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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Erstes Quartal.

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Zur Misere unsrer Literatur.

mitsprechen zu können, und da müssen denn die leidigen Leihbibliotheken aus-
helfen. Damit wird aber die zweite Unschicklichkeit auf die erste gesetzt. Welch
ein Pfui! geht durch die Empfindung jedes wohlerzognen Mannes, wenn er die
bekannten abgegriffnen, hochnummerirten Bände in einem vornehmen und an¬
ständigen Hause erblickt! Finden wir sie auf den Arbeitstische" der Damen --
ein Glück, wenn dann keine Feuerzange in der Nähe ist, weil diese uns immer
in Versuchung führt, sie damit anzufassen und in die Gesindestube zu tragen.
Wenn Leute von Stande aus Leihbibliotheken lesen, so ist es dasselbe, als ob vor¬
nehme Familien ihr Mittagessen, weil sie aus Sparsamkeit keine eigne Küche
halten wollen, ans einer gemeinen Speisewirtschaft holen lassen.

Wie ganz anders ist dies in England! Dort gilt es für selbstverständlich,
daß jedes vornehme, jedes "fashionable" Haus seine Bibliothek habe, und jeder
Manu, der auf Erziehung Anspruch macht, würde sich schämen, wenn bei ihm
nicht die gediegensten und anerkanntesten Schriftsteller der Vergangenheit und die
ausgezeichnetsten Erscheinungen der jüngsten Literatur zu siudeu wären. Daß
dies selbst bei denen der Fall ist, deren vorwiegende Liebhaberei die Literatur
garnicht ist, beweist, daß die Achtung vor diesem edeln Kleinode des National¬
lebens in die allgemeine Sitte übergegangen, daß seine Hege und Pflege als
eine Ehrenpflicht anerkannt ist. Unter solchen Voraussetzungen ist dann eine
völlige Teilnahmlosigkeit an den schriftstellerischen Erzeugnissen nicht leicht denk¬
bar. Und wirklich wird in England von Männern von Stande viel und ernst¬
haft gelesen und die Zeitungspapiere verdrängen dort keineswegs die Literatur.
Die günstigen Folgen davon zeigen sich aber auch an der Literatur, an den
Männern und an der ganzen dortigen gebildeten Welt.

Wir wünschen keineswegs die Zeit zurück, in der sich der ganze Patrio¬
tismus der gebildeten Deutschen in die Literatur flüchtete, wir können ebenso
wenig loben, wenn man von unserm Vettervolke jenseits des Kanals Tendenzen
und Anschauungen, die für uns nicht passen und niemals passen können,
herüberholt, aber wir wünschen, daß auch deutsche Männer aus Patriotismus
es als eine Ehrenpflicht erkannten, an der Literatur ernsthaften Anteil zu
nehmen und sie thätig zu hegen und zu pflegeu. Nicht als Schriftsteller,
sondern als Liebhaber; nicht als Produzenten, wo nicht Begabung und Beruf
hervorstechen; sondern als Förderer, Sammler und Käufer. Es ist nicht zu
ermessen, welchen Einfluß die Literatur hat, um zu bestimmen, was bei einem
Volke als erstrebens- und erreichenswert, als recht und gut, als würdig und
edel gilt. So wirkt sie durch die Eltern, vornehmlich durch die Mütter, auf
die Kinder und unmittelbar auf das nachwachsende Geschlecht. Sie ist ein
stilles und gewaltiges Erziehungsmittel fiir die Nation. Kann ein solches aber
anders wirken, als gemäß seiner eignen Beschaffenheit? Darum sollte schon
aus Patriotismus jeder vornehme und bemittelte Mann nicht allein für sich
und die Seinigen einen sorgfältig gewählten Bücherschatz ansammeln, sondern


Zur Misere unsrer Literatur.

mitsprechen zu können, und da müssen denn die leidigen Leihbibliotheken aus-
helfen. Damit wird aber die zweite Unschicklichkeit auf die erste gesetzt. Welch
ein Pfui! geht durch die Empfindung jedes wohlerzognen Mannes, wenn er die
bekannten abgegriffnen, hochnummerirten Bände in einem vornehmen und an¬
ständigen Hause erblickt! Finden wir sie auf den Arbeitstische» der Damen —
ein Glück, wenn dann keine Feuerzange in der Nähe ist, weil diese uns immer
in Versuchung führt, sie damit anzufassen und in die Gesindestube zu tragen.
Wenn Leute von Stande aus Leihbibliotheken lesen, so ist es dasselbe, als ob vor¬
nehme Familien ihr Mittagessen, weil sie aus Sparsamkeit keine eigne Küche
halten wollen, ans einer gemeinen Speisewirtschaft holen lassen.

Wie ganz anders ist dies in England! Dort gilt es für selbstverständlich,
daß jedes vornehme, jedes „fashionable" Haus seine Bibliothek habe, und jeder
Manu, der auf Erziehung Anspruch macht, würde sich schämen, wenn bei ihm
nicht die gediegensten und anerkanntesten Schriftsteller der Vergangenheit und die
ausgezeichnetsten Erscheinungen der jüngsten Literatur zu siudeu wären. Daß
dies selbst bei denen der Fall ist, deren vorwiegende Liebhaberei die Literatur
garnicht ist, beweist, daß die Achtung vor diesem edeln Kleinode des National¬
lebens in die allgemeine Sitte übergegangen, daß seine Hege und Pflege als
eine Ehrenpflicht anerkannt ist. Unter solchen Voraussetzungen ist dann eine
völlige Teilnahmlosigkeit an den schriftstellerischen Erzeugnissen nicht leicht denk¬
bar. Und wirklich wird in England von Männern von Stande viel und ernst¬
haft gelesen und die Zeitungspapiere verdrängen dort keineswegs die Literatur.
Die günstigen Folgen davon zeigen sich aber auch an der Literatur, an den
Männern und an der ganzen dortigen gebildeten Welt.

Wir wünschen keineswegs die Zeit zurück, in der sich der ganze Patrio¬
tismus der gebildeten Deutschen in die Literatur flüchtete, wir können ebenso
wenig loben, wenn man von unserm Vettervolke jenseits des Kanals Tendenzen
und Anschauungen, die für uns nicht passen und niemals passen können,
herüberholt, aber wir wünschen, daß auch deutsche Männer aus Patriotismus
es als eine Ehrenpflicht erkannten, an der Literatur ernsthaften Anteil zu
nehmen und sie thätig zu hegen und zu pflegeu. Nicht als Schriftsteller,
sondern als Liebhaber; nicht als Produzenten, wo nicht Begabung und Beruf
hervorstechen; sondern als Förderer, Sammler und Käufer. Es ist nicht zu
ermessen, welchen Einfluß die Literatur hat, um zu bestimmen, was bei einem
Volke als erstrebens- und erreichenswert, als recht und gut, als würdig und
edel gilt. So wirkt sie durch die Eltern, vornehmlich durch die Mütter, auf
die Kinder und unmittelbar auf das nachwachsende Geschlecht. Sie ist ein
stilles und gewaltiges Erziehungsmittel fiir die Nation. Kann ein solches aber
anders wirken, als gemäß seiner eignen Beschaffenheit? Darum sollte schon
aus Patriotismus jeder vornehme und bemittelte Mann nicht allein für sich
und die Seinigen einen sorgfältig gewählten Bücherschatz ansammeln, sondern


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[0087] Zur Misere unsrer Literatur. mitsprechen zu können, und da müssen denn die leidigen Leihbibliotheken aus- helfen. Damit wird aber die zweite Unschicklichkeit auf die erste gesetzt. Welch ein Pfui! geht durch die Empfindung jedes wohlerzognen Mannes, wenn er die bekannten abgegriffnen, hochnummerirten Bände in einem vornehmen und an¬ ständigen Hause erblickt! Finden wir sie auf den Arbeitstische» der Damen — ein Glück, wenn dann keine Feuerzange in der Nähe ist, weil diese uns immer in Versuchung führt, sie damit anzufassen und in die Gesindestube zu tragen. Wenn Leute von Stande aus Leihbibliotheken lesen, so ist es dasselbe, als ob vor¬ nehme Familien ihr Mittagessen, weil sie aus Sparsamkeit keine eigne Küche halten wollen, ans einer gemeinen Speisewirtschaft holen lassen. Wie ganz anders ist dies in England! Dort gilt es für selbstverständlich, daß jedes vornehme, jedes „fashionable" Haus seine Bibliothek habe, und jeder Manu, der auf Erziehung Anspruch macht, würde sich schämen, wenn bei ihm nicht die gediegensten und anerkanntesten Schriftsteller der Vergangenheit und die ausgezeichnetsten Erscheinungen der jüngsten Literatur zu siudeu wären. Daß dies selbst bei denen der Fall ist, deren vorwiegende Liebhaberei die Literatur garnicht ist, beweist, daß die Achtung vor diesem edeln Kleinode des National¬ lebens in die allgemeine Sitte übergegangen, daß seine Hege und Pflege als eine Ehrenpflicht anerkannt ist. Unter solchen Voraussetzungen ist dann eine völlige Teilnahmlosigkeit an den schriftstellerischen Erzeugnissen nicht leicht denk¬ bar. Und wirklich wird in England von Männern von Stande viel und ernst¬ haft gelesen und die Zeitungspapiere verdrängen dort keineswegs die Literatur. Die günstigen Folgen davon zeigen sich aber auch an der Literatur, an den Männern und an der ganzen dortigen gebildeten Welt. Wir wünschen keineswegs die Zeit zurück, in der sich der ganze Patrio¬ tismus der gebildeten Deutschen in die Literatur flüchtete, wir können ebenso wenig loben, wenn man von unserm Vettervolke jenseits des Kanals Tendenzen und Anschauungen, die für uns nicht passen und niemals passen können, herüberholt, aber wir wünschen, daß auch deutsche Männer aus Patriotismus es als eine Ehrenpflicht erkannten, an der Literatur ernsthaften Anteil zu nehmen und sie thätig zu hegen und zu pflegeu. Nicht als Schriftsteller, sondern als Liebhaber; nicht als Produzenten, wo nicht Begabung und Beruf hervorstechen; sondern als Förderer, Sammler und Käufer. Es ist nicht zu ermessen, welchen Einfluß die Literatur hat, um zu bestimmen, was bei einem Volke als erstrebens- und erreichenswert, als recht und gut, als würdig und edel gilt. So wirkt sie durch die Eltern, vornehmlich durch die Mütter, auf die Kinder und unmittelbar auf das nachwachsende Geschlecht. Sie ist ein stilles und gewaltiges Erziehungsmittel fiir die Nation. Kann ein solches aber anders wirken, als gemäß seiner eignen Beschaffenheit? Darum sollte schon aus Patriotismus jeder vornehme und bemittelte Mann nicht allein für sich und die Seinigen einen sorgfältig gewählten Bücherschatz ansammeln, sondern

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_197423/87>, abgerufen am 05.02.2025.