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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Erstes Quartal.

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Moderne Probleme.

dem, was ist, und dem, was sein sollte, so ist jener kritische Zug ja am Ende
ein idealistischer, den man gutheißen kann.

"Was sein sollte," nicht im Interesse bestimmter Parteien und Anschauungs¬
weisen, sondern nach den Vorschriften vernünftigen Denkens, ist heutzutage
vielleicht ein wenig mehr als früher das Ziel der kritischen Lösungsversuche
moderner Probleme. Denn nicht nur die innere Freiheit, wichtige Punkte unsers
geistigen Ich durch konsequente Anwendung des Verstandes festzustellen, nicht
nur das Erfahrungsmaterial hat zugenommen, dessen wir uns bei dieser Ver-
standesarbeit bedienen können; viel größer, viel tiefer ist auch die Einsicht
geworden, daß bei der Regelung allgemeiner und öffentlicher Interessen vor
allen Dingen die historischen Bedingungen zu berücksichtigen sind. Wenn nur
trotz alledem moderne Probleme Aussicht hätten, gründlicher, d. h. vor allem
auf länger hinaus gelöst zu werden, als es den frühern, vergangnen beschicken
war! Wenn nur nicht gerade dieser historische Sinn in dem Bestreben, alles
den gegebenen Verhältnissen anzupassen, erst recht dazu angethan wäre, ephemere
Lösungen zu schaffen! Und endlich: anch das reinste, vernunftgemäßeste Denken
hat Voraussetzungen, seien sie auch nur ganz allgemeine, metaphysische. Es ist
deshalb in Wahrheit nicht rein, sondern nur weniger vielseitig bedingt und, in
der Gegenwart, vielleicht freier von Rücksicht auf allerlei hergebrachte Ver-
schnörkelnngc" und Verhüllungen der einfachen Vernünftigkeit.

Mit einer endgiltigen Lösung ist es also ein für allemal ein sehr heikles
Ding, und am Ende kommen alle derartige Versuche doch nnr zu dem Ergebnis
derjenigen spezifisch modernen Einrichtungen, die sich professionsmäßig mit der
Lösung politischer und sozialpolitischer Probleme befassen: zu dem Ergebnis
parlamentarischer Arbeit. Es wird am guten Ende ein Mväus vivemcli gefunden,
der für eine Reihe von Monaten und Jahren eben darum erträglich paßt, weil
er für leinen und keines vollkommen paßt. Denn nicht nur die historischen
Bedingungen in ihrem schnellen Wechsel machen diesen Notbehelf so unvermeidlich.
Die Gesellschaft selbst, für deren Interessen der Kampf der Meinungen ent¬
brennt, ist innerlich nicht homogen; zwei Generationen mindestens stehen sich
mit dem Anspruch gegenüber, die öffentlichen Fragen in ihrem Sinne gelöst zu
sehen. Die Bedingungen aber, unter denen jemand Mann geworden ist, sind
zugleich die Bedingungen seiner geistigen Existenz; nur das Genie mag hiervon
teilweise eine Ausnahme machen. Der mit den Anschauungen vergangner
Jahrzehnte genährte kann deshalb mit dem ganz von modernem Lebenssaft
getränkten in jeder einzelnen praktischen Frage einen Kompromiß schließen, eine
prinzipielle Lösung aber nimmermehr vereinbaren.

Der Besprechung von Hartmanns neuem Buch") Betrachtungen dieser
Art vorauszuschicken, hat seinen guten Sinn. Denn der Verfasser hat die ein-



*) Eduard von Hartmann, Moderne Probleme. Leipzig, Wilhelm Friedrich, 1886.
Moderne Probleme.

dem, was ist, und dem, was sein sollte, so ist jener kritische Zug ja am Ende
ein idealistischer, den man gutheißen kann.

„Was sein sollte," nicht im Interesse bestimmter Parteien und Anschauungs¬
weisen, sondern nach den Vorschriften vernünftigen Denkens, ist heutzutage
vielleicht ein wenig mehr als früher das Ziel der kritischen Lösungsversuche
moderner Probleme. Denn nicht nur die innere Freiheit, wichtige Punkte unsers
geistigen Ich durch konsequente Anwendung des Verstandes festzustellen, nicht
nur das Erfahrungsmaterial hat zugenommen, dessen wir uns bei dieser Ver-
standesarbeit bedienen können; viel größer, viel tiefer ist auch die Einsicht
geworden, daß bei der Regelung allgemeiner und öffentlicher Interessen vor
allen Dingen die historischen Bedingungen zu berücksichtigen sind. Wenn nur
trotz alledem moderne Probleme Aussicht hätten, gründlicher, d. h. vor allem
auf länger hinaus gelöst zu werden, als es den frühern, vergangnen beschicken
war! Wenn nur nicht gerade dieser historische Sinn in dem Bestreben, alles
den gegebenen Verhältnissen anzupassen, erst recht dazu angethan wäre, ephemere
Lösungen zu schaffen! Und endlich: anch das reinste, vernunftgemäßeste Denken
hat Voraussetzungen, seien sie auch nur ganz allgemeine, metaphysische. Es ist
deshalb in Wahrheit nicht rein, sondern nur weniger vielseitig bedingt und, in
der Gegenwart, vielleicht freier von Rücksicht auf allerlei hergebrachte Ver-
schnörkelnngc» und Verhüllungen der einfachen Vernünftigkeit.

Mit einer endgiltigen Lösung ist es also ein für allemal ein sehr heikles
Ding, und am Ende kommen alle derartige Versuche doch nnr zu dem Ergebnis
derjenigen spezifisch modernen Einrichtungen, die sich professionsmäßig mit der
Lösung politischer und sozialpolitischer Probleme befassen: zu dem Ergebnis
parlamentarischer Arbeit. Es wird am guten Ende ein Mväus vivemcli gefunden,
der für eine Reihe von Monaten und Jahren eben darum erträglich paßt, weil
er für leinen und keines vollkommen paßt. Denn nicht nur die historischen
Bedingungen in ihrem schnellen Wechsel machen diesen Notbehelf so unvermeidlich.
Die Gesellschaft selbst, für deren Interessen der Kampf der Meinungen ent¬
brennt, ist innerlich nicht homogen; zwei Generationen mindestens stehen sich
mit dem Anspruch gegenüber, die öffentlichen Fragen in ihrem Sinne gelöst zu
sehen. Die Bedingungen aber, unter denen jemand Mann geworden ist, sind
zugleich die Bedingungen seiner geistigen Existenz; nur das Genie mag hiervon
teilweise eine Ausnahme machen. Der mit den Anschauungen vergangner
Jahrzehnte genährte kann deshalb mit dem ganz von modernem Lebenssaft
getränkten in jeder einzelnen praktischen Frage einen Kompromiß schließen, eine
prinzipielle Lösung aber nimmermehr vereinbaren.

Der Besprechung von Hartmanns neuem Buch") Betrachtungen dieser
Art vorauszuschicken, hat seinen guten Sinn. Denn der Verfasser hat die ein-



*) Eduard von Hartmann, Moderne Probleme. Leipzig, Wilhelm Friedrich, 1886.
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[0074] Moderne Probleme. dem, was ist, und dem, was sein sollte, so ist jener kritische Zug ja am Ende ein idealistischer, den man gutheißen kann. „Was sein sollte," nicht im Interesse bestimmter Parteien und Anschauungs¬ weisen, sondern nach den Vorschriften vernünftigen Denkens, ist heutzutage vielleicht ein wenig mehr als früher das Ziel der kritischen Lösungsversuche moderner Probleme. Denn nicht nur die innere Freiheit, wichtige Punkte unsers geistigen Ich durch konsequente Anwendung des Verstandes festzustellen, nicht nur das Erfahrungsmaterial hat zugenommen, dessen wir uns bei dieser Ver- standesarbeit bedienen können; viel größer, viel tiefer ist auch die Einsicht geworden, daß bei der Regelung allgemeiner und öffentlicher Interessen vor allen Dingen die historischen Bedingungen zu berücksichtigen sind. Wenn nur trotz alledem moderne Probleme Aussicht hätten, gründlicher, d. h. vor allem auf länger hinaus gelöst zu werden, als es den frühern, vergangnen beschicken war! Wenn nur nicht gerade dieser historische Sinn in dem Bestreben, alles den gegebenen Verhältnissen anzupassen, erst recht dazu angethan wäre, ephemere Lösungen zu schaffen! Und endlich: anch das reinste, vernunftgemäßeste Denken hat Voraussetzungen, seien sie auch nur ganz allgemeine, metaphysische. Es ist deshalb in Wahrheit nicht rein, sondern nur weniger vielseitig bedingt und, in der Gegenwart, vielleicht freier von Rücksicht auf allerlei hergebrachte Ver- schnörkelnngc» und Verhüllungen der einfachen Vernünftigkeit. Mit einer endgiltigen Lösung ist es also ein für allemal ein sehr heikles Ding, und am Ende kommen alle derartige Versuche doch nnr zu dem Ergebnis derjenigen spezifisch modernen Einrichtungen, die sich professionsmäßig mit der Lösung politischer und sozialpolitischer Probleme befassen: zu dem Ergebnis parlamentarischer Arbeit. Es wird am guten Ende ein Mväus vivemcli gefunden, der für eine Reihe von Monaten und Jahren eben darum erträglich paßt, weil er für leinen und keines vollkommen paßt. Denn nicht nur die historischen Bedingungen in ihrem schnellen Wechsel machen diesen Notbehelf so unvermeidlich. Die Gesellschaft selbst, für deren Interessen der Kampf der Meinungen ent¬ brennt, ist innerlich nicht homogen; zwei Generationen mindestens stehen sich mit dem Anspruch gegenüber, die öffentlichen Fragen in ihrem Sinne gelöst zu sehen. Die Bedingungen aber, unter denen jemand Mann geworden ist, sind zugleich die Bedingungen seiner geistigen Existenz; nur das Genie mag hiervon teilweise eine Ausnahme machen. Der mit den Anschauungen vergangner Jahrzehnte genährte kann deshalb mit dem ganz von modernem Lebenssaft getränkten in jeder einzelnen praktischen Frage einen Kompromiß schließen, eine prinzipielle Lösung aber nimmermehr vereinbaren. Der Besprechung von Hartmanns neuem Buch") Betrachtungen dieser Art vorauszuschicken, hat seinen guten Sinn. Denn der Verfasser hat die ein- *) Eduard von Hartmann, Moderne Probleme. Leipzig, Wilhelm Friedrich, 1886.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_197423/74>, abgerufen am 05.02.2025.