeiten ein Damm
durch soziale Maßregeln entgegengesetzt wurde, der Zeit der schrankenlosen Privat-
eigentumsherrschaft eine Zeit ebenso schrankenloser Reaktion in Bezug auf die
persönliche Gebundenheit folgen wird, d. h. mit dürren Worten, daß dereinst die
sogenannte politische Reaktion in denjenigen Staaten am größten sein wird, in
denen der Kapitalismus vorher seine stärksten Orgien gefeiert hat.

Mögen es sich darum alle die, welche sich seither aus bequemem Opti¬
mismus, aus eigensinniger Prinzipienreiterei oder aus welchen Gründen immer
nicht entschließen konnten, den wirklichen Verhältnissen gegenüber vor den
drohenden Gefahren die Augen zu öffnen, mögen es sich alle die wohl über¬
legen, ob es nicht im eignen Interesse besser wäre, den Standpunkt veralteter
individualistischer Denkungsart aufzugeben und statt dessen sich etwas mehr mit
dem Gedanken der sozialen Reform zu befreunden. Wenn erst die Arbeiter¬
bataillone zu marschiren beginnen, wie in der letzten Zeit in England, in Frank¬
reich und Belgien, dann ist es für Reformen zu spät geworden. Die Erfin¬
dungen der Neuzeit sind nicht bloß für die Arbeitsstvffbesitzer gemacht worden,
sie sollten und könnten auch ein Segen für die ganze Menschheit sein. Sie
haben zwar zunächst den Arbeitsstvffbesitzeru den Vorteil gebracht, die mensch¬
liche Arbeitskraft durch mechanische Kräfte zu ersetzen, und haben dadurch dem
Arbeitsstoff den Löwenanteil am Produkt verschafft, aber sie haben auch bereits
angefangen, durch die großartige Entwicklung der gesamten Produktiv" dafür zu
sorgen, daß die Bäume des Kapitalismus nicht in den Himmel wachsen, sie
haben durch die ungeheure Ausbildung des Verkehrswesens die gegebene Boden-
fläche, diesen wichtigsten Arbeitsstoff, mittels Erschließung fremder Weltteile in
nie geahnter Weise vermehrt und damit einen Druck auf die Grundrente aus-


Kritische Beiträge zur sozialen Frage.

der nebenbei gesagt noch stärker werden dürfte, als heute die Mehrzahl der Ka¬
pitalisten glaubt, den Rückgang der Bodenrenke, der Arbeitslöhne, die mannich-
fachen Streikbewegungen und alle jene andern Dinge offenbart, nicht um vor¬
übergehende, mehr oder minder harmlose Erscheinungen handelt, sondern daß
diese Dinge den Anfang eines gewaltigen Wirtschaftspolitischeu Kampfes be¬
deuten, der zwischen Arbeitskraft- und Arbeitsstoffbesitzern, zwischen Arbeitern
im weitesten Sinne und Kapitalisten ausgekämpft werden und umso größere
Ausdehnung annehmen wird, je weniger und je später dem Ausbruch des¬
selben durch vorbeugende Maßregeln entgegengetreten worden ist. Das Ende
dieses Kampfes aber kann nur eines sein, eine Beschränkung des heutigen indi¬
vidualistischen Kapitalismus durch eine gesunde soziale Reform des gesamten
Wirtschaftslebens.

Weil aber nach einem Naturgesetz ein Extrem zunächst immer ein andres
erzeugt, so liegt die Gefahr nur zu nahe, daß nach Beendigung dieses kritischen
Kampfes, der mehr oder weniger die ganze heutige Kulturwelt ergreifen muß, in
denjenigen Staaten, in welchen dem manchesterlich-individualistischen System und
seinen für die Güterverteilung so verderblichen Folgen nicht bei Zeiten ein Damm
durch soziale Maßregeln entgegengesetzt wurde, der Zeit der schrankenlosen Privat-
eigentumsherrschaft eine Zeit ebenso schrankenloser Reaktion in Bezug auf die
persönliche Gebundenheit folgen wird, d. h. mit dürren Worten, daß dereinst die
sogenannte politische Reaktion in denjenigen Staaten am größten sein wird, in
denen der Kapitalismus vorher seine stärksten Orgien gefeiert hat.

Mögen es sich darum alle die, welche sich seither aus bequemem Opti¬
mismus, aus eigensinniger Prinzipienreiterei oder aus welchen Gründen immer
nicht entschließen konnten, den wirklichen Verhältnissen gegenüber vor den
drohenden Gefahren die Augen zu öffnen, mögen es sich alle die wohl über¬
legen, ob es nicht im eignen Interesse besser wäre, den Standpunkt veralteter
individualistischer Denkungsart aufzugeben und statt dessen sich etwas mehr mit
dem Gedanken der sozialen Reform zu befreunden. Wenn erst die Arbeiter¬
bataillone zu marschiren beginnen, wie in der letzten Zeit in England, in Frank¬
reich und Belgien, dann ist es für Reformen zu spät geworden. Die Erfin¬
dungen der Neuzeit sind nicht bloß für die Arbeitsstvffbesitzer gemacht worden,
sie sollten und könnten auch ein Segen für die ganze Menschheit sein. Sie
haben zwar zunächst den Arbeitsstvffbesitzeru den Vorteil gebracht, die mensch¬
liche Arbeitskraft durch mechanische Kräfte zu ersetzen, und haben dadurch dem
Arbeitsstoff den Löwenanteil am Produkt verschafft, aber sie haben auch bereits
angefangen, durch die großartige Entwicklung der gesamten Produktiv» dafür zu
sorgen, daß die Bäume des Kapitalismus nicht in den Himmel wachsen, sie
haben durch die ungeheure Ausbildung des Verkehrswesens die gegebene Boden-
fläche, diesen wichtigsten Arbeitsstoff, mittels Erschließung fremder Weltteile in
nie geahnter Weise vermehrt und damit einen Druck auf die Grundrente aus-


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[0170] Kritische Beiträge zur sozialen Frage. der nebenbei gesagt noch stärker werden dürfte, als heute die Mehrzahl der Ka¬ pitalisten glaubt, den Rückgang der Bodenrenke, der Arbeitslöhne, die mannich- fachen Streikbewegungen und alle jene andern Dinge offenbart, nicht um vor¬ übergehende, mehr oder minder harmlose Erscheinungen handelt, sondern daß diese Dinge den Anfang eines gewaltigen Wirtschaftspolitischeu Kampfes be¬ deuten, der zwischen Arbeitskraft- und Arbeitsstoffbesitzern, zwischen Arbeitern im weitesten Sinne und Kapitalisten ausgekämpft werden und umso größere Ausdehnung annehmen wird, je weniger und je später dem Ausbruch des¬ selben durch vorbeugende Maßregeln entgegengetreten worden ist. Das Ende dieses Kampfes aber kann nur eines sein, eine Beschränkung des heutigen indi¬ vidualistischen Kapitalismus durch eine gesunde soziale Reform des gesamten Wirtschaftslebens. Weil aber nach einem Naturgesetz ein Extrem zunächst immer ein andres erzeugt, so liegt die Gefahr nur zu nahe, daß nach Beendigung dieses kritischen Kampfes, der mehr oder weniger die ganze heutige Kulturwelt ergreifen muß, in denjenigen Staaten, in welchen dem manchesterlich-individualistischen System und seinen für die Güterverteilung so verderblichen Folgen nicht bei Zeiten ein Damm durch soziale Maßregeln entgegengesetzt wurde, der Zeit der schrankenlosen Privat- eigentumsherrschaft eine Zeit ebenso schrankenloser Reaktion in Bezug auf die persönliche Gebundenheit folgen wird, d. h. mit dürren Worten, daß dereinst die sogenannte politische Reaktion in denjenigen Staaten am größten sein wird, in denen der Kapitalismus vorher seine stärksten Orgien gefeiert hat. Mögen es sich darum alle die, welche sich seither aus bequemem Opti¬ mismus, aus eigensinniger Prinzipienreiterei oder aus welchen Gründen immer nicht entschließen konnten, den wirklichen Verhältnissen gegenüber vor den drohenden Gefahren die Augen zu öffnen, mögen es sich alle die wohl über¬ legen, ob es nicht im eignen Interesse besser wäre, den Standpunkt veralteter individualistischer Denkungsart aufzugeben und statt dessen sich etwas mehr mit dem Gedanken der sozialen Reform zu befreunden. Wenn erst die Arbeiter¬ bataillone zu marschiren beginnen, wie in der letzten Zeit in England, in Frank¬ reich und Belgien, dann ist es für Reformen zu spät geworden. Die Erfin¬ dungen der Neuzeit sind nicht bloß für die Arbeitsstvffbesitzer gemacht worden, sie sollten und könnten auch ein Segen für die ganze Menschheit sein. Sie haben zwar zunächst den Arbeitsstvffbesitzeru den Vorteil gebracht, die mensch¬ liche Arbeitskraft durch mechanische Kräfte zu ersetzen, und haben dadurch dem Arbeitsstoff den Löwenanteil am Produkt verschafft, aber sie haben auch bereits angefangen, durch die großartige Entwicklung der gesamten Produktiv» dafür zu sorgen, daß die Bäume des Kapitalismus nicht in den Himmel wachsen, sie haben durch die ungeheure Ausbildung des Verkehrswesens die gegebene Boden- fläche, diesen wichtigsten Arbeitsstoff, mittels Erschließung fremder Weltteile in nie geahnter Weise vermehrt und damit einen Druck auf die Grundrente aus-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198065/170>, abgerufen am 23.07.2024.