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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal.

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Die naturalistische Schule in Deutschland.

tauchten, dem Zeitgeiste mehr entsprechend, Landsmannschaften auf, zuerst die
Badenser und die Rheinländer, dann die Oberrheiner, die Niederrheiner, die
Westfalen und die Cnronen. Überall pulsirte frisches, jugcndkräftiges Streben
und Leben, ein neues Blut durchströmte die alte Akademie, und mit dem Dichter
durfte man ausrufen:


Da, Schule Heidelbergs! stiegst du in armer Zeit
Aus schauervoller Dunkelheit,
Und Scharen deutscher Sühne zogen,
Sich deiner Fülle zu erfreun;
Sie eilten hin und sogen
Die jungen Strahlen ein.

Ein wahrer Fürst des Friedens, ein reiner und erhabener Charakter, schied
der unvergeßliche Großherzog am 11. Juni 1811 im 33. Lebensjahre nach einer
segensvollen Negierung von 73 Jahren von seinem ihn aufrichtig beklagenden
Volke, und in die Gruft zu Pforzheim weinte ihm die Heidelberger Hochschule
heiße Thränen nach. Schmückt sie sich jetzt mit Prunkgewänderii, die strahlende
Jubilarin, um ihre fünfte Säkularfeier zu begehen, und schaut nach denen
ans, denen sie den Kranz innigsten Dankes zu reichen hat, so gebührt wohl
ihr erster Gruß Karl Friedrich, dem Restaurator, und seinem treuen Sigmund
Karl von Reitzenstein.




Die naturalistische schule in Deutschland.
2.

l
e naturalistische Schule in Deutschland spricht Zolas große
Lösung eifrig nach, daß es keine Psychologie, sondern nur eine
Physiologie gebe und jede Darstellung des Seelenlebens der
Menschen, ohne fortwährende Beziehung auf ihren Gesundheits¬
zustand, ihre Abstammung und den Einfluß ihrer täglichen Um¬
gebung und Beschäftigung eine idealistische "Unwahrheit" in sich schließe. Wie
beschränkt diese Anschauung auch sein, zu welchen falschen Konsequenzen sie
führen möge, jedenfalls eröffnet sie der vergleichenden Beobachtung, der Auf-
faffungs- und Zusammenfassungskraft des Schriftstellers ein bedeutendes Gebiet.
Man sollte meinen, daß die Apostel des naturalistischen Evangeliums ihren fran¬
zösischen Vorbildern auch in dieser Beziehung nacheifern und versuchen müßten, die
Gesamterscheinung des deutschen Lebens der Gegenwart in großen Nomanfolgen,


Die naturalistische Schule in Deutschland.

tauchten, dem Zeitgeiste mehr entsprechend, Landsmannschaften auf, zuerst die
Badenser und die Rheinländer, dann die Oberrheiner, die Niederrheiner, die
Westfalen und die Cnronen. Überall pulsirte frisches, jugcndkräftiges Streben
und Leben, ein neues Blut durchströmte die alte Akademie, und mit dem Dichter
durfte man ausrufen:


Da, Schule Heidelbergs! stiegst du in armer Zeit
Aus schauervoller Dunkelheit,
Und Scharen deutscher Sühne zogen,
Sich deiner Fülle zu erfreun;
Sie eilten hin und sogen
Die jungen Strahlen ein.

Ein wahrer Fürst des Friedens, ein reiner und erhabener Charakter, schied
der unvergeßliche Großherzog am 11. Juni 1811 im 33. Lebensjahre nach einer
segensvollen Negierung von 73 Jahren von seinem ihn aufrichtig beklagenden
Volke, und in die Gruft zu Pforzheim weinte ihm die Heidelberger Hochschule
heiße Thränen nach. Schmückt sie sich jetzt mit Prunkgewänderii, die strahlende
Jubilarin, um ihre fünfte Säkularfeier zu begehen, und schaut nach denen
ans, denen sie den Kranz innigsten Dankes zu reichen hat, so gebührt wohl
ihr erster Gruß Karl Friedrich, dem Restaurator, und seinem treuen Sigmund
Karl von Reitzenstein.




Die naturalistische schule in Deutschland.
2.

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e naturalistische Schule in Deutschland spricht Zolas große
Lösung eifrig nach, daß es keine Psychologie, sondern nur eine
Physiologie gebe und jede Darstellung des Seelenlebens der
Menschen, ohne fortwährende Beziehung auf ihren Gesundheits¬
zustand, ihre Abstammung und den Einfluß ihrer täglichen Um¬
gebung und Beschäftigung eine idealistische „Unwahrheit" in sich schließe. Wie
beschränkt diese Anschauung auch sein, zu welchen falschen Konsequenzen sie
führen möge, jedenfalls eröffnet sie der vergleichenden Beobachtung, der Auf-
faffungs- und Zusammenfassungskraft des Schriftstellers ein bedeutendes Gebiet.
Man sollte meinen, daß die Apostel des naturalistischen Evangeliums ihren fran¬
zösischen Vorbildern auch in dieser Beziehung nacheifern und versuchen müßten, die
Gesamterscheinung des deutschen Lebens der Gegenwart in großen Nomanfolgen,


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[0128] Die naturalistische Schule in Deutschland. tauchten, dem Zeitgeiste mehr entsprechend, Landsmannschaften auf, zuerst die Badenser und die Rheinländer, dann die Oberrheiner, die Niederrheiner, die Westfalen und die Cnronen. Überall pulsirte frisches, jugcndkräftiges Streben und Leben, ein neues Blut durchströmte die alte Akademie, und mit dem Dichter durfte man ausrufen: Da, Schule Heidelbergs! stiegst du in armer Zeit Aus schauervoller Dunkelheit, Und Scharen deutscher Sühne zogen, Sich deiner Fülle zu erfreun; Sie eilten hin und sogen Die jungen Strahlen ein. Ein wahrer Fürst des Friedens, ein reiner und erhabener Charakter, schied der unvergeßliche Großherzog am 11. Juni 1811 im 33. Lebensjahre nach einer segensvollen Negierung von 73 Jahren von seinem ihn aufrichtig beklagenden Volke, und in die Gruft zu Pforzheim weinte ihm die Heidelberger Hochschule heiße Thränen nach. Schmückt sie sich jetzt mit Prunkgewänderii, die strahlende Jubilarin, um ihre fünfte Säkularfeier zu begehen, und schaut nach denen ans, denen sie den Kranz innigsten Dankes zu reichen hat, so gebührt wohl ihr erster Gruß Karl Friedrich, dem Restaurator, und seinem treuen Sigmund Karl von Reitzenstein. Die naturalistische schule in Deutschland. 2. l e naturalistische Schule in Deutschland spricht Zolas große Lösung eifrig nach, daß es keine Psychologie, sondern nur eine Physiologie gebe und jede Darstellung des Seelenlebens der Menschen, ohne fortwährende Beziehung auf ihren Gesundheits¬ zustand, ihre Abstammung und den Einfluß ihrer täglichen Um¬ gebung und Beschäftigung eine idealistische „Unwahrheit" in sich schließe. Wie beschränkt diese Anschauung auch sein, zu welchen falschen Konsequenzen sie führen möge, jedenfalls eröffnet sie der vergleichenden Beobachtung, der Auf- faffungs- und Zusammenfassungskraft des Schriftstellers ein bedeutendes Gebiet. Man sollte meinen, daß die Apostel des naturalistischen Evangeliums ihren fran¬ zösischen Vorbildern auch in dieser Beziehung nacheifern und versuchen müßten, die Gesamterscheinung des deutschen Lebens der Gegenwart in großen Nomanfolgen,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198065/128>, abgerufen am 25.07.2024.