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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal.

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lauten Verkündigung eines neuen Zeitalters, der falschen Zuversicht, daß jede
treue und packende Auffassung des wahren Lebens modern und nur modern
sei, der pessimistischen Grundstimmung, welche im Verein mit seinem künstlerischen
Verlangen das Auge des Naturalisten vorzugsweise auf häßliche und widrige
Wirklichkeiten hinlenkt, wir begegnen der Lust an Zwei- oder vielmehr Ein¬
deutigem, die Gewohnheit, die Neigung der Geschlechter mit einer gewissen Ver¬
achtung herabzuziehen, sie jedes Glanzes zu berauben und sich doch fast aus¬
schließlich mit ihr zu beschäftigen, der Virtuosität in der Darstellung der
weiblichen und noch mehr in der der männlichen Halbwelt auch bei Conrad.
Aber es lebt und wirkt ein geistiges Etwas in seinen Versuchen, was über die
ganz Äußerlichen Nachbeter des neuesten Pariser Messias hinauswächst und
hinauswill, ein Hauch eiguen Empfindens, selbst ein gelegentliches trotziges
Aufbäumen gegen die Schlagbäume, die der französische Naturalismus der Be¬
obachtung und dem Verständnis des Lebens höchst willkürlich in den Weg legt.
Es wäre gegen das Prinzip, wenn ein naturalistischer Schriftsteller sich oder
gar andern eingestehen wollte, daß die ergreifendsten Momente in aller Lebens-
darstcllung aus Offenbarungen und nicht aus Analysen stammen, aber gleich¬
wohl steckt in Conrads bessern Novellen ein Element, welches die Hoffnung
erweckt, daß er früher oder später mit dem gedachten Prinzip selbst die nötige
Abrechnung halten werde. G. Conrnd ist jedenfalls zu gut und viel zu gut
zu dem, was elegante Wcinreisende, Börsenjobber, die sich am Schcwbcs eine
Lektüre gönnen, und auf der Wache gelangweilte Leutnants einen "pikanten
Schriftsteller" nennen.

Leicht aber macht es der Verfasser der beiden Novellcnsammlnngeu:
Lntetias Töchter (Leipzig, Wilhelm Friedrich) und Totentanz der
Liebe, Münchner Novellen (Leipzig, Wilhelm Friedrich, 1885) dem Beurteiler
wahrlich uicht, ihn von dem Gesindel, das in Winlelleihbibliotheken und bei
Bahuhosskolporteureu vorzugsweise gesucht wird, zu unterscheiden. Von den
beiden erzählenden Büchern ist das letztgenannte schon um deswillen das be¬
deutendere, weil es selbständiger und freier vom Einfluß des Vorbildes ist, als
die unter dem Titel "Lntetias Töchter" gesammelten Pariser-deutschen Liebes-
geschichten. Die letztern könnte ein unkundiger, um die Formeigentümlichkeit
unbekümmerter größtenteils für Studieublätter zu einem Romane im Zolaschen
Stil halten. Doch scheint Conrad nichts von der zähen, am Detail haftenden,
Strich an Strich setzenden Weise des Verfassers von "Assommoir" und "Pot
Bvuille" zu besitzen, von der Weise, die in Umkehrung eines bekannten malerischen
Experiments mit Hilfe vou lauter Einzelzügen den Apoll von Belvedere in
einen Frosch umbildet und darnach erklärt, daß sie ihn auf seine Grundform
zurückgeführt habe. Er ist ein rascher, zu einer knappen und vorwärts drängenden
Darstellung neigender Erzähler, ein Novellist, dem der Feuilletonist da und
dort ein Schnippchen schlüge, ein kecker Skizzist, der mit ein paar glücklichen


lauten Verkündigung eines neuen Zeitalters, der falschen Zuversicht, daß jede
treue und packende Auffassung des wahren Lebens modern und nur modern
sei, der pessimistischen Grundstimmung, welche im Verein mit seinem künstlerischen
Verlangen das Auge des Naturalisten vorzugsweise auf häßliche und widrige
Wirklichkeiten hinlenkt, wir begegnen der Lust an Zwei- oder vielmehr Ein¬
deutigem, die Gewohnheit, die Neigung der Geschlechter mit einer gewissen Ver¬
achtung herabzuziehen, sie jedes Glanzes zu berauben und sich doch fast aus¬
schließlich mit ihr zu beschäftigen, der Virtuosität in der Darstellung der
weiblichen und noch mehr in der der männlichen Halbwelt auch bei Conrad.
Aber es lebt und wirkt ein geistiges Etwas in seinen Versuchen, was über die
ganz Äußerlichen Nachbeter des neuesten Pariser Messias hinauswächst und
hinauswill, ein Hauch eiguen Empfindens, selbst ein gelegentliches trotziges
Aufbäumen gegen die Schlagbäume, die der französische Naturalismus der Be¬
obachtung und dem Verständnis des Lebens höchst willkürlich in den Weg legt.
Es wäre gegen das Prinzip, wenn ein naturalistischer Schriftsteller sich oder
gar andern eingestehen wollte, daß die ergreifendsten Momente in aller Lebens-
darstcllung aus Offenbarungen und nicht aus Analysen stammen, aber gleich¬
wohl steckt in Conrads bessern Novellen ein Element, welches die Hoffnung
erweckt, daß er früher oder später mit dem gedachten Prinzip selbst die nötige
Abrechnung halten werde. G. Conrnd ist jedenfalls zu gut und viel zu gut
zu dem, was elegante Wcinreisende, Börsenjobber, die sich am Schcwbcs eine
Lektüre gönnen, und auf der Wache gelangweilte Leutnants einen „pikanten
Schriftsteller" nennen.

Leicht aber macht es der Verfasser der beiden Novellcnsammlnngeu:
Lntetias Töchter (Leipzig, Wilhelm Friedrich) und Totentanz der
Liebe, Münchner Novellen (Leipzig, Wilhelm Friedrich, 1885) dem Beurteiler
wahrlich uicht, ihn von dem Gesindel, das in Winlelleihbibliotheken und bei
Bahuhosskolporteureu vorzugsweise gesucht wird, zu unterscheiden. Von den
beiden erzählenden Büchern ist das letztgenannte schon um deswillen das be¬
deutendere, weil es selbständiger und freier vom Einfluß des Vorbildes ist, als
die unter dem Titel „Lntetias Töchter" gesammelten Pariser-deutschen Liebes-
geschichten. Die letztern könnte ein unkundiger, um die Formeigentümlichkeit
unbekümmerter größtenteils für Studieublätter zu einem Romane im Zolaschen
Stil halten. Doch scheint Conrad nichts von der zähen, am Detail haftenden,
Strich an Strich setzenden Weise des Verfassers von „Assommoir" und „Pot
Bvuille" zu besitzen, von der Weise, die in Umkehrung eines bekannten malerischen
Experiments mit Hilfe vou lauter Einzelzügen den Apoll von Belvedere in
einen Frosch umbildet und darnach erklärt, daß sie ihn auf seine Grundform
zurückgeführt habe. Er ist ein rascher, zu einer knappen und vorwärts drängenden
Darstellung neigender Erzähler, ein Novellist, dem der Feuilletonist da und
dort ein Schnippchen schlüge, ein kecker Skizzist, der mit ein paar glücklichen


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[0133] lauten Verkündigung eines neuen Zeitalters, der falschen Zuversicht, daß jede treue und packende Auffassung des wahren Lebens modern und nur modern sei, der pessimistischen Grundstimmung, welche im Verein mit seinem künstlerischen Verlangen das Auge des Naturalisten vorzugsweise auf häßliche und widrige Wirklichkeiten hinlenkt, wir begegnen der Lust an Zwei- oder vielmehr Ein¬ deutigem, die Gewohnheit, die Neigung der Geschlechter mit einer gewissen Ver¬ achtung herabzuziehen, sie jedes Glanzes zu berauben und sich doch fast aus¬ schließlich mit ihr zu beschäftigen, der Virtuosität in der Darstellung der weiblichen und noch mehr in der der männlichen Halbwelt auch bei Conrad. Aber es lebt und wirkt ein geistiges Etwas in seinen Versuchen, was über die ganz Äußerlichen Nachbeter des neuesten Pariser Messias hinauswächst und hinauswill, ein Hauch eiguen Empfindens, selbst ein gelegentliches trotziges Aufbäumen gegen die Schlagbäume, die der französische Naturalismus der Be¬ obachtung und dem Verständnis des Lebens höchst willkürlich in den Weg legt. Es wäre gegen das Prinzip, wenn ein naturalistischer Schriftsteller sich oder gar andern eingestehen wollte, daß die ergreifendsten Momente in aller Lebens- darstcllung aus Offenbarungen und nicht aus Analysen stammen, aber gleich¬ wohl steckt in Conrads bessern Novellen ein Element, welches die Hoffnung erweckt, daß er früher oder später mit dem gedachten Prinzip selbst die nötige Abrechnung halten werde. G. Conrnd ist jedenfalls zu gut und viel zu gut zu dem, was elegante Wcinreisende, Börsenjobber, die sich am Schcwbcs eine Lektüre gönnen, und auf der Wache gelangweilte Leutnants einen „pikanten Schriftsteller" nennen. Leicht aber macht es der Verfasser der beiden Novellcnsammlnngeu: Lntetias Töchter (Leipzig, Wilhelm Friedrich) und Totentanz der Liebe, Münchner Novellen (Leipzig, Wilhelm Friedrich, 1885) dem Beurteiler wahrlich uicht, ihn von dem Gesindel, das in Winlelleihbibliotheken und bei Bahuhosskolporteureu vorzugsweise gesucht wird, zu unterscheiden. Von den beiden erzählenden Büchern ist das letztgenannte schon um deswillen das be¬ deutendere, weil es selbständiger und freier vom Einfluß des Vorbildes ist, als die unter dem Titel „Lntetias Töchter" gesammelten Pariser-deutschen Liebes- geschichten. Die letztern könnte ein unkundiger, um die Formeigentümlichkeit unbekümmerter größtenteils für Studieublätter zu einem Romane im Zolaschen Stil halten. Doch scheint Conrad nichts von der zähen, am Detail haftenden, Strich an Strich setzenden Weise des Verfassers von „Assommoir" und „Pot Bvuille" zu besitzen, von der Weise, die in Umkehrung eines bekannten malerischen Experiments mit Hilfe vou lauter Einzelzügen den Apoll von Belvedere in einen Frosch umbildet und darnach erklärt, daß sie ihn auf seine Grundform zurückgeführt habe. Er ist ein rascher, zu einer knappen und vorwärts drängenden Darstellung neigender Erzähler, ein Novellist, dem der Feuilletonist da und dort ein Schnippchen schlüge, ein kecker Skizzist, der mit ein paar glücklichen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198065/133>, abgerufen am 24.07.2024.