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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal.

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Die naturalistische Schule in Deutschland.

fehlbare Sicherheit, damit neue und eigentümliche Enthüllungen zu geben, spielen
bei der Bevorzugung dieser Seiten der Wirklichkeit eine große Rolle. Wenn
man zudem nach dem Vorgang der französischen Naturalisten das besondre Elend
und die besondern Krankheitsformen der einzelnen Arbeiterklassen, aller schmutzige",
peinlich anstrengenden, eintönigen Beschäftigungen besonders schildert, so er¬
öffnet dies eine Perspektive auf unübersehbare, weder abgeerntete noch abge-
baute Felder.

Die dritte Besonderheit, durch welche die naturalistische Schule auch bei uns
in Deutschland den Eindruck der Wahrheit, der ganzen Wahrheit hervorrufen
will, ist die Vorführung des männlichen Teils gewisser Klassen, die von Wohl¬
leben und Reichtum umgeben und dabei innerlich von der tiefsten Rohheit und
Gemeinheit erfüllt find. Ohne Frage liegt den betreffenden Schilderungen und
Charakteristiken der Naturalisten ein Stück Natur zu Grunde. Leben, Ge-
sinnung und vor allem die aus Brutalität und widriger Frivolität wundersam
gemischte Redeweise unsrer " goldnen Jugend" fordert jeden heraus, der auch
nnr im entferntesten das Zeug zu einem Juvenal in sich verspürt. Wer sie
je gesehen, gehört hat, diese durch und durch verkommenen und mit ihrer Ver¬
kommenheit frech prcchlendeu Bursche, tadellos sauber in Kravatten und Hand¬
schuhen, aber schmutzig bis in die letzte Falte ihres geistigen Wesens und na¬
mentlich ihrer Phantasie hinein, wer es weiß, wie sie unter sich sprechen und sich
selbst in bester Gesellschaft in den Ecken für den Zwang entschädigen, den sie
eben an der Seite anständiger Frauen sich angethan und erduldet haben, wer
die rohe Sicherheit kennt, mit der sie von jedem Menschen ihrer Erziehung und
Lebenslage die gleiche tiefinuere Gemeinheit voraussetzen, der kann den Natura¬
listen nicht Unrecht geben, wenn sie gegen jede verschönernde oder beschönigende
Charakteristik gerade dieser Vertreter der gebildeten Klassen Protestiren. Wenn
ein Teil unsrer dramatischen und erzählenden Literatur von diesen Erscheinungen
des modernen Lebens nichts weiß, so liegt dem ebensoviel unberechtigte Schön¬
rednerei und Heuchelei als berechtigter menschlicher und ästhetischer Widerwillen
zu Grunde. Die eigentümliche Sophistik der naturalistischen Schule folgert nun
freilich, daß, weil diese Erscheinungen in großer Zahl vorhanden sind, sie die
einzigen und herrschenden, die maßgebenden im deutschen Leben der Gegenwart
wären. An der Bevorzugung der Charakterbilder und Schilderungen dieses
Schlages haben aber wiederum nicht bloß die pessimistische Grundstimmung und
der moralisirenoe Zug, welcher einigen Naturalisten eigen ist und von andern
vorgegeben wird, sondern die rein literarische Erkenntnis Anteil, daß sich hier
eine Fülle von Neuen, und Niedargestelltem ergäbe. Denn so verächtlich die
ganze Gesellschaft ist, um die es sich hier handelt, so große (scheinbare) Mannich-
faltigkeit bietet sie dar, das Verhältnis aller Einzelnen zu der gemeinsamen
egoistisch-cynischen Grundanschauung, die Abstufungen und Grade der Heuchelei,
mit denen sie sich innerhalb des gesellschaftlichen Lebens behaupten, die Ab-


Die naturalistische Schule in Deutschland.

fehlbare Sicherheit, damit neue und eigentümliche Enthüllungen zu geben, spielen
bei der Bevorzugung dieser Seiten der Wirklichkeit eine große Rolle. Wenn
man zudem nach dem Vorgang der französischen Naturalisten das besondre Elend
und die besondern Krankheitsformen der einzelnen Arbeiterklassen, aller schmutzige»,
peinlich anstrengenden, eintönigen Beschäftigungen besonders schildert, so er¬
öffnet dies eine Perspektive auf unübersehbare, weder abgeerntete noch abge-
baute Felder.

Die dritte Besonderheit, durch welche die naturalistische Schule auch bei uns
in Deutschland den Eindruck der Wahrheit, der ganzen Wahrheit hervorrufen
will, ist die Vorführung des männlichen Teils gewisser Klassen, die von Wohl¬
leben und Reichtum umgeben und dabei innerlich von der tiefsten Rohheit und
Gemeinheit erfüllt find. Ohne Frage liegt den betreffenden Schilderungen und
Charakteristiken der Naturalisten ein Stück Natur zu Grunde. Leben, Ge-
sinnung und vor allem die aus Brutalität und widriger Frivolität wundersam
gemischte Redeweise unsrer „ goldnen Jugend" fordert jeden heraus, der auch
nnr im entferntesten das Zeug zu einem Juvenal in sich verspürt. Wer sie
je gesehen, gehört hat, diese durch und durch verkommenen und mit ihrer Ver¬
kommenheit frech prcchlendeu Bursche, tadellos sauber in Kravatten und Hand¬
schuhen, aber schmutzig bis in die letzte Falte ihres geistigen Wesens und na¬
mentlich ihrer Phantasie hinein, wer es weiß, wie sie unter sich sprechen und sich
selbst in bester Gesellschaft in den Ecken für den Zwang entschädigen, den sie
eben an der Seite anständiger Frauen sich angethan und erduldet haben, wer
die rohe Sicherheit kennt, mit der sie von jedem Menschen ihrer Erziehung und
Lebenslage die gleiche tiefinuere Gemeinheit voraussetzen, der kann den Natura¬
listen nicht Unrecht geben, wenn sie gegen jede verschönernde oder beschönigende
Charakteristik gerade dieser Vertreter der gebildeten Klassen Protestiren. Wenn
ein Teil unsrer dramatischen und erzählenden Literatur von diesen Erscheinungen
des modernen Lebens nichts weiß, so liegt dem ebensoviel unberechtigte Schön¬
rednerei und Heuchelei als berechtigter menschlicher und ästhetischer Widerwillen
zu Grunde. Die eigentümliche Sophistik der naturalistischen Schule folgert nun
freilich, daß, weil diese Erscheinungen in großer Zahl vorhanden sind, sie die
einzigen und herrschenden, die maßgebenden im deutschen Leben der Gegenwart
wären. An der Bevorzugung der Charakterbilder und Schilderungen dieses
Schlages haben aber wiederum nicht bloß die pessimistische Grundstimmung und
der moralisirenoe Zug, welcher einigen Naturalisten eigen ist und von andern
vorgegeben wird, sondern die rein literarische Erkenntnis Anteil, daß sich hier
eine Fülle von Neuen, und Niedargestelltem ergäbe. Denn so verächtlich die
ganze Gesellschaft ist, um die es sich hier handelt, so große (scheinbare) Mannich-
faltigkeit bietet sie dar, das Verhältnis aller Einzelnen zu der gemeinsamen
egoistisch-cynischen Grundanschauung, die Abstufungen und Grade der Heuchelei,
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[0131] Die naturalistische Schule in Deutschland. fehlbare Sicherheit, damit neue und eigentümliche Enthüllungen zu geben, spielen bei der Bevorzugung dieser Seiten der Wirklichkeit eine große Rolle. Wenn man zudem nach dem Vorgang der französischen Naturalisten das besondre Elend und die besondern Krankheitsformen der einzelnen Arbeiterklassen, aller schmutzige», peinlich anstrengenden, eintönigen Beschäftigungen besonders schildert, so er¬ öffnet dies eine Perspektive auf unübersehbare, weder abgeerntete noch abge- baute Felder. Die dritte Besonderheit, durch welche die naturalistische Schule auch bei uns in Deutschland den Eindruck der Wahrheit, der ganzen Wahrheit hervorrufen will, ist die Vorführung des männlichen Teils gewisser Klassen, die von Wohl¬ leben und Reichtum umgeben und dabei innerlich von der tiefsten Rohheit und Gemeinheit erfüllt find. Ohne Frage liegt den betreffenden Schilderungen und Charakteristiken der Naturalisten ein Stück Natur zu Grunde. Leben, Ge- sinnung und vor allem die aus Brutalität und widriger Frivolität wundersam gemischte Redeweise unsrer „ goldnen Jugend" fordert jeden heraus, der auch nnr im entferntesten das Zeug zu einem Juvenal in sich verspürt. Wer sie je gesehen, gehört hat, diese durch und durch verkommenen und mit ihrer Ver¬ kommenheit frech prcchlendeu Bursche, tadellos sauber in Kravatten und Hand¬ schuhen, aber schmutzig bis in die letzte Falte ihres geistigen Wesens und na¬ mentlich ihrer Phantasie hinein, wer es weiß, wie sie unter sich sprechen und sich selbst in bester Gesellschaft in den Ecken für den Zwang entschädigen, den sie eben an der Seite anständiger Frauen sich angethan und erduldet haben, wer die rohe Sicherheit kennt, mit der sie von jedem Menschen ihrer Erziehung und Lebenslage die gleiche tiefinuere Gemeinheit voraussetzen, der kann den Natura¬ listen nicht Unrecht geben, wenn sie gegen jede verschönernde oder beschönigende Charakteristik gerade dieser Vertreter der gebildeten Klassen Protestiren. Wenn ein Teil unsrer dramatischen und erzählenden Literatur von diesen Erscheinungen des modernen Lebens nichts weiß, so liegt dem ebensoviel unberechtigte Schön¬ rednerei und Heuchelei als berechtigter menschlicher und ästhetischer Widerwillen zu Grunde. Die eigentümliche Sophistik der naturalistischen Schule folgert nun freilich, daß, weil diese Erscheinungen in großer Zahl vorhanden sind, sie die einzigen und herrschenden, die maßgebenden im deutschen Leben der Gegenwart wären. An der Bevorzugung der Charakterbilder und Schilderungen dieses Schlages haben aber wiederum nicht bloß die pessimistische Grundstimmung und der moralisirenoe Zug, welcher einigen Naturalisten eigen ist und von andern vorgegeben wird, sondern die rein literarische Erkenntnis Anteil, daß sich hier eine Fülle von Neuen, und Niedargestelltem ergäbe. Denn so verächtlich die ganze Gesellschaft ist, um die es sich hier handelt, so große (scheinbare) Mannich- faltigkeit bietet sie dar, das Verhältnis aller Einzelnen zu der gemeinsamen egoistisch-cynischen Grundanschauung, die Abstufungen und Grade der Heuchelei, mit denen sie sich innerhalb des gesellschaftlichen Lebens behaupten, die Ab-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198065/131>, abgerufen am 29.12.2024.