Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Erstes Quartal.Zur Misere nnsi'er Literatur. tiire der täglichen Zeitungsleserei nachsetzte. Überdies sind viele der Meinung, Daß sich infolge unsrer übertriebenen Zeitungsleserei die gebildetere Männer¬ Kein Schriftsteller ist ohne ein bestimmtes Verhältnis zu seinem Publikum Zur Misere nnsi'er Literatur. tiire der täglichen Zeitungsleserei nachsetzte. Überdies sind viele der Meinung, Daß sich infolge unsrer übertriebenen Zeitungsleserei die gebildetere Männer¬ Kein Schriftsteller ist ohne ein bestimmtes Verhältnis zu seinem Publikum <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0085" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/197509"/> <fw type="header" place="top"> Zur Misere nnsi'er Literatur.</fw><lb/> <p xml:id="ID_242" prev="#ID_241"> tiire der täglichen Zeitungsleserei nachsetzte. Überdies sind viele der Meinung,<lb/> man müsse, um ein klares, freies Urteil über die Dinge zu bekommen, Blätter<lb/> aller Hauptparteien lesen, was denn auch mit deutscher Zähigkeit und Gründ¬<lb/> lichkeit reichlich geschieht. Im Vorbeigehen bemerken wir, daß dies für einen<lb/> Privatmann eine sehr müßige Beschäftigung ist. Eignes, freies Urteil geht aus<lb/> Charakter und Bildung hervor; wer es besitzt, bedarf zu seiner Anwendung jener<lb/> vergleichenden Zeitungsleserei nicht; wem es mangelt, der wird es durch sie<lb/> nicht gewinnen und sich am besten dabei stehen, wenn er sein Urteil durch die<lb/> Tüchtigsten und Einsichtigsten seiner Richtung bestimmen läßt. Man wühle eine<lb/> gut redigirte Zeitung, die zugleich belehrende Aufsätze über alle Gebiete der<lb/> Kunst, der Wissenschaft ?c. bringt, und die deshalb, weil diese Artikel ein<lb/> dauerndes Interesse haben, nicht sofort den eins inlorioribus geopfert wird.<lb/> Doch dies beiläufig.</p><lb/> <p xml:id="ID_243"> Daß sich infolge unsrer übertriebenen Zeitungsleserei die gebildetere Männer¬<lb/> welt der Teilnahme an der eigentlichen Literatur größtenteils entzogen hat, schlägt<lb/> bereits ersichtlich zum Nachteil beider, der Literatur und der Männer, ans.</p><lb/> <p xml:id="ID_244" next="#ID_245"> Kein Schriftsteller ist ohne ein bestimmtes Verhältnis zu seinem Publikum<lb/> zu denken, und beide bilden einander gegenseitig. Wenige Autoren haben so<lb/> viel Charakter und Selbständigkeit, daß die Neigungen, Wünsche und Forderungen<lb/> des Publikums ohne Einfluß auf ihre Erzeugnisse, auf deren Stoff und Art,<lb/> Gehalt und Form bleiben sollten. Auch würden die Produkte solcher Männer<lb/> kaum Verleger und gewiß keine Verbreitung finden. Sieht man ab von den<lb/> rein wissenschaftlichen, praktischen und politischen Schriften, so bleibt für den<lb/> Überrest, für das, was man im unserm Sinne die Literatur nennt, bei uns<lb/> hauptsächlich nur ein weibliches Publikum und die heranwachsende Jngend übrig.<lb/> Das wird jeder intelligente Buchhändler bestätigen. Für ein solches Publikum<lb/> aber ist das Ernste, Hohe und Gediegene nicht, und es zwingt seine Schrift¬<lb/> steller nicht, diesem uachzuringen. Deshalb wird man auch finden, daß in diesem<lb/> Gebiete der Literatur Neues von eigentümlicher Größe, Tiefe und Schönheit<lb/> kaum noch auftaucht, und wenn es sich zeigt, ein ganz andres Schicksal hat,<lb/> als es Ende des vorigen und Anfangs dieses Jahrhunderts gehabt hätte; daß<lb/> dagegen pikante Geistreichigkcit, bald zerrissen und negirend, bald oberflächlich<lb/> und geschwätzig, oder geschniegelte Zierlichkeit mit stutzerhafter Selbstspicgelung,<lb/> oder auch ein Gewebe aus beidem die breite, gesuchteste und gelesenste Masse<lb/> der Literatur bildet. Denn wie die Nachfrage, so die Produktion. Dazu ist<lb/> es leider die Art des liebenswürdigen Geschlechts und der ihm so ähnlichen<lb/> Jugend, nicht bei dem einzelnen Vortrefflichen liebevoll stehen zu bleiben und<lb/> darin mit stets neuem Genuß sich zu vertiefen — dies setzt Reife, Selbst¬<lb/> thätigkeit und Sammlung voraus —, sondern, wie die Athener, immer nach<lb/> Neuem zu fragen, wodurch die Schriftsteller eines solchen Publikums sich gleich<lb/> von Anfang an auf das Vielschreiben angewiesen sehen, und Talente, die vielleicht</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0085]
Zur Misere nnsi'er Literatur.
tiire der täglichen Zeitungsleserei nachsetzte. Überdies sind viele der Meinung,
man müsse, um ein klares, freies Urteil über die Dinge zu bekommen, Blätter
aller Hauptparteien lesen, was denn auch mit deutscher Zähigkeit und Gründ¬
lichkeit reichlich geschieht. Im Vorbeigehen bemerken wir, daß dies für einen
Privatmann eine sehr müßige Beschäftigung ist. Eignes, freies Urteil geht aus
Charakter und Bildung hervor; wer es besitzt, bedarf zu seiner Anwendung jener
vergleichenden Zeitungsleserei nicht; wem es mangelt, der wird es durch sie
nicht gewinnen und sich am besten dabei stehen, wenn er sein Urteil durch die
Tüchtigsten und Einsichtigsten seiner Richtung bestimmen läßt. Man wühle eine
gut redigirte Zeitung, die zugleich belehrende Aufsätze über alle Gebiete der
Kunst, der Wissenschaft ?c. bringt, und die deshalb, weil diese Artikel ein
dauerndes Interesse haben, nicht sofort den eins inlorioribus geopfert wird.
Doch dies beiläufig.
Daß sich infolge unsrer übertriebenen Zeitungsleserei die gebildetere Männer¬
welt der Teilnahme an der eigentlichen Literatur größtenteils entzogen hat, schlägt
bereits ersichtlich zum Nachteil beider, der Literatur und der Männer, ans.
Kein Schriftsteller ist ohne ein bestimmtes Verhältnis zu seinem Publikum
zu denken, und beide bilden einander gegenseitig. Wenige Autoren haben so
viel Charakter und Selbständigkeit, daß die Neigungen, Wünsche und Forderungen
des Publikums ohne Einfluß auf ihre Erzeugnisse, auf deren Stoff und Art,
Gehalt und Form bleiben sollten. Auch würden die Produkte solcher Männer
kaum Verleger und gewiß keine Verbreitung finden. Sieht man ab von den
rein wissenschaftlichen, praktischen und politischen Schriften, so bleibt für den
Überrest, für das, was man im unserm Sinne die Literatur nennt, bei uns
hauptsächlich nur ein weibliches Publikum und die heranwachsende Jngend übrig.
Das wird jeder intelligente Buchhändler bestätigen. Für ein solches Publikum
aber ist das Ernste, Hohe und Gediegene nicht, und es zwingt seine Schrift¬
steller nicht, diesem uachzuringen. Deshalb wird man auch finden, daß in diesem
Gebiete der Literatur Neues von eigentümlicher Größe, Tiefe und Schönheit
kaum noch auftaucht, und wenn es sich zeigt, ein ganz andres Schicksal hat,
als es Ende des vorigen und Anfangs dieses Jahrhunderts gehabt hätte; daß
dagegen pikante Geistreichigkcit, bald zerrissen und negirend, bald oberflächlich
und geschwätzig, oder geschniegelte Zierlichkeit mit stutzerhafter Selbstspicgelung,
oder auch ein Gewebe aus beidem die breite, gesuchteste und gelesenste Masse
der Literatur bildet. Denn wie die Nachfrage, so die Produktion. Dazu ist
es leider die Art des liebenswürdigen Geschlechts und der ihm so ähnlichen
Jugend, nicht bei dem einzelnen Vortrefflichen liebevoll stehen zu bleiben und
darin mit stets neuem Genuß sich zu vertiefen — dies setzt Reife, Selbst¬
thätigkeit und Sammlung voraus —, sondern, wie die Athener, immer nach
Neuem zu fragen, wodurch die Schriftsteller eines solchen Publikums sich gleich
von Anfang an auf das Vielschreiben angewiesen sehen, und Talente, die vielleicht
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |