Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Erstes Quartal.Intention der Dichter vergessen oder aufgegeben habe. Und derjenige, dem Es gelte, hören wir, die ausdrücklichen Nachrichten über die Entstehung der Betrachten wir zunächst die Stellung des Monologs zur überlieferten Sage. Intention der Dichter vergessen oder aufgegeben habe. Und derjenige, dem Es gelte, hören wir, die ausdrücklichen Nachrichten über die Entstehung der Betrachten wir zunächst die Stellung des Monologs zur überlieferten Sage. <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0613" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/198037"/> <fw type="header" place="top"/><lb/> <p xml:id="ID_1807" prev="#ID_1806"> Intention der Dichter vergessen oder aufgegeben habe. Und derjenige, dem<lb/> man eine solche unwürdige Manipulation zur Last legt, ist Goethe, der von<lb/> frischester, ihn fast fieberhaft ergreifender, bei Nacht und Tag sprudelnder<lb/> Schaffenskraft getriebene junge Goethe!</p><lb/> <p xml:id="ID_1808"> Es gelte, hören wir, die ausdrücklichen Nachrichten über die Entstehung der<lb/> einzelnen Szenen (das Hauptzeugnis beachtet Scherer uickit) durch eigne Beob¬<lb/> achtungen zu ergänzen, gestützt auf „strenge Interpretation, welche vielleicht<lb/> den Zusammenhang gestört finden wird" (ein Verdacht, zu dem vor der Hand<lb/> kein Grund gegeben ist, der aber zum Aufsuchen von Angehörigen und zum<lb/> Mißverstehen verleitet), auf „sorgfältige Erwägung der Voraussetzungen und<lb/> Konsequenzen," auf „Observationen über Stilverschiedenheiteu." Auf „strenge<lb/> Interpretation" legen auch wir großen Wert, aber wir verlangen auch, daß sie<lb/> wirklich streng sei, den Wortlaut und den Zusammenhang zur Grundlage<lb/> nehme, jeder Einseitigkeit und jedem Vorurteil entsage, alle im Kreise der<lb/> Dichtung liegende Entschcidnngsgriinde berücksichtige. Scherers Juterprctativus-<lb/> tüuste zeigen das Gegenteil von Strenge, und das, was er für solche hält,<lb/> besteht nur darin, daß er sein eignes Wort unbeachtet läßt: „Die stürmische<lb/> Kraft der produktiven Phantasie blickt über unwesentliche Einzelheiten leicht<lb/> hinweg," Gefährlich sind die „Observationen über Stilverschiedenheiteu," die<lb/> oft Zufälliges für wesentlich halten und den raschen Wechsel der Stimmung und<lb/> des dadurch bewirkten Tones übersehen, dabei in dem Drange, wirkliche Verschieden¬<lb/> heiten aufzuhäufen, sich zu abenteuerlichen Behauptungen verleiten lassen. Wer<lb/> muß z. B. nicht staunen, wenn Scherer S. 253 die nüchternsten aller Sätze,<lb/> die rclativischeu, zu den „poetischen Mitteln" zählt (S. 253), da sie mit den<lb/> Beiwörtern verwandt seien, von denen doch auch nur ein Teil wirklich als<lb/> Poetisch gelten kann, nicht weil es Beiwörter, sondern weil es poetische Bei¬<lb/> wörter sind. Scherer meint zwingend gezeigt und gegen alle möglichen Be¬<lb/> denken gesichert zu haben, der Monolog sei aus ganz verschiednen, ursprünglich ge¬<lb/> trennten Partien zusammengeschweißt (S. 245—24-9). Schon in der „Rundschau"<lb/> (XXXlII, 322) glaubt er den Beweis erbracht zu haben, daß Vers 33—74<lb/> (75 f. scheidet er aus) uicht zum Vorhergehenden passe; eine dritte Partie<lb/> sollen 77—144, eine vierte 115—164 bilden. Zu solcher wunderlichen Zer¬<lb/> splitterung hätte Scherer unmöglich gelangen können, wenn er, statt auf über¬<lb/> raschende Entdeckungen auszugehen, sich in den Geist des Dichters versetzt, sich<lb/> um den Sinn und den dramatischen Fortschritt gekümmert hätte.</p><lb/> <p xml:id="ID_1809" next="#ID_1810"> Betrachten wir zunächst die Stellung des Monologs zur überlieferten Sage.<lb/> Der „Faust" des jungen, auf Geistesfreiheit leidenschaftlich gerichteten Dichters<lb/> konnte ebensowenig ein treues Abbild des abscheulichen Zauberers sein, wie sein<lb/> fast gleichzeitiger „Ewiger Jude" die späte Sage von Ahasverus wiedergeben sollte.<lb/> Änderte er auch nicht die äußere Stellung Fausts, den das Puppenspiel noch<lb/> mehr als das Volksbuch zum Universitätsprofessor macht, so mußte doch dessen</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0613]
Intention der Dichter vergessen oder aufgegeben habe. Und derjenige, dem
man eine solche unwürdige Manipulation zur Last legt, ist Goethe, der von
frischester, ihn fast fieberhaft ergreifender, bei Nacht und Tag sprudelnder
Schaffenskraft getriebene junge Goethe!
Es gelte, hören wir, die ausdrücklichen Nachrichten über die Entstehung der
einzelnen Szenen (das Hauptzeugnis beachtet Scherer uickit) durch eigne Beob¬
achtungen zu ergänzen, gestützt auf „strenge Interpretation, welche vielleicht
den Zusammenhang gestört finden wird" (ein Verdacht, zu dem vor der Hand
kein Grund gegeben ist, der aber zum Aufsuchen von Angehörigen und zum
Mißverstehen verleitet), auf „sorgfältige Erwägung der Voraussetzungen und
Konsequenzen," auf „Observationen über Stilverschiedenheiteu." Auf „strenge
Interpretation" legen auch wir großen Wert, aber wir verlangen auch, daß sie
wirklich streng sei, den Wortlaut und den Zusammenhang zur Grundlage
nehme, jeder Einseitigkeit und jedem Vorurteil entsage, alle im Kreise der
Dichtung liegende Entschcidnngsgriinde berücksichtige. Scherers Juterprctativus-
tüuste zeigen das Gegenteil von Strenge, und das, was er für solche hält,
besteht nur darin, daß er sein eignes Wort unbeachtet läßt: „Die stürmische
Kraft der produktiven Phantasie blickt über unwesentliche Einzelheiten leicht
hinweg," Gefährlich sind die „Observationen über Stilverschiedenheiteu," die
oft Zufälliges für wesentlich halten und den raschen Wechsel der Stimmung und
des dadurch bewirkten Tones übersehen, dabei in dem Drange, wirkliche Verschieden¬
heiten aufzuhäufen, sich zu abenteuerlichen Behauptungen verleiten lassen. Wer
muß z. B. nicht staunen, wenn Scherer S. 253 die nüchternsten aller Sätze,
die rclativischeu, zu den „poetischen Mitteln" zählt (S. 253), da sie mit den
Beiwörtern verwandt seien, von denen doch auch nur ein Teil wirklich als
Poetisch gelten kann, nicht weil es Beiwörter, sondern weil es poetische Bei¬
wörter sind. Scherer meint zwingend gezeigt und gegen alle möglichen Be¬
denken gesichert zu haben, der Monolog sei aus ganz verschiednen, ursprünglich ge¬
trennten Partien zusammengeschweißt (S. 245—24-9). Schon in der „Rundschau"
(XXXlII, 322) glaubt er den Beweis erbracht zu haben, daß Vers 33—74
(75 f. scheidet er aus) uicht zum Vorhergehenden passe; eine dritte Partie
sollen 77—144, eine vierte 115—164 bilden. Zu solcher wunderlichen Zer¬
splitterung hätte Scherer unmöglich gelangen können, wenn er, statt auf über¬
raschende Entdeckungen auszugehen, sich in den Geist des Dichters versetzt, sich
um den Sinn und den dramatischen Fortschritt gekümmert hätte.
Betrachten wir zunächst die Stellung des Monologs zur überlieferten Sage.
Der „Faust" des jungen, auf Geistesfreiheit leidenschaftlich gerichteten Dichters
konnte ebensowenig ein treues Abbild des abscheulichen Zauberers sein, wie sein
fast gleichzeitiger „Ewiger Jude" die späte Sage von Ahasverus wiedergeben sollte.
Änderte er auch nicht die äußere Stellung Fausts, den das Puppenspiel noch
mehr als das Volksbuch zum Universitätsprofessor macht, so mußte doch dessen
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