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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Erstes Quartal.

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Zur Misere unsrer Literatur.

eine oder zwei Sachen von wirklichem Werte hervorbringen würden, wenn sie
alle ihre Kraft darauf verwendeten, zu immer neuem Prvduziren verleitet, lauter
Spreu in die Welt setzen, welche der Wind der Vergessenheit unerbittlich von
der Tenne der Literatur wegfegen wird, wenn erst die Jahre ihre kritischen
Wnrfschanfeln schwingen werden. So verderben sich denn Schriftsteller und
Publikum gegenseitig mehr und mehr, und die Literatur gerät immer tiefer
in Verfall.

Zu helfen ist da nicht anders, als durch ein andres, besseres und strengeres,
aber zugleich liebevoll teilnehmendes Publikum gebildeter Männer. Auch für
diese selbst würde ein ernstes Interesse an der Literatur von größtem Vorteil
sein. Wir sprechen nicht von der formellen Bildung in Ausdruck, Sprache und
Schrift. Diese ist durch Schule und Überlieferung so allgemein geworden/'') daß
ihr Mangel geradezu Mangel an Fähigkeit, an Erziehung oder an Rücksicht
beweist. Aber wie viele, selbst die besten, entbehren jener Sammlung, Gründ¬
lichkeit und Vertiefungsfähigkeit, welche sich bei dem anhaltenden, ernsten und
eindringenden Lesen bedeutender und gediegener Werke ausbildet! Wie viele
entbehren des freien geistigen Überblicks, des Verständnisses für die idealen
Interessen des Lebens, der ruhigen Billigkeit, welche man in dem steten Umgänge
mit deu größten, umfassendsten und klarsten Geistern gewinnt! Dem allen steht
vor allem die ausschließliche, hastige Leserci der Zeitungen entgegen, die nur der
sammlungslosen, fahrigen und dennoch unfreien Eiscnbcchnunruhe entspricht,
welche die jetzigen Menschen beherrscht.

Für die Literatur würde es schon von größtem Gewinn sein, wenn das
neue wahrhaft Gute und von Urteilsfähigen als gut Empfohlene mir erst wirklich
gekauft würde. Aber damit sieht es in deutschen Landen ganz unglaublich aus:
Leute, die sich Bibliotheken anschaffen können, thun es nicht, die es aber gern
thun möchten, können es nicht. Es giebt große Grundbesitzer, es giebt reiche
Kaufleute, Bankiers und Fabrikherren, Millionäre und Halbmillionäre, die auch
zur feinen und gebildeten Gesellschaft gehören wollen, und bei denen man nicht
einmal die unerläßlichsten Anfänge zu einer dürftigen Bibliothek findet. Kann
man auf höhere Kultur und geistige Interessen Anspruch machen und sich dabei
ein solches Armutszeugnis ausstellen? Wir müssen einen solchen Mangel ge¬
radezu unanständig nennen. Denn jeder Beweis von Rücksichtslosigkeit gegen
das, was nicht nur edel und würdig ist, sondern das ganze Vaterland ehrt und
ziert, ist eine Unanständigkeit. Währte man nur wenigstens den äußern Schein
der Schätzung der Literatur, dieser edelsten, geistigen Blüte der Nation!

Freilich wollen nun auch in solchen Häusern Frauen, Töchter und junge
Leute dies und jenes lesen, teils zur Unterhaltung, teils um doch auch darüber



Wirklich? Wir glauben vielmehr, das; unsre Sprache noch nie so verlottert gewesen
sei, so lüderlich und geschmacklos ans der einen, so rat- und hilflos auf der ander" Seite
D. Red. gehandhabt werde, wie gegenwärtig.
Zur Misere unsrer Literatur.

eine oder zwei Sachen von wirklichem Werte hervorbringen würden, wenn sie
alle ihre Kraft darauf verwendeten, zu immer neuem Prvduziren verleitet, lauter
Spreu in die Welt setzen, welche der Wind der Vergessenheit unerbittlich von
der Tenne der Literatur wegfegen wird, wenn erst die Jahre ihre kritischen
Wnrfschanfeln schwingen werden. So verderben sich denn Schriftsteller und
Publikum gegenseitig mehr und mehr, und die Literatur gerät immer tiefer
in Verfall.

Zu helfen ist da nicht anders, als durch ein andres, besseres und strengeres,
aber zugleich liebevoll teilnehmendes Publikum gebildeter Männer. Auch für
diese selbst würde ein ernstes Interesse an der Literatur von größtem Vorteil
sein. Wir sprechen nicht von der formellen Bildung in Ausdruck, Sprache und
Schrift. Diese ist durch Schule und Überlieferung so allgemein geworden/'') daß
ihr Mangel geradezu Mangel an Fähigkeit, an Erziehung oder an Rücksicht
beweist. Aber wie viele, selbst die besten, entbehren jener Sammlung, Gründ¬
lichkeit und Vertiefungsfähigkeit, welche sich bei dem anhaltenden, ernsten und
eindringenden Lesen bedeutender und gediegener Werke ausbildet! Wie viele
entbehren des freien geistigen Überblicks, des Verständnisses für die idealen
Interessen des Lebens, der ruhigen Billigkeit, welche man in dem steten Umgänge
mit deu größten, umfassendsten und klarsten Geistern gewinnt! Dem allen steht
vor allem die ausschließliche, hastige Leserci der Zeitungen entgegen, die nur der
sammlungslosen, fahrigen und dennoch unfreien Eiscnbcchnunruhe entspricht,
welche die jetzigen Menschen beherrscht.

Für die Literatur würde es schon von größtem Gewinn sein, wenn das
neue wahrhaft Gute und von Urteilsfähigen als gut Empfohlene mir erst wirklich
gekauft würde. Aber damit sieht es in deutschen Landen ganz unglaublich aus:
Leute, die sich Bibliotheken anschaffen können, thun es nicht, die es aber gern
thun möchten, können es nicht. Es giebt große Grundbesitzer, es giebt reiche
Kaufleute, Bankiers und Fabrikherren, Millionäre und Halbmillionäre, die auch
zur feinen und gebildeten Gesellschaft gehören wollen, und bei denen man nicht
einmal die unerläßlichsten Anfänge zu einer dürftigen Bibliothek findet. Kann
man auf höhere Kultur und geistige Interessen Anspruch machen und sich dabei
ein solches Armutszeugnis ausstellen? Wir müssen einen solchen Mangel ge¬
radezu unanständig nennen. Denn jeder Beweis von Rücksichtslosigkeit gegen
das, was nicht nur edel und würdig ist, sondern das ganze Vaterland ehrt und
ziert, ist eine Unanständigkeit. Währte man nur wenigstens den äußern Schein
der Schätzung der Literatur, dieser edelsten, geistigen Blüte der Nation!

Freilich wollen nun auch in solchen Häusern Frauen, Töchter und junge
Leute dies und jenes lesen, teils zur Unterhaltung, teils um doch auch darüber



Wirklich? Wir glauben vielmehr, das; unsre Sprache noch nie so verlottert gewesen
sei, so lüderlich und geschmacklos ans der einen, so rat- und hilflos auf der ander» Seite
D. Red. gehandhabt werde, wie gegenwärtig.
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[0086] Zur Misere unsrer Literatur. eine oder zwei Sachen von wirklichem Werte hervorbringen würden, wenn sie alle ihre Kraft darauf verwendeten, zu immer neuem Prvduziren verleitet, lauter Spreu in die Welt setzen, welche der Wind der Vergessenheit unerbittlich von der Tenne der Literatur wegfegen wird, wenn erst die Jahre ihre kritischen Wnrfschanfeln schwingen werden. So verderben sich denn Schriftsteller und Publikum gegenseitig mehr und mehr, und die Literatur gerät immer tiefer in Verfall. Zu helfen ist da nicht anders, als durch ein andres, besseres und strengeres, aber zugleich liebevoll teilnehmendes Publikum gebildeter Männer. Auch für diese selbst würde ein ernstes Interesse an der Literatur von größtem Vorteil sein. Wir sprechen nicht von der formellen Bildung in Ausdruck, Sprache und Schrift. Diese ist durch Schule und Überlieferung so allgemein geworden/'') daß ihr Mangel geradezu Mangel an Fähigkeit, an Erziehung oder an Rücksicht beweist. Aber wie viele, selbst die besten, entbehren jener Sammlung, Gründ¬ lichkeit und Vertiefungsfähigkeit, welche sich bei dem anhaltenden, ernsten und eindringenden Lesen bedeutender und gediegener Werke ausbildet! Wie viele entbehren des freien geistigen Überblicks, des Verständnisses für die idealen Interessen des Lebens, der ruhigen Billigkeit, welche man in dem steten Umgänge mit deu größten, umfassendsten und klarsten Geistern gewinnt! Dem allen steht vor allem die ausschließliche, hastige Leserci der Zeitungen entgegen, die nur der sammlungslosen, fahrigen und dennoch unfreien Eiscnbcchnunruhe entspricht, welche die jetzigen Menschen beherrscht. Für die Literatur würde es schon von größtem Gewinn sein, wenn das neue wahrhaft Gute und von Urteilsfähigen als gut Empfohlene mir erst wirklich gekauft würde. Aber damit sieht es in deutschen Landen ganz unglaublich aus: Leute, die sich Bibliotheken anschaffen können, thun es nicht, die es aber gern thun möchten, können es nicht. Es giebt große Grundbesitzer, es giebt reiche Kaufleute, Bankiers und Fabrikherren, Millionäre und Halbmillionäre, die auch zur feinen und gebildeten Gesellschaft gehören wollen, und bei denen man nicht einmal die unerläßlichsten Anfänge zu einer dürftigen Bibliothek findet. Kann man auf höhere Kultur und geistige Interessen Anspruch machen und sich dabei ein solches Armutszeugnis ausstellen? Wir müssen einen solchen Mangel ge¬ radezu unanständig nennen. Denn jeder Beweis von Rücksichtslosigkeit gegen das, was nicht nur edel und würdig ist, sondern das ganze Vaterland ehrt und ziert, ist eine Unanständigkeit. Währte man nur wenigstens den äußern Schein der Schätzung der Literatur, dieser edelsten, geistigen Blüte der Nation! Freilich wollen nun auch in solchen Häusern Frauen, Töchter und junge Leute dies und jenes lesen, teils zur Unterhaltung, teils um doch auch darüber Wirklich? Wir glauben vielmehr, das; unsre Sprache noch nie so verlottert gewesen sei, so lüderlich und geschmacklos ans der einen, so rat- und hilflos auf der ander» Seite D. Red. gehandhabt werde, wie gegenwärtig.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_197423/86>, abgerufen am 05.02.2025.