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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Erstes Quartal.

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Stil und Mode.

Ansätze zu bemerken, aus welchen ein originaler Saft emporquellend neue
Sprößlinge treiben könnte. Wie einst die Erinnhs dem Fuße des flüchtigen
Orestes folgte, so heftet sich an unsre Fersen der Fluch der Nachahmung. Nur
sieht die Sache im Lichte des neunzehnten Jahrhunderts viel weniger tragisch
aus. Wir find nicht die beklagenswerten Opfer eines dunkeln, unentrinnbaren
Verhängnisses, sondern unfreiwillige Komiker, die Affen sämtlicher Jahrhunderte,
und kein Areopag der Welt könnte uns von den zahllosen Sünden freisprechen,
welche wir im Laufe der letzten fünfzehn Jahre auf den Gebieten der Kunst,
des Kunstgewerbes und des guten Geschmacks begangen haben.

Dieser Vorwurf trifft freilich uns Deutsche nicht allein. Er ist ebenso
sehr bei Franzosen und Engländern angebracht, welche heutzutage allein eine
den Deutschen gleiche Weltstellung einnehmen und deshalb allein in allen um¬
fassenden Fragen mit uns verglichen werden können. Die Nordamerikaner
kommen trotz größerer materieller Mittel nicht in Betracht, weil ihre geschicht¬
liche Entwicklung uoch zu jung ist und weil sie die Zeit, welche ihnen der
Kampf um die Konsolidirung ihres Territorialbesitzes übrig gelassen hat, zur
Aneignung aller technischen Mittel und Fertigkeiten verwenden mußten. Auch
sie werde" sich über kurz oder lang ans dem Kampfplatze einfinden, auf welchem
man um die Palme in idealistischen Bestrebungen wetteifert, weil uns die welt¬
geschichtliche Erfahrung gelehrt hat, daß die technische Fertigkeit stets die Grund¬
bedingung für jede That des Geistes gewesen ist.

Wir Deutsche sind jedoch im Nachteil, obgleich wir uns in dem Messen
unsrer Kräfte, in der Abwägung unsrer Tugenden und Fehler auf Engländer
und Franzosen beschränken dürfen. Diese beiden Nationen blicken auf eine
Kulturentwicklung zurück, welche niemals so lauge und so gewaltsam zerrissen
worden ist wie die deutsche durch deu dreißigjährigen Krieg. In Frankreich
und England haben immer Monarchen den Zeitgeschmack bestimmt, welchen wir
heute im Lichte der Geschichte als "Stil" bezeichnen. In jenen beiden Ländern
hat der Kunstgeschmack eine gesetzmäßige Entwicklung gehabt, welche sich dort
an die Namen Franz I., Henri II., Henri III., Louis XIII., Louis XIV., Regcnce,
Louis XV. und Louis XVI., ?r"zmiör om.xiro, hier an die Namen Heinrich VIII.,
Tudor, Elisabeth, Königin Anna, an die drei George knüpft. Wir in Deutschland
kennen diese feinen Stil-, Geschmacks- oder Mvdeunterschiede nicht. Wir sprechen,
ganze Jahrhunderte umfassend, von Renaissance, Barock-, Rokoko- und Zopfstil,
von Hellenismus und Klassizismus. Etwas spezifisch nationales verbinden wir
aber mit diesen Begriffen nicht, und deshalb sind wir so sehr geneigt, fremde
Stileigentümlichkeiten, welche mit unserm Nationalcharakter nicht die geringsten
Berührungspunkte haben, ohne weiteres zu adoptiren und mit solcher Voll¬
kommenheit nachzuahmen, daß deutsche Erzeugnisse noch hente, wie es seit dem
fünfzehnten und sechzehnten Jahrhundert üblich war, mit dem französischen Fabrik-
stempel in die Welt gehen.


Stil und Mode.

Ansätze zu bemerken, aus welchen ein originaler Saft emporquellend neue
Sprößlinge treiben könnte. Wie einst die Erinnhs dem Fuße des flüchtigen
Orestes folgte, so heftet sich an unsre Fersen der Fluch der Nachahmung. Nur
sieht die Sache im Lichte des neunzehnten Jahrhunderts viel weniger tragisch
aus. Wir find nicht die beklagenswerten Opfer eines dunkeln, unentrinnbaren
Verhängnisses, sondern unfreiwillige Komiker, die Affen sämtlicher Jahrhunderte,
und kein Areopag der Welt könnte uns von den zahllosen Sünden freisprechen,
welche wir im Laufe der letzten fünfzehn Jahre auf den Gebieten der Kunst,
des Kunstgewerbes und des guten Geschmacks begangen haben.

Dieser Vorwurf trifft freilich uns Deutsche nicht allein. Er ist ebenso
sehr bei Franzosen und Engländern angebracht, welche heutzutage allein eine
den Deutschen gleiche Weltstellung einnehmen und deshalb allein in allen um¬
fassenden Fragen mit uns verglichen werden können. Die Nordamerikaner
kommen trotz größerer materieller Mittel nicht in Betracht, weil ihre geschicht¬
liche Entwicklung uoch zu jung ist und weil sie die Zeit, welche ihnen der
Kampf um die Konsolidirung ihres Territorialbesitzes übrig gelassen hat, zur
Aneignung aller technischen Mittel und Fertigkeiten verwenden mußten. Auch
sie werde» sich über kurz oder lang ans dem Kampfplatze einfinden, auf welchem
man um die Palme in idealistischen Bestrebungen wetteifert, weil uns die welt¬
geschichtliche Erfahrung gelehrt hat, daß die technische Fertigkeit stets die Grund¬
bedingung für jede That des Geistes gewesen ist.

Wir Deutsche sind jedoch im Nachteil, obgleich wir uns in dem Messen
unsrer Kräfte, in der Abwägung unsrer Tugenden und Fehler auf Engländer
und Franzosen beschränken dürfen. Diese beiden Nationen blicken auf eine
Kulturentwicklung zurück, welche niemals so lauge und so gewaltsam zerrissen
worden ist wie die deutsche durch deu dreißigjährigen Krieg. In Frankreich
und England haben immer Monarchen den Zeitgeschmack bestimmt, welchen wir
heute im Lichte der Geschichte als „Stil" bezeichnen. In jenen beiden Ländern
hat der Kunstgeschmack eine gesetzmäßige Entwicklung gehabt, welche sich dort
an die Namen Franz I., Henri II., Henri III., Louis XIII., Louis XIV., Regcnce,
Louis XV. und Louis XVI., ?r«zmiör om.xiro, hier an die Namen Heinrich VIII.,
Tudor, Elisabeth, Königin Anna, an die drei George knüpft. Wir in Deutschland
kennen diese feinen Stil-, Geschmacks- oder Mvdeunterschiede nicht. Wir sprechen,
ganze Jahrhunderte umfassend, von Renaissance, Barock-, Rokoko- und Zopfstil,
von Hellenismus und Klassizismus. Etwas spezifisch nationales verbinden wir
aber mit diesen Begriffen nicht, und deshalb sind wir so sehr geneigt, fremde
Stileigentümlichkeiten, welche mit unserm Nationalcharakter nicht die geringsten
Berührungspunkte haben, ohne weiteres zu adoptiren und mit solcher Voll¬
kommenheit nachzuahmen, daß deutsche Erzeugnisse noch hente, wie es seit dem
fünfzehnten und sechzehnten Jahrhundert üblich war, mit dem französischen Fabrik-
stempel in die Welt gehen.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_197423/80>, abgerufen am 05.02.2025.