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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Erstes Quartal.

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Zur sozialen Frage.

solches Maß gegolten, so gestaltet sich dasselbe leicht in dem Bewußtsein der
Menschen als das des notwendigsten Lebensbedarfs (8t,g.raa,ra ok like). Und
darauf gründet sich die Annahme, unsre Arbeiter seien in ihrem Lohne auf das
"Existenzminimum" angewiesen. Daß dem aber nicht wirklich so ist, darüber
kann uns sowohl die Geschichte als die Geographie belehren. In der Geschichte
brauchen wir nicht etwa um Jahrtausende oder Jahrhunderte zurückzugehen. Es
ist ganz unzweifelhaft, daß noch vor fünfzig Jahren unsre Arbeiter von weit
weniger als ihrem gegenwärtigen "Existenzminimum" leben mußten. Sie sind
heute besser gestellt in Wohnung, Kleidung, Nahrung, Genußmitteln und Ver¬
gnügungen. Auch die Geographie kann uns über die Täuschung unsers ver¬
meintlichen Existenzminimums aufklären. In Amerika haben die chinesischen
Arbeiter den amerikanischen ovulo" demonstrirt, daß mau auch mit weit
weniger, als diese beanspruchen, leben kann; und das hat die amerikanischen
Arbeiter so empört, daß sie, wo sie können, die Chinesen totschlagen. Aber wir
brauchen auch hier garnicht so weit zu gehen. Wer hat nicht schon in Deutsch¬
land bei größern Erdarbeiten Italiener arbeiten sehen? Auch sie leben an¬
spruchsloser als der deutsche Arbeiter, und nehmen deshalb von ihrem geringern
Lohne noch ein schönes Stück Geld mit in ihre Heimat. Käme einmal -- was
Gott verhüten möge -- ein großes nationales Unglück über Deutschland, so
würden auch unsre Arbeiter sich bequemen müssen, noch mit weniger als jetzt
zu leben; und dann würden unsre Ansichten über das Maß der Lebensnotdurft
schnell Herabgehen. Einstweilen aber wollen wir uns freuen, daß unser LwnÄarä
ok Ut'<z sich noch auf einer leidlichen Höhe befindet; und wir sollten doch wahrlich
nicht an dem, was die Vorsehung uus gewährt hat, durch Phrasen vor dem
"tiefsten Elende" u. s. w. uns versündigen.

Nun kommt aber der eigentliche Quell aller Schmerzen. Es giebt nämlich
Menschen, die sehr reich werden und deshalb im Überflusse leben. Wüßten wir
hiergegen ein Mittel, ließe sich namentlich verhindern, daß jemand durch völlig un¬
produktive Spekulationen reich wird, so würden wir mit Freuden auf ein Mittel
dieser Art eingehen. Leider wissen wir keines, das ohne Preisgebung der
wichtigsten Interessen der sozialen Ordnung angewendet werden könnte. Den
Unternehmergewinn durchweg als eine "Ausbeutung" der Arbeiter zu brand¬
marken, dazu können wir uns nicht verstehen. Der Unternehmergewinn ist der
Lohn dafür, daß jemand ein für die Menschheit nützliches Unternehmen in die
Welt gesetzt hat. Das ist Sache der Tüchtigkeit, der Klugheit und Sorgsamkeit,
mag auch oft das Glück dabei eine Rolle spielen. Die Berechtigung jenes Ge¬
winnes liegt darin, daß jedem Unternehmen auch die Gefahr des Mißlingens
gegenübersteht, welche der Unternehmer tragen muß. Dafür kann er im Falle
des Gelingens anch den Gewinn des Unternehmens als Lohn beanspruchen.
Ohne diesen Lohn würde niemand mehr ein Unternehmen wagen. Dann aber
würde das ganze wirtschaftliche Leben stillstehe"; und anch die Arbeiter würden


Zur sozialen Frage.

solches Maß gegolten, so gestaltet sich dasselbe leicht in dem Bewußtsein der
Menschen als das des notwendigsten Lebensbedarfs (8t,g.raa,ra ok like). Und
darauf gründet sich die Annahme, unsre Arbeiter seien in ihrem Lohne auf das
„Existenzminimum" angewiesen. Daß dem aber nicht wirklich so ist, darüber
kann uns sowohl die Geschichte als die Geographie belehren. In der Geschichte
brauchen wir nicht etwa um Jahrtausende oder Jahrhunderte zurückzugehen. Es
ist ganz unzweifelhaft, daß noch vor fünfzig Jahren unsre Arbeiter von weit
weniger als ihrem gegenwärtigen „Existenzminimum" leben mußten. Sie sind
heute besser gestellt in Wohnung, Kleidung, Nahrung, Genußmitteln und Ver¬
gnügungen. Auch die Geographie kann uns über die Täuschung unsers ver¬
meintlichen Existenzminimums aufklären. In Amerika haben die chinesischen
Arbeiter den amerikanischen ovulo« demonstrirt, daß mau auch mit weit
weniger, als diese beanspruchen, leben kann; und das hat die amerikanischen
Arbeiter so empört, daß sie, wo sie können, die Chinesen totschlagen. Aber wir
brauchen auch hier garnicht so weit zu gehen. Wer hat nicht schon in Deutsch¬
land bei größern Erdarbeiten Italiener arbeiten sehen? Auch sie leben an¬
spruchsloser als der deutsche Arbeiter, und nehmen deshalb von ihrem geringern
Lohne noch ein schönes Stück Geld mit in ihre Heimat. Käme einmal — was
Gott verhüten möge — ein großes nationales Unglück über Deutschland, so
würden auch unsre Arbeiter sich bequemen müssen, noch mit weniger als jetzt
zu leben; und dann würden unsre Ansichten über das Maß der Lebensnotdurft
schnell Herabgehen. Einstweilen aber wollen wir uns freuen, daß unser LwnÄarä
ok Ut'<z sich noch auf einer leidlichen Höhe befindet; und wir sollten doch wahrlich
nicht an dem, was die Vorsehung uus gewährt hat, durch Phrasen vor dem
„tiefsten Elende" u. s. w. uns versündigen.

Nun kommt aber der eigentliche Quell aller Schmerzen. Es giebt nämlich
Menschen, die sehr reich werden und deshalb im Überflusse leben. Wüßten wir
hiergegen ein Mittel, ließe sich namentlich verhindern, daß jemand durch völlig un¬
produktive Spekulationen reich wird, so würden wir mit Freuden auf ein Mittel
dieser Art eingehen. Leider wissen wir keines, das ohne Preisgebung der
wichtigsten Interessen der sozialen Ordnung angewendet werden könnte. Den
Unternehmergewinn durchweg als eine „Ausbeutung" der Arbeiter zu brand¬
marken, dazu können wir uns nicht verstehen. Der Unternehmergewinn ist der
Lohn dafür, daß jemand ein für die Menschheit nützliches Unternehmen in die
Welt gesetzt hat. Das ist Sache der Tüchtigkeit, der Klugheit und Sorgsamkeit,
mag auch oft das Glück dabei eine Rolle spielen. Die Berechtigung jenes Ge¬
winnes liegt darin, daß jedem Unternehmen auch die Gefahr des Mißlingens
gegenübersteht, welche der Unternehmer tragen muß. Dafür kann er im Falle
des Gelingens anch den Gewinn des Unternehmens als Lohn beanspruchen.
Ohne diesen Lohn würde niemand mehr ein Unternehmen wagen. Dann aber
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[0595] Zur sozialen Frage. solches Maß gegolten, so gestaltet sich dasselbe leicht in dem Bewußtsein der Menschen als das des notwendigsten Lebensbedarfs (8t,g.raa,ra ok like). Und darauf gründet sich die Annahme, unsre Arbeiter seien in ihrem Lohne auf das „Existenzminimum" angewiesen. Daß dem aber nicht wirklich so ist, darüber kann uns sowohl die Geschichte als die Geographie belehren. In der Geschichte brauchen wir nicht etwa um Jahrtausende oder Jahrhunderte zurückzugehen. Es ist ganz unzweifelhaft, daß noch vor fünfzig Jahren unsre Arbeiter von weit weniger als ihrem gegenwärtigen „Existenzminimum" leben mußten. Sie sind heute besser gestellt in Wohnung, Kleidung, Nahrung, Genußmitteln und Ver¬ gnügungen. Auch die Geographie kann uns über die Täuschung unsers ver¬ meintlichen Existenzminimums aufklären. In Amerika haben die chinesischen Arbeiter den amerikanischen ovulo« demonstrirt, daß mau auch mit weit weniger, als diese beanspruchen, leben kann; und das hat die amerikanischen Arbeiter so empört, daß sie, wo sie können, die Chinesen totschlagen. Aber wir brauchen auch hier garnicht so weit zu gehen. Wer hat nicht schon in Deutsch¬ land bei größern Erdarbeiten Italiener arbeiten sehen? Auch sie leben an¬ spruchsloser als der deutsche Arbeiter, und nehmen deshalb von ihrem geringern Lohne noch ein schönes Stück Geld mit in ihre Heimat. Käme einmal — was Gott verhüten möge — ein großes nationales Unglück über Deutschland, so würden auch unsre Arbeiter sich bequemen müssen, noch mit weniger als jetzt zu leben; und dann würden unsre Ansichten über das Maß der Lebensnotdurft schnell Herabgehen. Einstweilen aber wollen wir uns freuen, daß unser LwnÄarä ok Ut'<z sich noch auf einer leidlichen Höhe befindet; und wir sollten doch wahrlich nicht an dem, was die Vorsehung uus gewährt hat, durch Phrasen vor dem „tiefsten Elende" u. s. w. uns versündigen. Nun kommt aber der eigentliche Quell aller Schmerzen. Es giebt nämlich Menschen, die sehr reich werden und deshalb im Überflusse leben. Wüßten wir hiergegen ein Mittel, ließe sich namentlich verhindern, daß jemand durch völlig un¬ produktive Spekulationen reich wird, so würden wir mit Freuden auf ein Mittel dieser Art eingehen. Leider wissen wir keines, das ohne Preisgebung der wichtigsten Interessen der sozialen Ordnung angewendet werden könnte. Den Unternehmergewinn durchweg als eine „Ausbeutung" der Arbeiter zu brand¬ marken, dazu können wir uns nicht verstehen. Der Unternehmergewinn ist der Lohn dafür, daß jemand ein für die Menschheit nützliches Unternehmen in die Welt gesetzt hat. Das ist Sache der Tüchtigkeit, der Klugheit und Sorgsamkeit, mag auch oft das Glück dabei eine Rolle spielen. Die Berechtigung jenes Ge¬ winnes liegt darin, daß jedem Unternehmen auch die Gefahr des Mißlingens gegenübersteht, welche der Unternehmer tragen muß. Dafür kann er im Falle des Gelingens anch den Gewinn des Unternehmens als Lohn beanspruchen. Ohne diesen Lohn würde niemand mehr ein Unternehmen wagen. Dann aber würde das ganze wirtschaftliche Leben stillstehe»; und anch die Arbeiter würden

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_197423/595>, abgerufen am 05.02.2025.